Die Sozialdemokratie
und das
Allgemeine Stimmrecht.
Mit besonderer Berücksichtigung
des
Frauen-Stimmrechts und Proportional-Wahlsystems.
Von
August Bebel.
Berlin 1895.
Verlag der Expedition des „Vorwärts“
(Th. Glocke).
Die vorliegende Schrift wurde hervorgerufen durch einen Beschluß des
Parteitags der sozialdemokratischen Partei Deutschlands im Jahre 1893 zu
Köln, der dahin ging, zu gelegener Zeit eine Agitation ins Leben zu rufen
für Einführung des allgemeinen gleichen direkten und geheimen Wahlrechts
für die Wahlen zu den Vertretungskörpern der Einzelstaaten.
Das Erscheinen dieser Schrift wurde verzögert, weil ein anderer be-
freundeter Parteigenosse die Ausarbeitung übernommen hatte, aber wegen
Mangel an Zeit nicht ausführen konnte. So blieb mir nichts anderes übrig,
als diese selber vorzunehmen, da ich der Urheber des Beschlusses auf dem
Kölner Parteitag war.
Jm Text und in den Noten habe ich zum Theil bereits die Quellen
genannt, auf welche ich einen Theil meiner Ausführungen stütze; ich füge
hinzu, daß mir namentlich auch die Schrift von Dr. Jastrow „Das Drei-
klassenwahlsystem. Die preußische Wahlreform vom Standpunkte sozialer
Politik“, Berlin 1894, und eine Reihe von Artikeln, die im Februar und
März vorigen Jahres im „Sozialdemokrat“ (Berlin) über die Wahlrechte in
einer Reihe deutscher Einzelstaaten erschienen sind, gute Dienste geleistet haben.
Des weiteren habe ich die offiziellen Verhandlungen des Norddeutschen
Reichstags und des preußischen Landtags sowie des Herrenhauses zu Rathe
gezogen.
August Bebel.
Einleitung.
Auf Antrag der österreichischen Delegation beschloß der internationale
Arbeiter-Kongreß zu Zürich am 12. August 1893 einstimmig:
„Es ist die Zeit gekommen, in der das Proletariat in allen Ländern,
wo das allgemeine Stimmrecht noch nicht besteht, einen Vorstoß unternehmen
muß zur Eroberung des Wahlrechts für alle Mündigen, ohne Unterschied des
Geschlechts oder der Rasse.“
Damit gab der internationale Arbeiter-Kongreß zu Zürich den klassen-
bewußten Arbeitern aller Länder eine Direktive, entsprechend der sozialistischen Auf-
fassung: daß der Kampf um die ökonomische Befreiung der Arbeiter in erster
Linie ein politischer Kampf ist, und die Eroberung der politischen Macht das
Mittel ist, die ökonomische Befreiung der Arbeiter zu vollenden.
Diese heute unter der Arbeiterklasse allgemein gewordene Auffassung von
der Wichtigkeit des allgemeinen Stimmrechts wird naturgemäß von jenen nicht
getheilt, die sich durch die Verwirklichung desselben in ihrer Machtstellung bedroht
sehen: von der Bourgeoisie und ihren Regierungen.
Die Bourgeoisie hat von jeher einen Abscheu gegen das allgemeine gleiche
und direkte Wahlrecht gehabt; sie hat alles aufgeboten, seine Einführung zu hinter-
treiben, und sie hat, wo sie diese nicht zu hintertreiben vermochte, seine Wirkungen
zu hindern oder zu korrumpiren versucht. Dafür ist die Geschichte des allgemeinen
Stimmrechts seit den etwa 100 Jahren, die es in Frage kommt, ein schlagender Beweis.
Als die Neuenglandstaaten in den achtziger Jahren des vorigen Jahr-
hunderts in einer revolutionären Erhebung sich von der Herrschaft des Mutter-
landes befreiten und die Vereinigten Staaten Nordamerikas gründeten, war die
Proklamirung des allgemeinen Stimmrechts als Grundlage für die Wahl der
Volksvertretungen eine unumgängliche Nothwendigkeit. Dennoch gelang es erst
1*
nach heftigen Kämpfen, dasselbe durchzusetzen. Ein Staatenwesen, das einer
revolutionären Erhebung seine Existenz verdankte, zu dessen Gründung fast alle
Bewohner mit Einsetzung ihres Lebens beigetragen hatten, in dem es keine Stände
und geschlossenen Gesellschaftsschichten im Sinne europäischen Staats- und Gesell-
schaftswesens gab, das also im wahrsten Sinne des Wortes die Schöpfung einer
Demokratie war, konnte schließlich nur ein Stimmrecht einführen, das allen Bürgern
das gleiche Recht gewährte. Waren sonach die Vereinigten Staaten das erste
Staatswesen, in dem die Demokratie im modernen Sinne uneingeschränkt zur Herr-
schaft gelangte, so war dies Umständen geschuldet, die außer aller Regel liegen,
sie können nicht als Vergleich und als Maßstab für europäische Verhältnisse dienen.
Anders entwickelten sich die Dinge in Europa. Frankreich, das hier zu-
nächst in Betracht kommt, erhielt für seine große Revolution nicht zuletzt den
Anstoß durch die Vorgänge in den Vereinigten Staaten. Das Abbé Sieyès'sche
Diktum: „Was ist der dritte Stand? Nichts! Was soll er sein? Alles!“ fand
in der Konstituante seine entsprechende Deutung. Nachdem das französische
Bürgerthum die Macht der beiden bevorrechteten Stände – Adel und Geist-
lichkeit – gebrochen und sich an deren Stelle gesetzt hatte, konstituirte es sofort
gesetzlich einen vierten Stand, der gesellschaftlich allerdings bereits vorhanden
war, den Stand der Dienstthuenden, der für Lohn Arbeitenden. Die Arbeiterklasse
wurde durch die Konstitution des Jahres 1791 ausdrücklich vom Wahlrecht aus-
geschlossen und außerdem wurde die Ausübung desselben von der Zahlung einer
direkten Steuer abhängig gemacht. An die Stelle der ständischen Rechte unter der
absoluten Monarchie – die durch die Geburt oder die Zugehörigkeit zu einem
der privilegirten Stände erworben wurden – trat jetzt im bürgerlich-konstitutionellen
Staat der Zensus, der Besitz. Damit erhielt die neue Devise von der Freiheit,
Gleichheit und Brüderlichkeit, die durch die Revolution proklamirt worden war,
drastisch und praktisch ihre Auslegung. Das Bürgerthum unterschied sich also
sofort durch eine vom Gesetz gezogene Scheidegrenze von den Habenichtsen, die
zwar das Recht und die Pflicht hatten, für das Bürgerthum zu arbeiten und sich
von ihm ausbeuten zu lassen, aber kein Recht besaßen, sich als vollwerthige Glieder
des bürgerlichen Staats anzusehen, den sie eben erst mit ihrem Blut erkämpft hatten.
Es war der erste, aber nicht der letzte Verrath, den das moderne Bürger-
thum an der Arbeiterklasse beging.
Zwar wurde durch die Verfassung, die nach der Auflösung der Konstituante
und nach Beseitigung des Königthums der Konvent beschloß, das allgemeine gleiche
Stimmrecht für alle männlichen mündigen Staatsangehörigen eingeführt, aber diese
Verfassung trat nicht in Geltung. Die Ereignisse überstürzten sich. Der Konvent
und seine Verfassung wurden beseitigt, und begünstigt von dem bedrohten Klassen-
interesse und der Feigheit der emporgekommenen Bourgeoisie bestieg, gestützt auf
seinen Schwertknauf und die Armee, in Napoleon Bonaparte der Cäsarismus den
Thron. Die Napoleonischen Raub- und Eroberungskriege, die von seiner Er-
nennung zum Konsul ab fast zwanzig Jahre ganz Europa in Athem hielten und
eine totale Veränderung der politischen Grenzen seines Ländergebiets zur Folge
hatten, ließen in Frankreich keine Kämpfe um Volksrechte zur Geltung kommen.
Diese Kämpfe beginnen erst wieder nach dem zweiten Pariser Frieden (1815)
und der Rückkehr der Bourbonen an die Spitze Frankreichs. Aber diese Kämpfe
waren ausschließlich parlamentarische Kämpfe der französischen Bourgeoisie, welchen
eine Erweiterung, aber keineswegs eine Verallgemeinerung des Stimmrechts mit
zu Grunde lag.
Jn der Julirevolution von 1830 halfen die französischen, speziell die Pariser
Arbeiter zum zweiten Male ihrer Bourgeoisie das Königthum stürzen, um nach
dieser Hilfe, genau wie das erste Mal, betrogen zu werden. An Stelle des fort-
gejagten Bourbonen, Karl X., trat der Herzog von Orleans, Louis Philipp,
den der Phrasendrechsler Lafayette den Parisern als „die beste Republik“ zu
empfehlen die Stirne hatte. Damit hatte die Bourgeoisie den Thron bestiegen, sie
allein heimste alle Vortheile der Revolution ein. Das schamlose Wort Gnizol's:
„Enrichissez-vous!“ (Bereichert Euch!) ließ sie sich nicht zwei Mal sagen; sie
beutete aus und stahl, soviel sie konnte, und trat nach wie vor das rechtlose Volk mit
Füßen. Erst die Februarrevolution (1848) gebot auf kurze Zeit ihrem Treiben Einhalt.
Die furchtbare Niederlage, die das französische Proletariat in der Juni-
schlacht erlitt (23.-25. Juni 1848) und die grausamen Verfolgungen, die daraus
resultirten, konnten ihm einen Erfolg der Februarrevolution nicht nehmen, die
Anerkennung und Aufrechterhaltung des allgemeinen gleichen Stimmrechts. Der
Gedanke der demokratischen Gleichheit, für den das französische Volk und ins-
besondere das französische Proletariat schon so oft sein Blut verspritzte, hatte
endlich sich die allgemeine Anerkennung erobert. Noch gab es zwar Gegner des-
selben in Menge, aber ihre Macht war nicht stark genug, dasselbe zu beseitigen.
Und wenn man es beseitigt hätte, was wollte man an seine Stelle setzen? Die
Bourgeoisie steht als Klasse dem Proletariat feindlich gegenüber, aber sie selbst zerfällt
wieder in eine Reihe von Jnteressengruppen, die sich auf bestimmte soziale Gruppen
stützen, die untereinander um die Herrschaft und um die Beute kämpfen. Wo
wollte man da für eine Beschränkung des Wahlrechts die Grenze ziehen? Außer-
dem hatten die politischen Kämpfe seit nahezu 60 Jahren, die begonnen hatten
mit einer Revolution und durch drei neue Revolutionen weiter zeitweilig sehr heftig
geworden waren, die herrschenden Klassen in so hohem Maße gespalten und
untereinander in Feindschaft versetzt, daß selbst der Haß gegen den gemeinsamen
Feind, das Proletariat, sie nicht dauernd zu einigen vermochte.
Diese Situation erkannte vor Allem Louis Napoleon. Obgleich er mit
geistigen Fähigkeiten sehr mäßig ausgestattet war, besaß er die nöthige Schlauheit
und Geriebenheit, um die Gegensätze einerseits innerhalb der herrschenden Klassen,
andererseits zwischen den herrschenden Klassen und dem Proletariat für seine
Zwecke auszunutzen. Was ihm selbst an Verstand und Geriebenheit abging,
ersetzten die Abenteurer, die sich um ihn geschaart hatten und ihn als Piedestal
für ihre habsüchtigen Zwecke brauchten. Hatte der erste Napoleon dem kon-
stitutionellen Spuck sehr rasch ein Ende bereitet, so erkannte sein Nachfolger zu
gut, daß die Entwicklung von fünf Jahrzehnten nicht ausgelöscht werden konnte.
Er bequemte sich den Umständen an. Das allgemeine Stimmrecht, angewandt
nach dem alten Grundsatz aller Despoten und Cäsaren: divide et impera (theile
und herrsche) sollte ihm als Mittel dienen, seine Herrschaft zu sichern und zu
befestigen. Auf der einen Seite stützte er sich auf die Bauern Frankreichs, die
der Name Napoleon blendete und deren Gunst er außerdem sich durch demagogische
Mittel und einen gefügigen Beamten-Apparat zu sichern wußte. Auf der andern
Seite mußte der Haß des französischen Proletariats gegen die Bourgeoisie, die so
grausam während und nach der Junischlacht gegen dasselbe gewüthet hatte, seinen
Herrschaftszwecken dienen. Drittens kam ihm die Gleichgiltigkeit zu statten, mit welcher
der französische Arbeiter später, nahezu zwei Jahrzehnte lang, allen innerpolitischen
Kämpfen gegenüber stand. Die Losung: Nichtbetheiligung an der Politik, welche
viele der vorgeschrittensten Köpfe ausgegeben hatten, wurde vielfach befolgt. Ein
anderer Theil der Arbeiter warf sich infolge mangelnder Führung und Aufklärung
den bürgerlichen Radikalen in die Arme. Eine kämpfende Arbeiterpartei gab es
nicht. Andererseits wäre gerade dieser Zustand der Dinge ein Grund gewesen,
das allgemeine Stimmrecht anzutasten. Aber Napoleon, der Kaiser von Plebiszits
Gnaden, der seinen Thron nur der allgemeinen Volksabstimmung verdankte, der Mann,
dessen Stärke einzig in seinem revolutionären Ursprung lag, durfte das nicht wagen.
So blieb das allgemeine Stimmrecht unangetastet. Als dann Napoleon, nach
den Schlägen im Kriege von 1870, das Feld räumen mußte und die dritte
Republik ins Leben trat, war das allgemeine Stimmrecht so in Fleisch und Blut
des französischen Volkes übergegangen, daß in ganz Frankreich nicht ein Mensch
sich befand, der seine Beschneidung oder Beseitigung für möglich gehalten hätte.
Es dachte daran nicht einmal Jemand. Daran änderte auch weder der Aufstand
der Kommune etwas, noch die Thatsache, daß seitdem der Sozialismus unter der
Arbeiterklasse Frankreichs mächtigen Anhang gewonnen hat und, im Gegensatz zu
früher, das französische Proletariat als organisirte Partei sich immer mehr des
allgemeinen Stimmrechts bedient für die Eroberung der politischen Macht, indem
es seine eigenen Vertreter in die Nationalversammlung sendet.
Was das dritte Kaiserreich unangetastet ließ, ja mit Emphase als seinen
eigentlichen Ursprung ausgab, das konnte und kann die Republik nicht wagen
anzugreifen. Eine Beseitigung des allgemeinen Stimmrechts wäre in Frankreich
gleichbedeutend mit der Revolution, in der Arbeiter, Kleinbürger und Bauern
gemeinsame Sache machten.
Die Entwicklung in Deutschland.
Deutschland, die fromme Kinderstube,
Jst keine römische Mördergrube.
Jn Deutschland vollzogen sich die Dinge harmloser und gemüthlicher als in
Frankreich. Das in Hunderte von mittleren, kleinen und kleinsten selbständigen Herren-
thümern und sogenannten freien Städten getheilte heilige römische Reich deutscher
Nation war im Jahre 1806 glücklich zu Grabe getragen worden. Es gab wohl
kaum einen Deutschen, der ihm eine Thräne nachweinte, obgleich sein Untergang
die Folge napoleonischer Eroberungen und der Gründung des Rheinbundes war,
der sich unter dem Protektorate Napoleon's aus einer Anzahl deutscher Mittel-
und Kleinstaaten gebildet hatte. Der napoleonischen Herrschaft war auch die
Säkularisation zahlreicher geistlicher und kleiner weltlicher Herren zu danken, die
dadurch wider Willen und weit mehr, als die Mehrzahl der deutschen Geschichts-
schreiber zugeben will, für die deutsche Einheit gearbeitet hat, ja sogar erst den
Boden schuf, auf dem die deutschen Einheitsbestrebungen erwachsen konnten. Des
weiteren sind die Jdeen der großen Revolution durch die französischen Eroberungen
erst recht nach Deutschland getragen worden und fanden in den von Napoleon's
Gnaden geschaffenen neuen Königreichen und Fürstenthümern, in Mittel-, West-
und Süddeutschland, bis zu einem gewissen Grade ihre praktische Verwirklichung,
zum Wohle ihrer Bevölkerungen und des politischen Fortschritts in Deutschland.
Ohne diese lange Jahre währende französische Fremdherrschaft stand Deutsch-
land nicht auf jenen Standpunkt verhältnißmäßiger politischer Reife, auf dem
seine Bevölkerung nach endlicher Beseitigung der napoleonischen Herrschaft im
Jahre 1815 sich befand. Ja es hätte erst einer Revolution bedurft – für
deren Verwirklichung gar keine Aussicht vorhanden gewesen wäre –, um das
frühere Zaunfürsten- und Zaunherrenthum zu beseitigen und den west- und süd-
deutschen Bevölkerungen jenes Maß von bürgerlichen Rechtsinstitutionen zu ver-
schaffen, die sie im Vergleich zu Ost- und Norddeutschland Jahrzehnte voraus
besaßen. Auch hatte unter der französischen Fremdherrschaft in den von dieser
längere Zeit beherrschten Gebieten die ökonomische Entwicklung des Bürgerthums
einen Aufschwung genommen, der diesem in seinen Kämpfen gegen das Fürsten-
thum in einer Weise das Rückgrat steifte, von der man anderwärts noch lange
nichts empfand.
Es war nicht Zufall, daß der Geist der Opposition gegen die bestehenden
Zustände vor allen Dingen in West- und Süddeutschland sich bemerkbar machte.
Auch Preußen hat erst den Niederlagen von Auerstädt und Jena die Aera
Stein-Scharnhorst-Gneisenau-Schön zu danken, auf die man sich heute mit einem
gewissen Stolze gern beruft. Die Jahre unmittelbar nach den Niederlagen
brachten die Reformen, die man alsdann in den Jahren nach den großen Siegen
(von 1813-15) nach Kräften zu verhunzen sich beeilte.
Die Völker in Monarchien scheinen für ihre innerpolitische Entwicklung weit
mehr Nutzen von äußeren Niederlagen als von äußeren Siegen zu haben. Das
erfuhr nicht nur Preußen nach 1806/1807 im Vergleich zu nach 1815, sondern
auch Oesterreich nach 1866 und Frankreich nach 1870/71. Auch Rußland hat, was es
an inneren Reformen erlangte, vorausgegangenen äußeren Niederlagen zu verdanken.
Die großartige Opferwilligkeit, die das preußische Volk bei der Besiegung
Napoleon's bewiesen hatte, nöthigte Friedrich Wilhelm III. das Versprechen ab,
derselben eingedenk zu sein, und so verhieß er am 22. Mai 1815 durch einen feierlichen
Erlaß seinem Volke eine Repräsentativverfassung. Das geschah namentlich unter
dem Eindruck der Nachricht von der Rückkehr Napoleon's von Elba nach Frank-
reich und in der Erkenntniß, daß es abermals neuer schwerer Opfer seitens des
preußischen Volkes bedürfen würde, um Napoleon zum zweiten Male zu unterwerfen.
Sogar in die Bundesakte hatten die um jene Zeit zu Wien versammelten
deutschen Fürsten und ihre Bevollmächtigten unter dem Eindruck der letztjährigen
schweren Ereignisse eine Bestimmung ausgenommen (Artikel 13), wonach „in allen
deutschen Staaten eine landständische Verfassung stattfinden werde“, wie es in
wunderbarem Deutsch dort hieß, eine Zusage, gegen deren Verwirklichung sich nach-
her der Bundestag mit allen Mitteln sträubte und alle darauf gerichteten Be-
strebungen schwer verfolgte.
Wie oft sind seitdem von fürstlicher Seite in schwerer Stunde gegebene Ver-
sprechen später vergessen worden.
Am 21. März 1818 wiederholte der König von Preußen in einer Kabinets-
ordre die frühere Zusage, behielt sich aber über das „Wann“ die Entscheidung
vor. Man hatte ihn aus der Rheinprovinz, welche in jener Zeit die vor-
geschrittenste und rebellischste der preußischen Provinzen war, an sein Versprechen
gemahnt, aber er erklärte auch weiter: „er werde sich nicht durch unzeitige Vor-
stellungen im richtigen Fortschreiten zu diesem Ziele übereilen lassen.“
Das Sand'sche Attentat auf Kotzebue in Mannheim (23. März 1819) gab
den bequemen Vorwand ab, die Erfüllung des gegebenen Versprechens abermals
hinauszuschieben, während man zugleich durch die berüchtigten Karlsbader Be-
schlüsse jede freiere Regung noch mehr als vordem unterdrückte. Alsdann wurden
die bekannten gehässigen Demagogenverfolgungen ins Werk gesetzt, die schweres
Unheil über Viele brachten.
Endlich, am 5. Juni 1825, erschien ein von der Regierung Friedrich
Wilhelm III. erlassenes Gesetz, das die Einführung von Provinzialständen an-
ordnete, die nach und nach in den einzelnen Provinzen ins Leben traten. Welcher
Art aber diese Provinzialvertretungen waren, zeigt z. B. die Zusammensetzung
des Provinzial-Landtags der Provinz Brandenburg. Jn diesem hatte der grund-
besitzende Adel unter Heranziehung von 4 Vertretern der Standesherren 35 Stimmen,
die Städte hatten nur 23 und die Bauern der Provinz nur 12. Obendrein
wurden diese Bauern- und Städtevertreter von bestimmten Wählerloterien ernannt,
nicht von der Gesammtheit der Bauern und Bürger gewählt. Aehnlich war die
„Vertretung“ in den andern Provinzen des Staats. Das bot man einem Volke
an, das die riesigsten Opfer an Gut und Blut für die Erhaltung des Thrones
gebracht und dem man seitdem die allgemeine Wehrpflicht mit neuen schweren
Opfern auferlegt hatte.
Von einer Gesammtvertretung des Staats, die versprochen worden
war, blieb Alles still. Friedrich Wilhelm III. fuhr endlich in die Grube (1840),
ohne dieses dem Volke gegebene Versprechen eingelöst zu haben.
Das preußische Volk war – wie man sieht – sehr bescheiden, aber
bescheiden war man zu jener Zeit überall in Deutschland. Und doch zitterten
und bebten die Regierungen im Bewußtsein ihres bösen Gewissens, wenn sie von
Bestrebungen hörten, die jetzt überall sich zu regen begannen und die auf eine
Aenderung der Landesverhältnisse im Sinne bürgerlich-konstitutioneller Zustände
abzielten. Für die Uebelthäter, die solche „revolutionäre“ Jdeen verfolgten, war
keine Bestrafung hart genug.
Die konservativsten Staatsmänner von heute schütteln den Kopf, lesen sie,
was in jener Zeit als staatsgefährliche Demagogie und revolutionäre Bestrebungen
grausam verfolgt wurde.
Jn den meisten deutschen Staaten wurden, unmittelbar nach 1815, im
Gegensatz zu Preußen und Oesterreich, ständische Vertretungen ins Leben gerufen.
Der König von Württemberg hatte 1806 die altständische Verfassung widerrechtlich
aufgehoben und berief 1815 eine Versammlung von Vertretern der höheren Stände,
um mit diesen eine neue Verfassung zu vereinbaren. Diese weigerten sich aber
darauf einzugehen und verlangten die alte Verfassung, als noch zu Recht bestehend,
wiederhergestellt. Nach jahrelangen Kämpfen kam endlich 1819 eine neue Ver-
fassung zu Stande, die im Wesentlichen heute noch in Kraft ist. Die Volks-
vertretung wurde aus zwei Kammern gebildet. Die sogenannte Volks- oder zweite
Kammer bestand aus 13 Abgeordneten der Ritterschaft, 6 evangelischen Prälaten,
dem katholischen Landes-Bischof, den dem Dienste nach ältesten katholischen Dekan,
einem Mitglied des Domkapitels, dem Kanzler der Universität, den Abgeordneten
der sogenannten „sieben guten Städte“ und 64 Abgeordneten der Oberämter, die
indirekt, mit öffentlicher Stimmabgabe und nach einem Zensus gewählt wurden.
Weimar erhielt 1816 eine „Volksvertretung“, dergestalt, daß der Adel 11,
die Städte und Landgemeinden je 10 Vertreter wählten. Das Wahlrecht war
indirekt und es bestand ein Zensus.
Nassau erhielt bereits 1814 eine Verfassung mit zwei Kammern, mit eben-
falls indirekten Wahlen für die zweite Kammer.
Baden gelangte 1818 in den Besitz einer Verfassung. Die zweite Kammer
bildeten 63 Abgeordnete der Städte und Aemter, die indirekt und auf 8 Jahre
gewählt wurden.
Bayern rückte ebenfalls im Jahre 1818 in die Reihe der Staaten ein,
die eine ständische Verfassung besaßen. Die zweite Kammer bestand aus 135 Mit-
gliedern. Ein Theil derselben wurde durch Privilegirte: den niederen Adel, die
katholische und protestantische Geistlichkeit und die Professoren der Universitäten
gewählt. Die übrigen Mitglieder erlangten ihr Mandat auf dem Wege eines
sehr verwickelten Wahlverfahrens und auf Grund eines hohen Zensus. Die Dauer
des Mandats währte 6 Jahre.
Ein Jahr später wie Bayern folgte Hannover, das 1819 eine neue land-
ständische Verfassung bekam, nachdem es bereits seit 1814 einen Landtag besaß,
der aus 44 ritterschaftlichen, 10 geistlichen, 29 städtischen und 3 bäuerlichen Ver-
tretern bestand. Auch nach der neuen Verfassung von 1819 fiel dem Grundadel
der Löwenantheil an der Vertretung zu.
Als Wirkung der französischen Julirevolution (1830), die den deutschen
Fürsten ein großes Unbehagen erweckte und auch in Deutschland allerlei Volks-
bewegungen hervorrief, vereinbarte der König von Sachsen mit den alten Ständen
eine neue Verfassung, die am 4. September 1831 ins Leben trat, nachdem am
9. Januar 1831 Kurhessen bereits vorangegangen war. Am 12. Oktober 1832
folgte Braunschweig, das an diesem Tage eine neue Landschafts-
Ordnung erhielt.
Eine ganz eigenthümliche Stellung nahmen die vier freien Reichsstädte
Bremen, Frankfurt, Hamburg und Lübeck ein, die ihre volle Unabhängigkeit und
Selbstverwaltung gerettet hatten, dieselbe aber den Patriziern und einer Handvoll
privilegirter Bürger überließen; ihre Staatsordnungen bildeten einen Hohn auf den
Namen einer „freien Stadt“ oder Republik.
Die skizzirten Verfassungszustände stimmten darin überein, daß überall die
Masse des Volks und der Steuerzahler von dem Wahlrecht entweder gänzlich aus-
geschlossen war oder ein Wahlrecht besaß, das keinen entscheidenden Einfluß
auszuüben ermöglichte. Außerdem hatten die Regierungen sowohl durch Aufnahme
Privilegirter in die zweiten Kammern, wie durch die Errichtung der ersten Kammern
dafür gesorgt, daß der Volkswille nicht zur Geltung kam. Ueberall waren die
Hauptbedingungen für den Eintritt in diese Körperschaften Zugehörigkeit zu einem
privilegirten Stand (Adel oder Geistlichkeit), Besitz und christliches Bekenntniß.
Juden und Andersgläubige waren ausgeschlossen. Der Geist des Mittelalters
schwebte über diesen Versammlungen.
Die ersten Kammern, wo sie vorhanden waren, und das war in den mitt-
leren und größeren Staaten überall der Fall, bestanden und bestehen heute in der
Hauptsache noch aus den Prinzen der regierenden Häuser, den Standesherren,
den Vertretern des Grundadels, der hohen Geistlichkeit beider Konfessionen, aus
Vertretern der Universitäten und aus Ernannten seitens der regierenden Fürsten,
die diese auf Lebenszeit oder erblich berufen. Es war also dafür gesorgt, daß
keine unliebsamen Beschlüsse gefaßt oder gar unliebsame Gesetze angenommen
wurden. Faßte dennoch ab und zu hier und dort eine zweite Kammer, wie das
namentlich in Baden geschah, einen unbequemen Beschluß, so nahm man das nicht
zu ernst; ihn zu berücksichtigen bestand keine Verpflichtung.
Aber es änderten sich die Zeiten. Die ökonomische Entwicklung Deutsch-
lands wurde durch die Vielstaaterei mit ihren separaten und unter einander
widersprechenden Gesetzgebungen überall gehemmt. Die neuen Verkehrsmittel
(Eisenbahnen) ließen die Kleinstaaterei immer mehr als Anachronismus erscheinen.
Das werdende Großbürgerthum verlangte daher immer entschiedener nach neuen
politischen Formen und nach größerer und freierer Bethätigung, die ihm seine
ökonomische Entwicklung ermöglichten. Die bestehenden Zustände wurden von
Jahr zu Jahr unerträglicher mit den überall sich geltend machenden neuen
Bedürfnissen. So entstand eine oppositionelle Bewegung, die namentlich im
Laufe der vierziger Jahre bedrohlicher wurde. Das brachte denn zu Wege, daß
endlich im Jahre 1847 Friedrich Wilhelm IV. sich entschloß, wenigstens der Form
nach, das von seinem Vater gegebene Versprechen einzulösen, indem er durch
Patent vom 3. Februar 1847 die Provinzialstände zu einem vereinigten Landtag
nach Berlin einberief. „Das war eine zweifellos sehr würdige Versammlung, die
aber heute eines gewissen komischen Eindrucks nicht verfehlen würde, denn ihre
Mitglieder saßen gesondert nach Provinzen, und innerhalb eines solchen Kreises
von Provinzialen wurden die „drei Kurien der Stände“, mit der „Kurie“ der
Herren an der Spitze, geschieden.“Max Schippel: „Fort mit dem Dreiklassen-Wahlsystem in Preußen.“
Zweite umgearbeitete Auflage. Berliner Arbeiter-Bibliothek, II. Serie, 8. Heft.
„Vorwärts“-Buchhandlung, Berlin. Aber auch jetzt noch, und obgleich es bereits
überall rumorte, verstand der König die Zeichen der Zeit so wenig, daß in der
Rede, mit welcher er den Vereinigten Landtag am 11. April eröffnete, er unter
anderem äußerte:
„Jch werde nun und nimmermehr zugeben, daß sich zwischen unsern Herr-
gott im Himmel und dieses Land ein geschriebenes Blatt, gleichsam als eine
zweite Vorsehung eindränge, um uns mit seinen Paragraphen zu regieren und
durch sie die alte heilige Treue zu ersetzen.“
Der so sprach, ahnte nicht, daß das Gewitter bereits über seinem Haupte
sich zusammenzog und er genau ein Jahr später eine Verfassung und vieles andere
zu geben bereit war, von dem er sich an jenem 11. April nichts träumen ließ.
Am 22. Februar 1848 kam das Gewitter zunächst in Paris zum Ausbruch, das
Louis Philipp den Thron kostete, und verbreitete sich rasch über das übrige
Europa. Am 13. März schlug der Blitz in Wien ein und zwang den Träger der
europäischen Reaktion, den Fürsten Metternich, sein Heil in schleuniger Flucht zu
suchen. Nach Wien folgte Berlin, das in des Tagen des 18. und 19. März
das alte absolute Preußen in Trümmer zerschlug und den schwach gewordenen
König für alle möglichen Konzessionen mürbe machte.
Der unmittelbar darauf wieder berufene Vereinigte Landtag nahm am
8. April ein Wahlgesetz für Preußen an, auf Grund dessen eine „National-
versammlung“ zur Feststellung einer Verfassung gewählt werden sollte. Was kurz
zuvor in unendlicher Ferne zu stehen schien, war jetzt That und Wahrheit ge-
worden. Dem neuen Wahlgesetz hatte die Revolution ihren Stempel aufgedrückt.
Es sprach in seinem § 8 klipp und klar aus:
„daß jeder Preuße, der das 24. Lebensjahr zurückgelegt und nicht den Vollbesitz
der bürgerlichen Rechte in Folge rechtskräftigen richterlichen Urtheils verloren
hatte, in der Gemeinde, in der er seit sechs Monaten seinen Wohnsitz und
Aufenthalt hatte, stimmberechtigter Urwähler sei, insofern er nicht aus öffent-
lichen Mitteln Armenunterstützung beziehe.“
Das war also die Proklamirung des allgemeinen gleichen Wahlrechts, kraft
dessen 3661993 über 24 Jahre alte Männer Landtagswähler wurden.
Kurze Zeit darauf fanden die Wahlen statt und wurde der neugewählte
Landtag am 22. Mai durch den König mit einer Thronrede eröffnet. Die Linke
hatte die Mehrheit, aber sie war eine bunt zusammengewürfelte Mehrheit ohne
festen Zusammenhalt und ohne den energischen Geist und die feste Entschlossenheit,
die für eine Versammlung von solcher Bedeutung und in der gegebenen Situation
nothwendig war. Statt sofort durch eine Reihe kräftiger Handlungen sich die
Macht zu sichern und die entgegenwirkenden Kräfte einzuschüchtern und unschädlich
zu machen, vertrödelte sie die kostbare Zeit durch weitschweifige Verhandlungen, und
oft über Dinge von untergeordneter Bedeutung. Ganz anders die Kamarilla und die
Militär- und Junkerpartei. Was seit den Märztagen geschehen war, erfüllte
diese mit tiefster Entrüstung und einer geheimen Wuth, sie trachteten darnach, jedes
brauchbare Mittel zu ergreifen, um das Geschehene nach Möglichkeit rückgängig
zu machen. Dem liberalen Ministerium Camphausen, das aus waschlappigen Alt-
liberalen zusammengesetzt war und dem schon aus diesem Grunde alles Zeug zu
entschiedenem Handeln fehlte, legte man bei dem König jedes denkbare Hinderniß
in den Weg. Der König selbst hatte sich, wie nach seiner ganzen Vergangenheit
und bei einem preußischen König es nicht anders sein konnte, nur widerwillig und
dem Zwange gehorchend auf die neuen Bahnen drängen lassen und ersehnte die
Gelegenheit zur Umkehr.
Das Bürgerthum war gespalten, die eigentliche Bourgeoisie hatte mit dem
größten Unbehagen die Entwicklung der Dinge seit den Märztagen verfolgt und
insbesondere beunruhigte sie, daß die Arbeiter eine immer größer werdende Selbst-
ständigkeit zeigten und mit Nachdruck auf soziale Reformen drängten, für die bisher
in der Kammer sehr wenig Sinn und Verständniß vorhanden war. Das Gespenst
des Kommunismus ging um und ängstigte die stets und überall durch Mangel an
Muth sich auszeichnende Bourgeoisie. Was bei ihr das Unbehagen erhöhte, war
die große Arbeitslosigkeit, die allgemein herrschte, die Unzufriedenheit in den Massen
schürte und die Berliner Behörden zur Jnangriffnahme öffentlicher Arbeiten zwang,
um den Arbeitslosen einigen Verdienst zu gewähren. Man ließ unter anderem
die sogenannten Rehberge abtragen, eine sehr unnütze und unproduktive Arbeit,
von der die betheiligten Arbeiter den Namen „die Rehberger“ erhielten. Gleich-
zeitig ließ der Arbeitsminister von Patow die Arbeitslosen in Schaaren aus der Haupt-
stadt abschieben, um das revolutionäre Element zu entfernen. Oeffentliche
Demonstrationen, die wegen der angekündigten Rückkehr des Prinzen von Preußen
(des späteren Kaisers Wilhelm) aus England stattfanden und bei welchen die Arbeiter
sich stark betheiligten, wie der Sturm auf das Zeughaus am 14. Juni trugen ferner
dazu bei, bei der Bourgeoisie einen Zustand zu erzeugen, der sie aus der Angst und
der Aufregung nicht mehr herauskommen ließ. Sie sehnte sich nach einem Retter.
Unmittelbar nach dem Zeughaussturm hatte das Ministerium Camphausen
seinen Abschied eingereicht, um von dem Ministerium Auerswald, das schon um
eine Nüance weiter nach rechts stand, abgelöst zu werden. Um jene Zeit war aber
Berlin und die Mark von Militär fast entblößt. Der Kampf gegen Dänemark wegen
Schleswig-Holsteins war entbrannt und hatte einen Theil der Armee unter Wrangel
absorbirt. Daher hielt es der Hof für zweckmäßig, um die Gunst der Bürger-
wehr zu buhlen, die man gleichzeitig gegen die Arbeiter einzunehmen suchte, was
bei dem Stande der Dinge nicht schwer war. Die Kammer berieth währenddem
die neue Verfassung und die verschiedensten anderen Materien, wie sie der Tag
brachte, und verschärfte durch eine Anzahl ihrer Beschlüsse die Gegnerschaft der
reaktionären Kreise. Diese setzten namentlich in den Ostprovinzen alle Hebel in
Bewegung, um die gegenrevolutionäre Strömung zu einer Macht zu steigern. Vor
allem aber handelte es sich darum, die Armee zur Verfügung zu haben, damit
diese im entscheidenden Augenblicke eingreifen könne. So wurde (26. August 1848
) mit Dänemark der schmachvolle Waffenstillstand zu Malmö geschlossen, der ermög-
lichte, die Armee zurückzuführen, die bald darauf unter dem Kommando Wrangel's
um Berlin Aufstellung nahm.
Die Haltung der Nationalversammlung auf der einen, die Haltung des
Hofes auf der anderen Seite, nöthigte das Ministerium Auerswald, bereits am
11. September zurückzutreten, um dem Ministerium Pfuel, das als ein solches der
gemäßigten Rechten galt, den Platz zu räumen. Die Nationalversammlung tagte
ruhig weiter. Sie berieth ein neues Jagdgesetz, ein Gesetz über die Sistirung der
Ablösungsverhältnisse und beschloß bei der Spezialberathung der neuen Verfassung
die Beseitigung des Titels „von Gottes Gnaden“ und die Abschaffung des Adels
und der Orden und Titel. Darüber war der König tief empört und gab seiner
Stimmung entsprechenden Ausdruck. Die Situation wurde noch bedenklicher durch
einen blutigen Konflikt zwischen den Arbeitern und der Bürgerwehr, den man
seitens der letzteren auf ein „Mißverständniß“ zurückzuführen suchte. Die Konflikte
wiederholten sich aber am 26. Oktober. Wenige Tage später (den 31. Oktober)
war Wien den Kanonen des Fürsten Windischgrätz unterlegen, eine Nachricht, die,
als sie in Berlin eintraf, Volk und Kammer in die höchste Aufregung versetzten,
aber im Lager der Reaktion den größten Jubel hervorrief. Die Forderung der
Kammer an die Regierung, die Sache Wiens bei der österreichischen Regierung
mit allen Mitteln zu vertreten, war das Signal für die Reaktion, die Maske ab-
zuwerfen. Das Ministerium Pfuel erhielt den Abschied und Brandenburg-Man-
teuffel, die Häupter der Junkerpartei, übernahmen die Regierung. Am 9. November
wurde der Kammer mitgetheilt, daß ihre sofortige Verlegung nach Brandenburg
stattzufinden habe, woselbst sie am 27. zur Berathung zusammentreten sollte. Es
galt die Kammer den Einflüssen der Berliner Bevölkerung zu entziehen. Die
große Mehrheit der Kammer widersetzte sich und tagte, als sie ihr Sitzungslokal
geschlossen fand, in anderen Lokalen weiter. Jetzt stellte das Ministerium an den
Kommandanten der Bürgergarde die freche Zumuthung, die Versammlung aus-
einander zu treiben. Dieser weigerte sich, der Aufforderung zu gehorchen. Die
Antwort war die Auflösung der Bürgergarde am 12. November. Tausende von
Arbeitern, die sich zum Schutz der Nationalversammlung erboten hatten und Waffen
verlangten, wurden von dem Präsidenten derselben, Herrn v. Unruh, zurück-
gewiesen mit dem Bemerken: man werde sich mit dem passiven Widerstande be-
gnügen. Noch an demselben Tage, am 10. November, rückte Wrangel an der
Spitze von 20000 Mann in Berlin ein und ließ die Nationalversammlung aus-
einandertreiben, nachdem dieselbe noch kurz zuvor den Beschluß gefaßt hatte: die
Bürger aufzufordern, die Steuern zu verweigern.
Zwar trat die Kammer am 27. November, den Anordnungen des Ministe-
riums gemäß, aufs Neue in Brandenburg zusammen, aber am 5. Dezember ereilte
sie bereits die Auflösung, und am 6. Dezember erschien ein neues Wahlgesetz, das
die vom bisherigen Gesetz abweichende Bestimmung enthielt, daß der Wähler
„selbständig“ sein müsse, wodurch ca. 700000 bisherigen Wählern das Wahlrecht
entzogen wurde. Jmmerhin war dieses Wahlrecht noch weit radikaler als das
kurz darauf eingeführte Dreiklassen-Wahlrecht. Gleichzeitig berief die Regierung die
neuen Kammern auf den 26. Februar 1849 nach Berlin, um die von ihr gleich-
falls oktroyirte Verfassung zu „revidiren“.
Der Hauptakt in dem ersten revolutionären Drama Preußens war ohne
Sang und Klang zu Ende. Der „passive Widerstand“ war die Losung des
Bürgerthums, daher nichts leichter, als daß eine zielbewußte Reaktion die Lage
für sich ausnutzte. Als die neue zweite Kammer zusammentrat und sich heraus-
stellte, daß sie von der aufgelösten sich nur wenig unterschied, wurde sie am
27. April abermals nach Hause geschickt. Darauf erließ am 30. Mai 1849 die
Regierung eine neue Verordnung, durch welche das „elendeste und erbärmlichste
aller Wahlgesetze“, das heute noch in Preußen giltig ist, das Dreiklassenwahlsystem,
ins Leben gerufen wurde.
Erbittert über diesen Staatsstreich, den die Oktroyirungsmaßregeln der Re-
gierung darstellten, beschloß die demokratische Linke unter Protest Enthaltung
von den Wahlen, womit sie der Regierung nur einen Gefallen erwies. Die neue
gefügige Kammer brachte mit der Regierung die Revision der Verfassung im
Dezember 1849 zu Stande. Zehn Jahre später, im Jahre 1859, als unter der
„Regentschaft“ die sogenannte neue Aera begann, trat die bürgerliche Demokratie
endlich aus dem Schmollwinkel hervor und betheiligte sich wieder an den Wahlen.
Aehnlich wie dem preußischen erging es dem sächsischen Volke. Die März-
tage und was ihnen folgte hatten auch die sächsische Regierung zur Einlenkung in
neue Bahnen gezwungen. Sie vereinbarte mit dem Ständelandtag im Frühjahr 1848
ein Wahlgesetz, das die einzige Beschränkung enthielt, daß der Wähler „selbständig“
sein, d.h. einen eigenen Hausstand haben müsse. Jm übrigen war das Wahl-
gesetz allgemein, gleich und direkt. Als aber nach dem verunglückten Maiaufstand
in Dresden (1849) die Reaktion wieder Oberwasser erhielt und die Volksvertretung
Beschlüsse faßte, die der Regierung nicht genehm waren, wurde dieselbe am
1. Juni 1850 aufgelöst. Wider alles Recht und als hätten die letzten zwei
Jahre nicht existiert, berief die Regierung auf dem Verordnungswege die 1848
gesetzlich aufgehobenen Stände wieder zusammen (3. Juni 1850). Ebenso er-
gingen widerrechtlich Verordnungen, durch welche die bestehenden sehr freien
Vereins- und Versammlungsgesetze und das Preßgesetz aufgehoben und neue
reaktionäre Gesetze provisorisch an deren Stelle gesetzt wurden, die gut zu heißen
alsdann die reaktionären Stände sich beeilten.
Das Schicksal, das die Volkswahlrechte in Preußen, Sachsen und ander-
wärts getroffen hatte, ereilte auch das Wahlrecht für das deutsche Parlament zu
Frankfurt a. M. Das letztere hatte das Wahlrecht auf breitester demokratischer
Grundlage gutgeheißen und wurde dasselbe unter dem 12. April 1849 als
Reichsgesetz durch den Reichsverweser und die Reichsminister verkündet. Charakte-
ristischer Weise war es die Linke und die Rechte des Parlaments, welche gegen
den Widerstand der gemäßigten Liberalen, der späteren sogenannten Gothaer, als
deren Erben und Nachfolger man die heutigen Nationalliberalen ansehen muß,
das Reichstagswahlrecht beschloß.
Damals repräsentirten diese gemäßigten Liberalen, auch die Erbkaiserlichen
genannt – weil sie die Könige von Preußen als erbliche Kaiser an die Spitze
Deutschlands setzen wollten – die im Wachsen begriffene Bourgeoisie, wie heute
die Nationalliberalen die Vertreter der Bourgeoisie par excellence sind.
Diese Gesellschaftsklasse ist sich immer und überall gleich: sie ist mit der
liberalen Phrase im Munde volks- und arbeiterfeindlich bis ins innerste Mark
hinein. Jhre Vertreter sind stets und überall politische Mollusken, die sich durch
zwei Eigenschaften ihrer Klasse besonders auszeichnen, durch Feigheit und politische
Charakterlosigkeit.
Das Reichswahlgesetz für das deutsche Parlament bestimmte in seinem § 1:
Wähler ist jeder Deutsche, welcher das fünfundzwanzigste Lebensjahr zurückgelegt
hat. Wählbar zum Abgeordneten des Volkshauses – die Volksvertretung sollte
aus einem Staaten- und einem Volkshause bestehen – war jeder wahlberechtigte
Deutsche, der seit mindestens 3 Jahre einem deutschen Staate angehört hatte.
Ausgeschlossen von der Wahl und damit auch von der Wählbarkeit zum Ab-
geordneten waren 1. Personen, die unter Vormundschaft oder Kuratel standen;
2. Personen, über deren Vermögen Konkurs- oder Fallitzustand gerichtlich eröffnet
worden war, und zwar während der Dauer dieses Zustandes; 3. Personen, die
eine Armenunterstützung aus öffentlichen oder Gemeindemitteln bezogen oder im
letzten der Wahl vorausgegangenen Jahre bezogen hatten.
Diese Ausschließungsbestimmungen sind später fast wörtlich in das deutsche
Reichswahlgesetz aufgenommen worden. Ferner sollten die Mitglieder des Staaten-
hauses wie des Volkshauses eine Reisekostenentschädigung von 1 fl. pro Meile
und Tagegelder in Höhe von 7 fl. rheinisch (= 12 Mk.) erhalten. Da aber die
damalige ganze Reichsherrlichkeit an der Kontrerevolution der Fürsten und der
hinter ihnen stehenden Schichten zu Grunde ging, so blieb auch das Reichs-
wahlgesetz gleich der neuen Reichsverfassung auf dem Papier.
Das Volk hatte vergebens gekämpft, geblutet und geopfert. Die Feigheit
und der Verrath der maßgebenden Klassen und der Jndifferentismus und die
Unklarheit großer Volksmassen hatten die Niederlage herbeigeführt.
Das Dreiklassenwahlsystem in Preußen.
Als das Ministerium Manteuffel am 30. Mai 1849 seine berüchtigte Ver-
ordnung erließ, durch die das bestehende Wahlrecht aufgehoben und das Drei-
klassenwahlsystem eingeführt wurde, erhob sich in weiten Kreisen ein Sturm des
Unwillens und der Empörung. Die Wirkung dieser Oktroyirung war, daß, wie
schon bemerkt, die Demokratie sich der Betheiligung an den Wahlen enthielt und
die Rechtsbeständigkeit der Verordnung negirte, was nicht verhinderte, daß die
auf Grund des oktroyirten Wahlgesetzes gewählte Kammer sich als Volksvertretung
ansah und giltige Gesetze beschloß. Auch entschwand im Laufe der Jahre dem
Volke das Bewußtsein der Nichtrechtsbeständigkeit jenes Wahlrechts und so hielt
die Linke es schließlich selbst für angemessen, vom Jahre 1859 ab sich wieder an
den Wahlen zu betheiligen. Heute wagt kaum noch einer ihrer Nachkommen an
die Nichtrechtsbeständigkeit jener Verordnung zu erinnern.
Die Sozialdemokratie hat bisher niemals Rechtsinstitutionen auf ihre Rechts-
beständigkeit geprüft, um davon die Anerkennung oder Nichtanerkennung abhängig
zu machen, sie weiß zu genau, daß alles Recht nur eine Frage der Macht ist.
Statt mit der Untersuchung subtiler Rechtsfragen die Zeit todtzuschlagen, ist sie
bemüht, jedes ihr zur Verfügung stehende Kampfmittel, das Erfolg verspricht, zu
benutzen, um sich die Macht zu erobern und alsdann das Recht in ihrem Sinne
zu gestalten. Bedenken über die Rechtsbeständigkeit des Dreiklassenwahlsystems
waren es also nicht, die bisher die Sozialdemokratie abhielten, sich an der Aus-
übung desselben zu betheiligen, sondern die Ueberzeugung, daß die Betheiligung
an diesem elendesten und erbärmlichsten aller Wahlgesetze, wie es Fürst Bismarck
in der Sitzung des Norddeutschen Reichstags am 28. März 1867 selbst nannte,
ihr keine Erfolge verhieß.
Die Verschlimmbesserungen, die das preußische Abgeordnetenhaus, das
würdige Produkt dieses famosen Wahlgesetzes, in seiner Session von 1892/93 an
demselben vornahm, deren Wirkung bei den Neuwahlen im Herbst 1893 schon theil-
weise in die Erscheinung traten, sind geeignet, diese herrschende Auffassung von
dem Werthe des Dreiklassenwahlsystems zu bestärken. Das Gesetz ist durch die
Erscheinungen, welche die letzten Wahlen hervorbrachten, noch mehr als bisher
dem Fluche der Lächerlichkeit, um nicht zu sagen der öffentlichen Verachtung ver-
fallen. Verwundert fragt man sich, warum eine Regierung, die auf ihre Reputation
achtet, nicht bestrebt ist, ein solches Monstrum eines Gesetzes so bald als möglich
aus der Welt zu schaffen, dessen Unhaltbarkeit nicht blos für jeden Gerechtigkeit-
liebenden, nein, für jeden anständigen Menschen selbstverständlich ist.
Der § 8 der Verordnung vom 30. Mai 1849 bestimmt:
„Jeder selbständige Preuße, welcher das 24. Lebensjahr vollendet und
nicht den Vollbesitz der bürgerlichen Rechte in Folge richterlichen Erkenntnisses
verloren hat, ist in der Gemeinde, worin er seit sechs Monaten seinen Wohnsitz
oder Aufenthalt hat, stimmberechtigter Urwähler, sofern er nicht aus öffentlichen
Mitteln Armenunterstützung erhält.“
Dies in Preußen bestehende Wahlrecht unterscheidet sich zu seinen Gunsten
von dem Reichstagswahlrecht dadurch, daß bereits mit vollendetem 24. Lebens-
jahre die Wahlfähigkeit beginnt, während bei dem Reichstagswahlrecht das voll-
endete 25. Lebensjahr erfordert wird. Weiter hatten – wenigstens bis zum
Erlaß der Norddeutschen Bundes-Verfassung, 1867 – auch die aktiven Militär-
personen, wenn sie den Anforderungen des § 8 entsprachen, das aktive und passive
Wahlrecht.
Das Dreiklassenwahlsystem unterscheidet sich von dem bestehenden Reichstags-
wahlrecht zu seinen Ungunsten dadurch:
1. Daß die Stimmabgabe eine öffentliche ist, wodurch der Einschüchterung
und Beeinflussung der Wähler und der Wahlmänner Thür und Thor geöffnet ist,
und für Millionen Wähler eine freie Wahl zur Unmöglichkeit wird;
2. Daß die Wahlen indirekt sind. Die sogenannten Urwähler haben
Wahlmänner zu wählen, die ihrerseits in einem besonderen Wahlgang, ebenfalls
mit öffentlicher Stimmabgabe, die Abgeordneten zu wählen haben.
3. Daß wie das Stimmrecht weder geheim noch direkt, es auch nicht
gleich ist. Die Wähler jedes Wahlkreises werden nach der Höhe der direkten
Steuern, die sie zahlen, in drei Klassen eingetheilt, von denen jede Klasse ein
Drittel der Wahlmänner wählt, obgleich die Zahl der Wähler in den einzelnen
Klassen eine sehr verschiedene ist.
Die Wahlmänner der drei Klassen wählen gemeinschaftlich die Abgeordneten,
so daß die Wahlmänner der ersten und zweiten Klasse, obgleich sie nur kleine
Wählerkreise hinter sich haben, die Wahlmänner der dritten Klasse, die bis zu
90 und mehr Prozent der Wähler repräsentiren, überstimmen können.
Das wichtigste politische Recht wird also nach Maßgabe des
Besitzes verschieden bemessen. Es sichert den Reichen und Wohl-
habenden unter allen Umständen die Macht.
Für die Wahlrechtszutheilung wurden bisher die direkten Staatssteuern, die
gezahlt würden, in Anrechnung gebracht. Und zwar wurde seit der Steuerreform
vom Jahre 1890 die Einkommensteuer, die Gewerbesteuer einschließlich der Betriebs-
steuer und die Grund- und Gebäudesteuer in Ansatz gebracht, mit der weiteren
Maßgabe, daß diejenigen, die, weil sie unter 900 Mk. Jahreseinkommen haben,
von der Einkommensteuer – vordem von der Klassensteuer – befreit sind, 3 Mk.
als Steuersatz angerechnet erhalten.
Diese Bestimmungen wurden durch die weitere Steuerreform und durch die
gleichzeitig vorgenommene Wahlrechtsreform vom Jahre 1893 dahin abgeändert,
daß vom 1. April 1895 an nicht nur die direkten Staatssteuern (Einkommen-
steuer nebst Ergänzungs- [Vermögens-] und Gewerbesteuer für den Gewerbebetrieb
im Umherziehen), sondern auch die direkten Gemeinde-, Kreis- und
Provinzial- bez. Bezirkssteuern, die der Urwähler zu entrichten hat,
in Berechnung gestellt werden. Dabei treten an Orten, wo direkte Gemeinde-
steuern nicht erhoben werden, an deren Stelle die vom Staate veranlagten
Grund-, Gebäude- und Gewerbesteuern, auf deren Erhebung aber der Staat
vom 1. April 1895 an verzichtet. Es kommen also Steuern in den
betreffenden Orten in erheblicher Höhe für die Zumessung des Wahl-
rechts in Betracht, die gar nicht erhoben werden.
Ein System, nach dem nicht bezahlte Steuern als bezahlte angesehen werden
und für die Vertheilung politischer Rechte in Anrechnung kommen, besteht wohl
einzig und allein in Preußen. Hier zeigt sich, zu welchen Ungeheuerlichkeiten
eine ausschließlich auf dem Besitz beruhende Landesvertretung sich versteigen kann.
Das Bestreben, die Macht, die man besitzt, um jeden Preis zu behalten, womöglich
noch zu erweitern, artet ins Wahnsinnige aus.
Der Vortheil aus diesen ungeheuerlichen Bestimmungen fällt in erster Linie
den über 16000 ostelbischen selbständigen Gutsbezirken zu, in welchen der Guts-
herr als Gemeindeoberster und Polizeiherr schaltet und waltet und an sich selbst
natürlich keine Gemeindesteuer bezahlt, aber die nicht entrichtete Gebäude-, Grund-
und Gewerbesteuer zur Bemessung des Wahlrechts angesetzt erhält. Daß ein
solches ungeheuerliches Privilegium geschaffen wurde, ist vorzugsweise dem
Zentrum geschuldet, das in seinen Mogeleien mit der Rechten der letzteren,
die genau wußte, was sie forderte, diese Forderungen bewilligte. Die Rechte
ihrerseits hatte dem Zentrum dafür die Konzession zugestanden, daß von der für
die Zumessung des Wahlrechts in Anrechnung kommenden Einkommensteuer Be-
träge über 2000 Mk. außer Ansatz bleiben sollten. Das Zentrum hoffte, da die
Vertheilung des Landtagswahlrechts auch für die Gemeindewahlen gilt, durch
diese Bestimmung in einer Anzahl rheinischer Gemeinden seine Anhänger gegen
die nationalliberalen und freikonservativen Großbourgeois in der ersten Wähler-
klasse in die Gemeindevertretungen bringen zu können. Es war freilich ein aller
Konsequenz Hohn sprechender Beschluß, auf der einen Seite nicht gezahlte
Steuern für die Zumessung des Wahlrechts in Ansatz zu bringen, auf der
anderen Seite aber wirklich gezahlte Steuern über einen bestimmten Satz hinaus
außer Ansatz zu lassen. Dergleichen kann nur von Parteien beschlossen werden,
denen Konsequenz und Gerechtigkeit hohle Worte sind. Jn dieser Beziehung über-
trafen sich die Parteien im Landtage gegenseitig.
Schließlich war aber das Zentrum der betrogene Theil. Jm Abgeord-
netenhause bildeten Zentrum und Konservative die große Mehrheit und so wurden
diese Vereinbarungen gegen die lebhafte Opposition der nationalliberalen Groß-
bourgeois angenommen. Ebenso hatte das Abgeordnetenhaus die von der Re-
gierung vorgeschlagene Zwölftelung – auf die wir noch zu sprechen kommen –
statt der Drittelung der Steuerbeträge in die 3 Klassen gutgeheißen.
Das Herrenhaus aber änderte diese Beschlüsse. Es hob die Zwölftelung
auf – eine Aenderung, der keine besondere Bedeutung beizulegen war – und stellte
die Drittelung wieder her. Außerdem strich es die vom Zentrum ausgegangene
Aenderung, daß über einen Satz von 2000 Mark die Einkommensteuer für die
Zumessung des Wahlrechts nicht in Anrechnung kommen sollte; dagegen ließ es
die andere Bestimmung, wonach in Orten, in denen direkte Gemeindesteuern nicht
erhoben werden, die vom Staate veranlagte oder nicht erhobene Grund-,
Gebäude- und Gewerbesteuer in Anrechnung kommen sollte, in Kraft.
Als nun die Vorlage an das Abgeordnetenhaus zurückging, um eine
Uebereinstimmung mit den Beschlüssen des Herrenhauses zu erzielen, weil ohne diese
Uebereinstimmung und die Zustimmung der Regierung keine Vorlage Gesetzeskraft
erlangen kann, erklärten die schlauen Konservativen zum größten Aerger des
Zentrums, nunmehr für die Herrenhaus-Beschlüsse zu stimmen. Das-
selbe erklärten die National-Liberalen, die gegen die Vorlage, wie sie das Abge-
ordnetenhaus beschlossen, gestimmt hatten. Dagegen erklärte Herr Bachem voll
Zorn und Entrüstung Namens seiner Partei, daß sie das Gesetz in der Fassung
des Herrenhauses nunmehr ablehnten.
Diese parlamentarische Komödie wäre unmöglich gewesen, saß auch nur
ein Sozialdemokrat im Abgeordnetenhause, der diese Schacherpolitik gebührend an
den Pranger stellte.
Ein weiterer Beschluß, dem Abgeordnetenhaus und Herrenhaus zustimmten,
ging dahin, daß wie schon bisher diejenigen Wähler, die weniger als 900 Mark
Jahreseinkommen besitzen und von der Staatseinkommensteuer befreit sind, bei
der Zumessung des Wahlrechts einen Steuersatz von 3 Mark in Ansatz gebracht
bekommen sollen, und zwar auch in dem Falle, daß für einen solchen Urwähler
eine andere von ihm zu entrichtende direkte Staats- oder Gemeindesteuer anzu-
rechnen ist. Aber man beschloß weiter, daß vom 1. April 1895 ab alle Ur-
wähler, die zu keiner Staatseinkommensteuer veranlagt sind, der
dritten Wählerklasse zuzutheilen seien, auch wenn sie durch die An-
rechnung des Steuersatzes von 3 Mark in die zweite oder erste
Abtheilung gelangen würden. Letzteres wäre in Bezirken, wo die Zahl
der von der Staatssteuer befreiten Wähler eine sehr große ist, und bei der gegen-
wärtig geltenden Drittelung der Steuersätze in den Urwahlbezirken hier und
da möglich gewesen. Z. B. zählte, wie bei einer Probe-Aufstellung sich zeigte, im
Jahre 1893 der Kreis Teltow unter 2805 Wahlberechtigten 1449 = 51,7 pCt.
steuerfreie Wahlberechtigte, der Kreis Niederbarnim bei 956 Wahlberechtigten
460 = 48,1 pCt. steuerfreie Wahlberechtigte und der Kreis Ratibor bei 2946 Wahl-
berechtigten 1513 = 51,4 pCt. steuerfreie Wahlberechtigte.
Nach der seit 1890 beschlossenen Einrichtung, daß die Wählerklassen nicht
mehr nach der Steuerquote, welche der ganze Wahlkreis aufweist, sondern nach der
Quote, die der einzelne Urwahlbezirk im Ansatz hat, in den Urwahlbezirken
gebildet werden, lassen diese Zahlenangaben den Schluß zu, daß in Urwahlbezirken,
die ausschließlich aus unbemittelter Bevölkerung bestehen, Dreimarkmänner in
die zweite, unter Umständen selbst in die erste Wählerklasse kommen
könnten. So z. B. bildeten diese Dreimarkmänner im 508. Urwahlbezirk in Berlin
98,5 pCt. der Wähler. Von 203 Wählern waren 200 Dreimarkmänner. Jm 486. Ur-
wahlbezirk waren es 97,3 pCt., in einem Bezirk des Teltower Kreises 98,4 pCt.
Das wußten die Konservativen, und das fürchteten sie, und darum ver-
langten sie diese Wählermassen unter allen Umständen in die dritte
Wählerklasse zu bannen, ein Verlangen, dem das Zentrum und die
übrigen Parteien zustimmten.
Jndem aber diese wahlberechtigten Dreimarkmänner ein für alle Mal in die
dritte Wählerklasse gebannt wurden, trat eine Begünstigung der übrigen Wahl-
berechtigten ein. Man sicherte diesen ausschließlich die erste und zweite Wähler-
klasse. Eine ähnliche Bindung auch mit denjenigen Wahlberechtigten vorzunehmen,
welchen die vom Staate veranlagte Grund-, Gebäude- und Gewerbesteuer, obgleich
sie nicht bezahlt wird, in Anrechnung kommt, fiel natürlich dem Landtage nicht im
Traume ein. Hier handelte es sich eben um wohlhabende, oft sehr reiche Leute,
deren Macht um jeden Preis, selbst durch künstliche Mittel verstärkt werden mußte,
dort, bei den Dreimarkmännern, um arme Teufel.
Da die dritte Wählerklasse, wie wir sehen werden, gegenüber der ersten und
zweiten Wählerklasse vollkommen machtlos ist, so hat für die dritte Klasse die Zuweisung
der Dreimarkmänner nur eine dekorative Bedeutung und einen fingirten Werth.
Daß übrigens die Wirkung der Steuerreform, auch ohne eine besondere
Begünstigung der Jnhaber selbständiger Gutsbezirke, eine Verschiebung des Drei-
klassen-Wahlrechts im plutokratischen SinneJm Sinne der Herrschaft der reichen Leute. nothwendig zur Folge habe, wußte
die preußische Regierung, wie eine Rede des Finanzministers Miquel bewies, sehr
wohl. Als in der fünften Sitzung des preußischen Abgeordnetenhauses, am
21. November 1892, der ehemalige Minister des Jnnern, der Abg. Herrfurth, auf
die wahrscheinlich starke plutokratische und agrarische Wirkung der Steuerreform
hinwies, wenn diese nicht durch eine entsprechende Wahlreform verhindert werde,
antwortete Herr Miquel:
„Jch gebe auch von meinem Standpunkt aus zu, daß die Wirkung des Ein-
kommensteuergesetzes ebensowohl als die Wirkung der Reformgesetze auf das Wahl-
recht eine sehr bedeutende sein und sich namentlich nach der pluto-
kratischen Seite hin äußern wird; ich bin auch der Meinung, daß ein
Wahlgesetz dieser Wirkung entgegentreten und dafür Sorge tragen
muß, daß nicht ein so starkes Ueberwiegen der plutokratischen
Elemente beim preußischen Wahlrecht in Zukunft vorhanden ist.“
Er versprach weiter darauf zurückzukommen, wenn die Wahlreform-Vorlage
vorliege und hoffte, daß man zu einer Verständigung kommen werde.
Nun! Die Wahlrechtsvorlage kam! Die Vorlage der Regierung war aber weit
entfernt davon, dem plutokratischen Charakter, den das Wahlrecht für die erste und
zweite Wählerklasse erlangt hatte, abzuhelfen. Sie schlug zwar, wie schon erwähnt,
vor, daß für die Berechnung der Steuerbeträge in den Wahlbezirken nicht mehr
die Drittelung, sondern die Zwölftelung maßgebend sein sollte, dergestalt, daß
von dem Gesammtsteuerertrag eines Bezirks die erste Klasse 5, die zweite 4, die
dritte 3 Zwölftel aufzubringen habe. Aber die neue Eintheilung veränderte nur
in sehr unbedeutendem Maße die Zahl der Wähler in der ersten und zweiten
Klasse und hatte für die dritte Klasse gar keinen Werth, da diese nach wie vor
die enorme Mehrzahl der Wähler umschloß. Das zeigten schlagend die Er-
hebungen, welche die Regierung über den Einfluß der Zwölftelung in einigen
Probewahlkreisen vornehmen ließ, um ein Urtheil über die Wirkung des Systems
zu bekommen. Ausgewählt wurden für die Großstädte: Berlin II. und Köln; für
größere und kleinere Mittelstädte: Krefeld-Neisse und Greifswald; für ländliche
Kreise mit überwiegendem Großgrundbesitz: Grimmen-Greifswald, mit überwiegendem
bäuerlichem Grundbesitz: Schlawe-Rummelsburg. Wir stellen die Ergebnisse hier
neben einander, indem für 1888 die thatsächliche Gestaltung der Wahlen, für
1892 die unveränderte Anwendung des Gesetzes von 1891 und das System der
Zwölftelung, beides unter der Annahme von Dreimark-Wählern vorausgesetzt wird
System der Drittelung | System
der Zwölftelung |
| 1888 | 1892 (bezirksweise) |
| I. | II. | III. | I. | II. | III. | I. | II. | III. |
Schlawe-Rummelsburg | 3,35 | 11,83 | 84,82 | 3,58 | 14,17 | 82,25 | 5,13 | 19,89 | 74,98 |
Grimmen-Greifswald | 2,78 | 8,82 | 88,40 | 2,67 | 8,60 | 88,73 | 3,90 | 12,12 | 83,98 |
Stadt Greifswald | 3,03 | 10,01 | 86,96 | 3,58 | 10,10 | 86,32 | 5,20 | 13,01 | 81,79 |
Stadtkreis Köln | 2,21 | 8,81 | 88,98 | 2,26 | 8,32 | 89,42 | 3,41 | 11,75 | 84,84 |
Stadtkreis Krefeld | 2,54 | 8,47 | 88,99 | 2,36 | 8,58 | 89,06 | 3,61 | 12,30 | 84,09 |
Stadtkreis Berlin II. | 1,25 | 6,75 | 92,00 | 1,59 | 7,13 | 91,28 | 2,31 | 11,35 | 86,34 |
Neisse-Grottkau | 3,38 | 8,75 | 87,87 | 3,60 | 10,72 | 85,68 | 5,21 | 14,42 | 80,37 |
Stadt Neisse | 4,03 | 10,42 | 85,55 | 3,77 | 9,97 | 86,26 | 5,37 | 12,58 | 82,05 |
Das Resultat der Zwölftelung im Gesetz wäre also gewesen, daß die
Wählerzahl in der ersten und zweiten Klasse ein wenig größer, und dementsprechend
die Wählerzahl der 3. Klasse ein wenig kleiner geworden wäre. Aber was hat
es für einen Einfluß auf den Ausgang der Wahl, wenn künftig statt 82,25 pCt.
der gesammten Wählerschaft 74,98 pCt. – das ist der stärkste Unterschied, der
sich bei der Probeaufstellung ergab – zur dritten Klasse gehört? Jn den sieben
anderen Probewahlkreisen sind die Unterschiede noch weit geringer. Es erscheint
als ein schlechter Scherz, das eine „Reform“ zu nennen. Als dann das Herrenhaus
die Drittelung wieder hergestellt hatte, der schließlich das Abgeordnetenhaus zu-
stimmte, beeilte sich die Regierung ebenfalls, diese Aenderung mit den anderen, welche
sowohl den plutokratischen wie den agrarischen Charakter der Wahlrechtsvertheilung
auf die höchste Spitze trieben, zu akzeptiren. Sie nahm das neue Gesetz sogar
mit einer Eile in die Gesetzessammlung auf, die im höchsten Grade auffällig war.
Von einer Opposition des Herrn Miquel gegen den plutokratisch-agrarischen
Charakter des neuen Gesetzes hörte man nichts. Wer will auch von einem Dorn-
strauch Feigen lesen?
Abgesehen von den Reformen zu Gunsten der Kapitalisten und Agrarier,
die am Dreiklassenwahlsystem vorgenommen wurden, mußte allein schon die wirth-
schaftliche Entwicklung innerhalb der letzten Jahrzehnte das System zu Gunsten
der reichen Klassen auf Kosten der Minderbemittelten beeinflussen. Das zeigt ein
Blick auf die Einkommensvertheilung innerhalb des erwähnten Zeitraums. Nach
2
Clemens HeißDie großen Einkommen in Deutschland und ihre Zunahme in den letzten
Jahrzehnten. München und Leipzig 1893. Eine von der staatswissenschaftlichen
Fakultät der Universität Tübingen gekrönte Arbeit. hat in den acht alten Provinzen Preußens in dem Zeitraum von
1853-1890 die Einwohnerzahl um 42 pCt. zugenommen. Die Einkommen
liegen aber in dieser Periode folgendermaßen:
Die Einkommen | | unter 3000 | Mk. | stiegen | um | | 42 | pCt., |
〃 | 〃 | von | 3000 -36000 | 〃 | 〃 | 〃 | 333 | 〃 |
〃 | 〃 | 〃 | 36000-60000 | 〃 | 〃 | 〃 | 590 | 〃 |
〃 | 〃 | 〃 | 60000-120000 | 〃 | 〃 | 〃 | 835 | 〃 |
〃 | 〃 | | über 120000 | 〃 | 〃 | 〃 | 942 | 〃 |
Die Zahl der Einkommen bis zu 3000 Mk. stieg also konform der Zunahme
der Bevölkerung, die Zahl der großen Einkommen wuchs aber um so rascher, je
größer sie waren. Es ist klar, daß eine sehr starke Verschiebung in den drei
Wählerklassen eine nothwendige Wirkung dieser Verschiedenartigkeit der Einkommens-
vermehrung war. Und da durch die Einführung der Staatseinkommensteuer mit
Zwangseinschätzung (1891) das Wachsthum der großen Einkommen sich noch weit
erheblicher herausstellte, als die Tabellen von Heiß, die mit 1890 abschließen,
ergaben, so war eine weitere Entwicklung der Wahlrechtsvertheilung nach der
plutokratischen Seite selbstverständlich. Sie ist thatsächlich auch eingetreten.
Bei der Tendenz unserer ökonomischen Entwicklung, nach der die großen
Vermögen progressiv wachsen auf Kosten der kleineren und auf Kosten der großen
Masse der Bevölkerung, mußte die Gesammtzahl der Wähler der ersten und
zweiten Klasse im Verhältniß zu jener der dritten immer kleiner werden. Die
Einflußlosigkeit der dritten Wählerklasse nimmt mit der Zunahme ihrer Zahl nicht
ab sondern zu. Zu einer solchen Ungeheuerlichkeit führt das bestehende Wahlsystem.
Nach der amtlichen Statistik gab es im Jahre 1849 auf Grund des Drei-
klassenwahlsystems in Preußen:
3225703 Urwähler.
Davon | gehörten | zur | 1. | Wählerklasse | 153308 | Urwähler, |
〃 | 〃 | 〃 | 2. | 〃 | 409945 | 〃 |
〃 | 〃 | 〃 | 3. | 〃 | 2691950 | 〃 |
Ein Wähler 1. Klasse hatte demnach durchschnittlich so viel Wahlrecht wie
2,7 Wähler der 2. Klasse und 17 Wähler der 3. Klasse. Die 563753 Wähler
der 1. und 2. Klasse steckten die 2691960 Wähler der 3. Klasse in die Tasche,
diese hatten jenen gegenüber „nix to feggen“. Noch mehr. Die Wähler der
1. Klasse und einer über die Hälfte der Wähler der 2. Klasse konnten die ge-
sammten Wähler der dritten und die kleinere Hälfte der Wähler der 2. Klasse
überstimmen. Heute ist es noch ebenfalls so, nur mit dem Unterschied, daß die
Zahl der Wähler der 1. und 2. Klasse im Verhältniß zu jener der 3. noch
kleiner geworden ist. Darnach läßt sich bemessen, was es heißt, wenn die vom
Ministerium entworfene Thronrede, mit welcher der Landtag am 5. Juli 1893
geschlossen wurde, sagte:
„Der in Folge der Steuerreform eintretenden Verschiebung in der Ab-
stufung des Wahlrechts trägt das Gesetz über die Abänderung des Wahl-
verfahrens Rechnung;“
und
„daß diese von dem Streben nach ausgleichender Gerechtigkeit geleiteten
Reformen meinem Volke zum dauernden Segen gereichen werden.“
War im Jahre 1849 die Gesammtzahl der Urwähler 3255703, so betrug
sie bei den Wahlen von 1898: 5989538Nr. 10 der Statistischen Correspondenz, XX. Jahrgang des Königl.
Statist. Bureaus.
Dieses Mehr von 2733835 Urwählern ist einestheils durch die steigende
Bevölkerung, anderntheils durch die Annexionen veranlaßt. Es ist nun interessant
zu sehen, wie sich vom Jahre 1849 an bei den verschiedenen Wahlen, die Wähler-
zahl prozentual auf die drei Wählerklassen vertheil en. Darnach hatten:
| | 1849 | 1855 | 1858 | 1861 | 1863 | 1866 | 1867 | 1888 | 1893 | |
1. | Klasse: | 4,72 | 5,02 | 4,80 | 4,73 | 4,46 | 4,20 | 4,28 | 3,62 | 3,52 | pCt. |
2. | 〃 | 12,59 | 13,86 | 13,42 | 13,49 | 12,78 | 12,34 | 12,18 | 10,82 | 12,06 | 〃 |
3. | 〃 | 82,69 | 81,09 | 81,78 | 81,77 | 82,76 | 83,54 | 83,54 | 85,56 | 84,42 | 〃 |
Der Vergleich ergiebt, daß die Zahl der Wähler 1. Klasse in diesem Zeit-
raum von 4,72 pCt. in 1849 auf 3,52 pCt. in 1893, die Wähler 2. Klasse von
12,59 pCt. in 1849 auf 12,06 in 1893 sanken, daß dagegen die Wählerschaft
der 3. Klasse von 82,69 pCt. in 1849 auf 84,42 pCt. in 1893 wuchs.
Die angegebenen Zahlen repräsentiren das Ergebnis, des Durchschnittes
in der Monarchie. Die Wählerschaft ist aber in jedem Wahlbezirk eine
andere; je nachdem die Einkommensverhältnisse der einzelnen Wahlkreise be-
schaffen sind, je nachdem ein Wahlkreis ein ländlicher oder ein industrieller oder
städtischer sc. ist, je nachdem er eine dünne, mittlere oder dichte Bevölkerung hat,
ändert sich die Eintheilung. Ein Wähler 1. oder 2. Klasse in einem Wahlkreis
hat keineswegs die Sicherheit, ein Wähler 1. oder 2. Klasse in einem Nachbar-
kreise oder in einem beliebigen anderen Wahlkreise zu sein. Wer in dem Wahl-
kreis A Wähler 1. Klasse ist, kann im Wahlkreis B, C u. s. w. Wähler 3. Klasse
sein. Und ein Wähler 3. Klasse im Wahlkreise E kann Wähler 1. Klasse sein,
wenn er im Wahlkreise F wohnt.
Das System des Dreiklassen-Wahlsystems ist, kein System zu sein. Der
Zufall entscheidet.
Die Willkürlichkeiten und Zufälligkeiten des Systems sind aber noch gesteigert
worden, nachdem seit 1890 durch die Gesetzgebung angeordnet wurde, daß die Be-
rechnung der einzelnen Steuerklassen nicht mehr nach dem Steuerbetrag des ganzen
Wahlkreises, sondern nach dem der einzelnen Urwahlbezirke, von denen der
einzelne mindestens 750 und höchstens 1749 Seelen umfassen darf, vorgenommen werden.
Hatte früher z. B. ein Wahlkreis einen direkten Staatssteuerbetrag von
300000 Mk. aufzubringen, so entfielen auf jede der drei Klassen 100000 Mk.
Steuern. Besaß die 1. Klasse 30 Wähler, die 2. Klasse 85 und die 3. Klasse
750 Wähler, so war sicher, daß die 30 reichsten Leute die 1. Wählerklasse, die
85 Nächstreichen die 2. Klasse und die 750 Minderwohlhabenden oder Nichts-
besitzenden des Wahlkreises die 3. Wählerklasse bildeten. Darin lag noch ein ge-
wisses System für den einzelnen Wahlkreis. Durch die Drittelung der Steuer in
den Urwahlbezirken werden aber die größten Absurditäten herbeigeführt, sogar
innerhalb des einzelnen Wahlkreises. Hing nach der früheren Eintheilung für
einen großen Theil der Wähler die Wählerklasse von dem Wahlkreis ab, dem
sie angehörten, so hängt sie jetzt ab von dem Urwahlbezirk, in dem sie wohnen,
d. h. es kommt darauf an, in welchem Ort, in welcher Straße eines bestimmten
Ortes, ja in welcher Hausnummer einer bestimmten Straße sie wohnen. End-
lich hängt bei dem ganzen System für den Einzelnen auch oft von dem Buch-
staben des Alphabets ab, mit dem sein Name beginnt, ob er in die 1. oder 2.,
in die 2. oder 3. Klasse kommt.
Hätte man eine Prämie darauf gesetzt, ein Wahlsystem zu erfinden, das
durch seine Komplizirtheit wie durch seine Widersprüche und Systemlosigkeit sich
auszeichnete und geeignet sei, zum öffentlichen Spotte zu werden, der preußi-
schen Regierung und den preußischen Kammern gebührte der Preis.
Wie die plutokratische Wirkung des Wahlsystems bewirkte, daß die Zahl
der Wähler 1. Klasse stetig sank, die der 3. stetig wuchs, mögen weiter einige
Angaben aus einzelnen Städten und Orten beweisen:
Berlin hatte Wahlberechtigte in der
| 1. Abtheilung | 2. Abtheilung | 3. Abtheilung |
1849 | 2350 = 3,1 pCt. | 7232 = 9,4 pCt. | 67375 = 87,5 pCt. |
1893 | 5930 = 1,7 〃 | 28233 = 8,2 〃 | 347782 = 90,1 〃 |
2*
Jm Jahre 1849 hatten also 3,1 Wähler der 1. Klasse genau soviel Stimm-
recht wie 87,5 der 3., im Jahre 1893 hatten aber bereits 1,7 Wähler der 1. Klasse
so viel Stimmrecht wie 90,1 der 3. Und nach den vom 1. April 1895 in Kraft
tretenden Bestimmungen wird die Kapitalmacht noch ausschlaggebender sein. Und
das heißt man in Preußen „ausgleichende Gerechtigkeit“.
Jn Berlin gab es Landtags-Wähler
| 1888 | 1893 |
im 1. Wahlkreis: | | |
in der 1. Klasse | 2150 | 1453 − 697 |
〃〃 2. 〃 | 6756 | 4972 − 1784 |
〃 〃3. 〃 | 55172 | 61647 + 6475 |
im 2. Wahlkreis: | | |
in der 1. Klasse | 883 | 1323 + 440 |
〃 〃 2. 〃 | 4780 | 5900 + 1120 |
〃 〃 3. 〃 | 65126 | 74052 + 8926 |
im 3. Wahlkreis: | | |
in der 1. Klasse | 1537 | 2007 + 470 |
〃 〃 2. 〃 | 7713 | 11561 + 3848 |
〃 〃 3. 〃 | 86124 | 112787 + 26663 |
im 4. Wahlkreis: | | |
in der 1. Klasse | 921 | 1146 + 225 |
〃 〃 2. 〃 | 4535 | 5799 + 1264 |
〃 〃 3. 〃 | 57621 | 64800 + 7179. |
Aehnliche Verschiebungen der Wähler in den einzelnen Klassen wie in
Berlin haben sich auch in anderen Städten herausgestellt, aber die Nachweise hier-
für, soweit sie uns vorliegen, erstrecken sich nur auf die letzten Jahre, sie sind
dafür aber um so charakteristischer.
Jn Crefeld betrug die Gesammtzahl der Wahlberechtigten:
18916141
18938090.
Aber in diesem Zeitraum war die Zahl der Wähler der 1. Klasse von
372 auf 143, die Wähler der 2. Klasse von 1277 auf 782 gesunken, dagegen
war die Zahl der Wähler der 3. Klasse von 4761 auf 7165 gestiegen. Es geht
doch nichts über die „ausgleichende Gerechtigkeit“.
Jn Aachen waren wahlberechtigt:
18916878 Personen,
18939747 〃
Davon wählten in der
| 1. Klasse | 2. Klasse | 3. Klasse |
1891 | 311 | 1208 | 5359 |
1893 | 124 | 738 | 8885 |
| − 187 | − 470 | + 3526 |
Jn Bonn wählten in der
| 1. Klasse | 2. Klasse | 3. Klasse |
1891 | 190 | 591 | 3363 |
1893 | 77 | 385 | 3927 |
| − 113 | − 206 | + 464 |
Jn Dortmund wählten in der
| 1. Klasse | 2. Klasse | 3. Klasse |
1891 | 250 | 1541 | 13401 |
1893 | 20 | 660 | 16000 |
| − 230 | − 781 | + 2599 |
Jn einer Reihe anderer rheinischer Städte stellte sich die Wählerzahl in den
verschiedenen Klassen also. Es hatten:
| 1891 | 1893 |
| 1. Klasse | 2. Klasse | 3. Klasse | 1. Klasse | 2. Klasse | 3. Klasse |
Köln | 636 | 3233 | 14897 | 370 | 2584 | 22323 |
Düsseldorf | 386 | 1356 | 6089 | 149 | 1100 | 9400 |
Elberfeld | 270 | 1314 | 5784 | 152 | 907 | 10098 |
Barmen | 302 | 1049 | 4921 | 185 | 1093 | 8635 |
Mülheim a. Rh. | 81 | 271 | 1039 | 4 | 143 | 3147 |
Reuß | 68 | 280 | 1109 | 34 | 233 | 1393 |
Düren | 14 | 202 | 1866 | 9 | 74 | 2242 |
Eupen | 38 | 167 | 767 | 18 | 121 | 850 |
Dülken | 33 | 116 | 475 | 20 | 102 | 539 |
Uerdingen | 15 | 75 | 520 | 9 | 40 | 702 |
Jn Frankfurt a. M. verminderte sich in Folge des Gesetzes von 1893 die
Zahl der Wähler 1. Klasse von 870 auf 794, die der 2. Klasse von 2990 auf
2640. Jn Essen kommen auf einen Wähler 1. Klasse 187 Wähler der 2. und
5127 Wähler der 3. Klasse.
Bei den Kommunalwahlen, für welche dasselbe Wahlgesetz gilt, nur mit
dem Unterschied, daß jede Wählerklasse ein Drittel der Gemeindevertreter und direkt
wählt, tritt die Ungeheuerlichkeit des Dreiklassenwahlsystems nach augenfälliger in
die Erscheinung. So ernennen die beiden Wähler der 1. Klasse in Essen ein
Drittel der Stadtverordneten, in Bochum haben dasselbe Recht fünf Wähler der
ersten Klasse, in Berlin wählt 1/25 der Wähler ein Drittel der Stadtverordneten (40).
Die Steigerung der Macht der Plutokratie liegt für den Einfältigsten offen
vor. Und da spricht man von „ausgleichender Gerechtigkeit“.
Jn Neustadt in Oberschlesien stehen im Verzeichniß der Kommunalwähler
der 1. Abtheilung: Abraham Fränkel, Herm. Fränkel, Emanuel Fränkel; in der
2. Abtheil 4 Personen: Joseph Pinkus, Albert Fränkel, Max Pinkus und August
Schneider. Die sechs zuerst genannten Personen sind die Jnhaber der
Firma E. Fränkel. Jn der 3. Abtheilung wählen 1231 Mitglieder 12 Stadt-
verordnete. Die Firma Fränkel wählt deren 24. Man braucht solche Thatsachen
nur anzuführen, um das Hohngelächter der ganzen Welt hervorzurufen.
Eine sehr erheiternde Wirkung üben die Vergleiche aus, die zeigen, wie
sowohl zwischen den einzelnen Wahlkreisen, wie innerhalb der Wahlkreise in den
Urwahlbezirken die Zumessung des Stimmrechts nach der Steuerdrittelung zu den
unglaublichsten Absurditäten führt. Hier geht System, Vernunft, Gerechtigkeit
vollkommen in die Brüche. Da kann man sich nicht einmal mehr entrüsten, man
kann nur noch aus Verachtung über solche Zustände lachen.
Man höre, staune und erheitere sich.
Jm 1. Berliner Wahlkreis schloß bei der Landtagswahl im Jahre 1893
die 1. Wählerklasse ab:
| im | 59. | Urwahlbezirk | mit | dem | Steuersatz | von | 73750 | Mk. |
| 〃 | 57. | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 47912 | 〃 |
| 〃 | 58. | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 33518 | 〃 |
| 〃 | 216. | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 159 | 〃 |
| 〃 | 212. | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 118 | 〃 |
und | 〃 | 156. | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 116 | 〃 |
Jn demselben Wahlkreis schloß die 2. Wählerklasse ab:
| im | 58. | Urwahlbezirk | mit | dem | Steuersatz | von | 10546 | Mk. |
| 〃 | 98. | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 7400 | 〃 |
| 〃 | 42. | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 3704 | 〃 |
| 〃 | 218. u. 236. | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 26 | 〃 |
und | 〃 | 204. | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 9 | 〃 |
Jm 2. Berliner Landtags-Wahlkreis schloß die 1. Wählerklasse ab:
im | 486. | Urwahlbezirk | mit | dem | Steuersatz | von | 40819 | Mk. |
〃 | 489. | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 30758 | 〃 |
〃 | 424. | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 6561 | 〃 |
〃 | 324. | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 44 | 〃 |
〃 | 385. | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 20 | 〃 |
Jn demselben Wahlkreis schloß die 2. Wählerklasse ab:
im | 486. | Urwahlbezirk | mit | dem | Steuersatz | von | 1470 | Mk. |
〃 | 376. | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 686 | 〃 |
in | den | Urwahlbezirken | 324, 340, 359, 365 u. 367 | 9 | 〃 |
〃 | 〃 | 〃 | 370 und 385 | 6 | 〃 |
Jm 3. Berliner Landtags-Wahlkreis schloß die 1. Wählerklasse ab:
im | 743. | Urwahlbezirk | mit | dem | Steuersatz | von | 31948 | Mk. |
〃 | 734. | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 26907 | 〃 |
〃 | 772. | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 20506 | 〃 |
〃 | 838. u. 909. | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 26 | 〃 |
〃 | 860. | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 12 | 〃 |
Jn demselben Wahlkreis schloß die 2. Wählerklasse ab:
im | 980. | Urwahlbezirk | mit | dem | Steuersatz | von | 3256 | Mk. |
〃 | 953. | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 870 | 〃 |
in den Urwahlbezirken 860, 909, 1042, 1052,
1068, 1069 und 1071 | 6 | 〃 |
Jm 4. Berliner Landtags-Wahlkreis schloß die 1. Wählerklasse ab:
im | 566. | Urwahlbezirk | mit | dem | Steuersatz | von | 26517 | Mk. |
〃 | 564. | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 16484 | 〃 |
〃 | 695. | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 27 | 〃 |
〃 | 508 u. 602. | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 26 | 〃 |
Jn demselben Wahlkreis schloß die 2. Wählerklasse ab:
im | 564. | Urwahlbezirk | mit | dem | Steuersatz | von | 13884 | Mk. |
〃 | 686. | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 2829 | 〃 |
〃 | 684. | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 876 | 〃 |
in den Urwahlbezirken 598, 577, 602 u. 695 | 6 | 〃 |
Solche Verrücktheiten in der Vertheilung des Wahlrechts zeigte Berlin
Aehnliches bietet fast jeder Wahlkreis der Monarchie. Jn Halle ist z. B. der
höchste Steuersatz in der zweiten Wählerklasse im 5. Urwahlbezirk 17985 Mk.,
im 31. Urwahlbezirk nur 9 Mk. Der höchste Steuersatz für die 3. Wählerklasse
ist im 37. Urwahlbezirk 774 Mk., im 31. Urwahlbezirk nur 6 Mk.
Jn Bochum ist der höchste Steuersatz für die erste Wählerklasse im
21. Urwahlbezirk 9057 Mk., im 8. Urwahlbezirk 131 Mk. Jn der zweiten
Wählerklasse ist der höchste Steuersatz im 21. Urwahlbezirk 1155 Mk., im
8. Urwahlbezirk 21 Mk. Jn der dritten Wählerklasse ist der höchste Steuersatz
346 Mk. im 31. Urwahlbezirk nur 6 Mk. u. s. w.
Die folgende Aufstellung zeigt, wie diese unglaublichen Widersprüche in der
ganzen Monarchie zum Ausdruck kommen.
Die Grenzen der Steuerleistung in den drei Abtheilungen ergaben folgende
Resultate: a) in der ersten Abtheilung: |
Mk. | Mk. | Mk. | Mk. | Mk. | Mk. | Mk. | Mk. | Mk. |
5 | 5 | 20 | 30 | 100 | 300 | 1000 | 3000 | |
| bis | bis | bis | bis | bis | bis | bis | über |
| 20 | 30 | 100 | 300 | 1000 | 3000 | 30000 | 300000 |
in 1 | 9 | 30 | 2071 | 7037 | 9071 | 4293 | 1578 | 40 Urwahlbezirken. |
b) in der zweiten Abtheilung: |
Mk. | Mk. | Mk. | Mk. | Mk. | Mk. | Mk. |
5 | 30 | 100 | 300 | 1000 | 3000 | |
bis | bis | bis | bis | bis | bis | über |
30 | 100 | 300 | 1000 | 3000 | 30000 | 30000 |
in 2738 | 8344 | 8448 | 3722 | 719 | 157 | 2 Urwahlbezirken. |
c) in der dritten Abtheilung: |
Mk. | Mk. | Mk. | Mk. | Mk. | Mk. | Mk. | Mk. | Mk. | |
3 | 3 | 10 | 20 | 30 | 100 | 300 | 1000 | 3000 | |
bis | bis | bis | bis | bis | bis | bis | bis | bis | |
10 | 20 | 30 | 100 | 300 | 1000 | 3000 | 8484 | 10000 | |
in 273 | 3754 | 4303 | 3111 | 9433 | 2675 | 500 | 64 | 10 | 1 Urwahlbezirken. |
Ein weiterer Kommentar ist Angesichts dieser Zahlen überflüssig.
Man sagt zur Vertheidigung des Dreiklassenwahlsystems, daß es den Besitz
gegenüber der großen besitzlosen Klasse zur Geltung bringe. Das ist, wie die
kolossale Verschiedenheit der Steuersätze in jeder Wählerklasse darthut, eine grobe
Unwahrheit oder Täuschung. Wenn beispielsweise in Berlin in einem Wahlkreis
ein Wähler mit einem Steuersatz von 40819 Mk. und ein anderer mit einem
solchen von 20 Mk., je nach dem Urwahlbezirk, in dem er wohnt, in der ersten
Klasse wählt, so steht auf der einen Seite ein vielfacher Millionär einem kleinen
Geschäftsmann, kleinen Beamten oder gut bezahlten Arbeiter mit 1500-1800 Mk.
Einkommen gegenüber. Jn demselben Wahlkreis kommt aber ein anderer viel-
facher Millionär mit einem Steuersatz von 10546 Mk. und einem Arbeiter, der
nur 9 Mk. Steuern zahlt, in die zweite Wählerklasse. Aehnliche Beispiele sind
nicht vereinzelt, sie sind typisch.
Jn der Breitenstraße in Berlin, deren Häuser zu verschiedenen Urwahl-
bezirken gehören, ist man mit einem Steuerbetrag von 147 Mk. im Hause Nr. 7
in der dritten Wählerklasse, im Hause Nr. 8 in der zweiten. Jn dem dicht dabei
liegenden Köllnischen Fischmarkt kommt man aber mit diesem Steuersatz in die
1. Wählerklasse. Jn einem Theil der Scharrnstraße steht der Wähler mit 272 Mk.
Steuer in der 2. Klasse, wenn sein Name mit dem Buchstaben A oder B beginnt;
beginnt derselbe jedoch mit einem anderen Buchstaben, so kommt er in die 3. Wähler-
klasse. Wir fragen wieder: Wo bleibt da Prinzip, Vernunft, Gerechtigkeit?
Zeigen die angeführten Beispiele, daß selbst der Besitz unter dem Drei-
klassenwahlsystem mißhandelt wird, so geschieht das mit der „Bildung“ genau
ebenso. Aus Bonn wird berichtet, daß der Oberbürgermeister, der Landrath und
fast sämmtliche Professoren der Universität in der 3. Klasse wählen. Jn Berlin,
Cöln, Magdeburg, Halle, Aachen und den großen und mittleren Städten der
Monarchie wählt der größte Theil der höheren Staatsbeamten, der Professoren,
Richter, Aerzte, Juristen, höheren Lehrer, Schriftsteller in der 3. Wählerklasse,
wohingegen Börsenjobber, glückliche Grundstücksspekulanten und reich gewordene
Fleischer- und Bäckermeister, die den Dativ von dem Akkusativ nicht zu unter-
scheiden vermögen, oft in der 1. Klasse wählen.
Jn dem 58. Urwahlbezirk, den die Boßstraße in Berlin bildet, gab es
189 Wahlberechtigte. Jn dieser Straße wohnten der Reichskanzler, 3 Minister,
3 Geheimräthe und Räthe, 3 Rittergutsbesitzer und Majoratsherren, 12 Geheime
Kommerzienräthe ꝛc, neben einer Anzahl Bureau- und Kanzleibeamten, Köche, Kellner,
Heizer und Portiers der erwähnten Herren. Jn diesem Urwahlbezirk bildeten zwei
Vertreter des Großhandels und der Großindustrie die 1. Wählerklasse. Vier Ver-
treter des Großhandels und der Großindustrie und ein Rittergutsbesitzer bildeten
die 2. Wählerklasse. Alle übrigen Wähler, darunter der Reichskanzler, drei
Minister, eine Anzahl Geheimer Kommerzienräthe, Bankiers ꝛc.
bildeten mit ihren Kammerdienern, Lakaien, Köchen, Portiers,
Heizern ꝛc. die 3. Klasse.
Von den 10 preußischen Ministern gehörten der Reichskanzler, der Minister-
präsident Graf zu Eulenburg, der Vizepräsident Dr. v. Bötticher, der Justiz-
minister, der Eisenbahnminister und der Kultusminister in die 3. Wählerklasse,
der Finanzminister Dr. Miquel, der Handelsminister und der Landwirthschaftsminister
in die 2. Klasse. Der Kriegsminister besitzt als aktiver Soldat kein Wahlrecht. Von
den wahlberechtigten 9 Ministern wählte nicht einer in der 1. Klasse.
Alles was in Berlin zur „Jntelligenz“ sich zählt, gehört mit den Arbeitern in die
3.Klasse. Die höchsten Staatsbeamten, die ersten Gelehrten, die bekanntesten Schrift-
steller, die hervorragendsten Künstler sind fast ohne Ausnahme Wähler der 3. Klasse.
So spricht die Praxis des Wahlsystems den Grundsätzen, die es zur Geltung
bringen soll, vielfach Hohn und giebt das System und seine Vertheidiger der
Lächerlichkeit Preis.
Diese Unnatur des Wahlsystems, verbunden mit dem Zwang zur öffentlichen
Stimmabgabe hat auch veranlaßt, daß die Betheiligung bei den Wahlen von Wahl-
periode zu Wahlperiode gesunken ist. Und zwar im Gegensatz zum Reichstags-
Wahlsystem, bei dem die Betheiligung der Wähler sich im Laufe seiner Geltung
bedeutend gehoben hat. Leider liegt für die Betheiligung der Wähler an den
Landtagswahlen eine genaue Statistik nur bis zum Jahre 1866 vor, wohingegen
für die Reichstagswahlen eine solche bis zum Jahr 1893 vorhanden ist.
Jn ganz Preußen wählten von je 100 Urwählern:
1849 | 31,9 pCt. | 186127,2 pCt. |
1855 | 16,1 〃 | 1862 | 34,2 〃 |
1858 | 22,6〃 | 1863 | 30,9 〃 |
1866 | 31,5 pCt. |
Die stärkere Wahlbetheiligung von 1862 bis 1866 ist auf die Konflikts-
periode zurückzuführen. Seitdem ist die Wahlbetheiligung beständig gesunken. Das
ergiebt namentlich ein Blick auf die Berliner Landtagswahlen, die hierin typisch
sein dürfen. Jn Berlin wählten von je 100 Urwählern:
1849 | 45,8 pCt. | 1867 | 33,4 pCt. |
1855 | 38,8 〃 | 1873 | 25,3 〃 |
1858 | 43,3 〃 | 1876 | 22,4 〃 |
1861 | 42,2 〃 | 1879 | 22,9 〃 |
1862 | 62,8 〃 | 1882 | 33,8 〃 |
1863 | 61,8 〃 | 1885 | 26,2 〃 |
1866 | 53,1 〃 | 1888 | 25,1 〃 |
1893 | 14,5 pCt.Ein ganz anderes Bild zeigen uns die Reichstagswahlen, worüber uns
das „Statistische Jahrbuch für das Deutsche Reich“ belehrt. Das Resultat der
Wahlbeteiligung war in runden Summen:
Jahr | Wahlberechtigte | abgegebene
Stimmen | pCt. |
1871 | 7975800 | 4126700 | 51,8 |
1874 | 8523400 | 5190300 | 60,9 |
1877 | 8943000 | 5401000 | 60,4 |
1878 | 9128300 | 5760900 | 63,1 |
1881 | 9088800 | 5097800 | 56,1 |
1884 | 9383100 | 5663000 | 60,4 |
1887 | 9769800 | 7540900 | 77,2 |
1890 | 10145900 | 7228500 | 71,2 |
1893 | 10628300 | 7674000 | 72,2 |
Ein Vergleich mit der Betheiligung an den preußischen Landtagswahlen
belehrt uns, daß bei den Reichstagswahlen von „Wahlmüdigkeit“, die man dem
Volke andichtet, keine Spur ist. Die Wahlbetheiligung bei den Reichstagswahlen
wird in demselben Maße lebhafter, wie die Massen ihre Bedeutung begreifen.
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Diese Statistik bestätigt ebenfalls, daß die Wahlbetheiligung an den Landtags-
wahlen während der Konfliktsperiode am stärksten war. Seitdem ist sie sehr
erheblich gesunken. Kaum ein Siebentel der Wähler haben sich 1893 an der
Wahl betheiligt. Charakteristisch ist ferner, daß sowohl in Berlin wie im ganzen
Lande die Betheiligung der dritten Wählerklasse die schwächste war, sie sank
z. B. in Berlin von 61,1 im Jahre 1862 auf 11,5 im Jahre 1893. Aber die
Wahlbetheiligung war in Berlin selbst in der ersten Wählerklasse in einer Reihe
Urwahlbezirken gleich 0. So erschien in 34 Urwahlbezirken kein Wähler erster
Klasse, in 166 Urwahlbezirken betheiligten sich nur je einer, und in 254 Urwahl-
bezirken nur je zwei Wähler. Jn Urwahlbezirken dieser Kategorie sinkt die Wahl
zur bloßen Ernennung herab. Gab es doch in Berlin 34 Urwahlbezirke, in welchen
die erste Klasse überhaupt nur aus einem Wähler bestand, in 97 Bezirken bestand
sie aus zwei. Waren diese beiden Wähler verschiedener Ansicht über die von
ihnen zu ernennenden Wahlmänner, so blieb nichts übrig, als die Namen der
Kandidaten auszuknobeln. Jn Magdeburg gab es 12 Urwahlbezirke mit je
einem Wähler erster Klasse und in 11 dieser Bezirke ernannte der Wähler zwei
Wahlmänner. Kann ein Gesetz lächerlicher gemacht werden, als es hier durch seine
eigenen Wirkungen wird?
Die Wahlbetheiligung bei den Dreiklassenwahlen wäre weit schwächer, müßten
nicht viele abhängige Wähler, insbesondere Beamte, ihre Stimme abgeben, weil
ihr Fernbleiben sonst übel vermerkt würde.
Welches Gewicht von den höheren Behörden auf die Wahlbetheiligung
ihrer Untergebenen bei dem Dreiklassen-Wahlsystem gelegt wird, zeigt ein Erlaß des
Eisenbahnministers vom 14. Februar 1894, der lautet:
Ministerium der öffentlichen Arbeiten.
Berlin, den 13. Februar 1894.
Die durch den Erlaß vom 19. v. M. – P. IV (I) 10398 – ertheilte
Ermächtigung, den bei der Eisenbahn beschäftigten Arbeitern für die durch Aus-
übung ihres Wahlrechts versäumte Arbeitszeit auch bei künftigen Wahlen eine
Lohnvergütung zu gewähren, soll sich, wie ich der Königlichen Eisenbahn-Direktion
auf den Bericht vom 3. d. M. – I A. 762 – erwidere, nur auf die Landtags-
wahlen beziehen. Für die Reichstagswahlen besteht zum Erlaß einer ent-
sprechenden allgemeinen Anordnung kein Bedürfniß.
Der Minister der öffentlichen Arbeiten.
Der Schlußsatz des Erlasses spricht Bände. „Für die Reichstagswahlen
besteht zum Erlaß einer entsprechenden allgemeinen Anordnung kein Bedürfniß“,
offenbar nur, weil die Reichstagswahlen mit geheimer Abstimmung vorgenommen
werden, die Landtagswahlen aber mit öffentlicher Stimmabgabe. Und für die
Wirkung der öffentlichen Stimmabgabe auf die Beamten haben die letzten Landtags-
wahlen, unter anderem in Berlin und Frankfurt a. M., seltsame Resultate ergeben.
Jn denselben Bezirken, in welchen bei der Reichstagswahl so viele sozialdemokratische
Stimmen abgegeben wurden, daß jeder Zweifel darüber ausgeschlossen war, daß
auch zahlreiche Beamte sozialdemokratisch gestimmt hatten, wurden bei der Land-
tagswahl nur Stimmen für konservative oder antisemitische Wahlmänner
abgegeben.
Die öffentliche Stimmabgabe wirkt einschüchternd, abschreckend und demora-
lisirend. Die große Zahl der Wähler, die sich wirthschaftlich und sozial in
Abhängigkeit befindet, wird entweder auf die Wahlbetheiligung verzichten, oder
wer gezwungen ist, wegen seiner Abhängigkeit dennoch seine Stimme abgeben
zu müssen, wird wider seine bessere Ueberzeugung stimmen, um nicht
geschädigt zu werden. So traten z. B. bei den Landtagswahlen die niederen
Beamten fast Mann für Mann zur Wahlurne an. Sollte das aus Eifer und
Jnteresse am preußischen Abgeordnetenhaus, in dem so wenig ihre Jnteressen grade
durch Diejenigen vertreten werden, welchen sie öffentlich ihre Stimme geben,
geschehen sein?
Daß die öffentliche Stimmabgabe einschüchtert und demoralisirt, ist eine so
offenkundige Thatsache, daß sie Niemandem, der im praktischen Leben steht, ent-
gehen kann. Dennoch wurde bei der Wahldebatte im preußischen Abgeordneten-
hause im Jahr 1893 die öffentliche Stimmabgabe als allein „moralisch“ ver-
theidigt, wohingegen die geheime Abstimmung die politische Heuchelei (!)
begünstigen sollte.
Diese wunderbare, unglaublich klingende Behauptung stellte der konservative
Abg. v. Tiedemann-Labischin auf, indem er auf die Thatsache hinwies, daß
Eisenbahnbeamte bei der Reichstagswahl sozialdemokratisch, bei der Landtagswahl
konservativ gewählt hätten. Natürlich fiel es dem freisinnigen Abg. Parisius leicht,
dem konservativen Herrn nachzuweisen, daß er an einer Begriffsverwirrung leide
und gerade die öffentliche Stimmabgabe zur politischen Heuchelei führe. Der
Abg. Rickert wies nach, daß der frühere Minister Graf zu Eulenburg im Jahre
1876 in seinen Städteordnungs-Entwurf die geheime Abstimmung aufgenommen
hatte und mit den Worten motivirte: „Der Entwurf folgt in diesem Punkte dem
System des Reichstags-Wahlrechts vom 31. Mai 1869. Das diesem System zu
Grunde liegende Motiv, die Wähler vor illegitimen Beeinflussungen und vor der
nothwendigen Rücksichtnahme auf Personen und äußere Verhältnisse zu bewahren,
trifft in verstärktem Verhältnis bei kommunalen Wahlen zu.“ Ferner erinnerte der
Abg. Rickert an Friedrich Wilhelm III., der in der rheinisch-westfälischen Kirchen-
ordnung von 1837 die geheime Abstimmung vorschrieb und diese mit den Worten
begründete: „Bei dieser geheimen Abstimmung kann keine Jnfluenzirung auf die
Wähler eintreten, die Wahlen werden vielmehr der wahre Ausdruck der Herzens-
meinung der Wähler sein.“ Nichtsdestoweniger wurde die öffentliche Abstimmung
im preußischen Wahlgesetz auch nach der Wahlreform von 1893 aufrecht erhalten.
Die Parteien im preußischen Landtag und die
„Wahlreform“.
Der Absatz 2 des Artikels 72 der preußischen Verfassung besagt:
„Das Nähere über die Ausführung der Wahlen bestimmt das Wahlgesetz,
welches auch die Anordnung für diejenigen Städte zu treffen hat, in denen an
Stelle eines Theils der direkten Steuern die Mahl- und Schlachtsteuer erhoben wird.“
Dieses durch den Artikel 72 angekündigte „Wahlgesetz“ existirt bis heute nicht,
sondern es besteht nach wie vor die oktroyirte Wahlrechtsverordnung vom 30. März
1849, die man im Laufe der Jahrzehnte in einigen Punkten durch Gesetz ab-
ändern mußte, bis eine größere Abänderung im Laufe des Jahres 1893 vor-
genommen wurde, auf die bereits in dieser Abhandlung des Oefteren Bezug ge-
nommen worden ist. Streng genommen besteht weder die Wahlordnung von 1849,
noch die Verfassung, noch die Landesvertretung, Herrenhaus und Abgeordneten-
haus, zu Recht und sind von diesem Standpunkte aus alle Handlungen der letzteren
rechtsungiltig.
Aber, wie schon erwähnt, es denkt heute fast Niemand mehr an diese Rechts-
ungiltigkeit und Niemand stützt sich auf dieselbe, indem er die Handlungen der
Landesvertretung als rechtsungiltig verwirft.
Umsomehr war es Pflicht eines wirklichen Landesvertreters, als durch die
einschneidenden Steuerreformen der letzten Jahre die Grundlagen des Dreiklassen-
wahlsystems noch mehr zu Gunsten des Kapitalismus verschoben wurden, als dies
durch die kapitalistische Entwicklung der Gesellschaft in den mehr als vier Jahr-
zehnten seit Erlaß der Wahlverordnung schon geschehen war, auf ein neues
Wahlgesetz zu dringen. Der einzige Abgeordnete, der dies mit Nachdruck
that, war der frühere Minister des Jnnern, der Abgeordnete Herrfurth.
Jn der 5. Sitzung des Abgeordnetenhauses, am 21. November 1892, äußerte
Herrfurth, nachdem er ausgeführt, daß die Wahlreform für die Wahlen zum
Landtag und für die kommunalen Vertretungen erlassen werden müsse, damit ver-
hindert werde, daß der plutokratische beziehentlich agrarische Charakter der Steuer-
reform im Wahlrecht zum Ausdruck komme:
„Hier soll die Formel „Veranlagung gleich Entrichtung“ (es handelte sich
um die Anrechnung der staatlich veranlagten aber nicht gezahlten Grund-,
Gebäude- und Gewerbesteuern in den Fällen, wo direkte Gemeindesteuern nicht
entrichtet würden) Anwendung finden. Hier soll den Grund- und Gebäudebesitzern
und Gewerbetreibenden nicht blos ihre Einkommensteuer – ich spreche vom Rechts-
zustand in dem größten Theile der Monarchie, wo bei den Kommunalwahlen auch
die Kommunalsteuern in Anrechnung kommtJn der Rheinprovinz und Westfalen besteht die Selbstherrlichkeit der
selbständigen Gutsbezirke seit der Franzosenzeit nicht mehr. – nicht blos die erhöhten Kommunal-
steuern, nicht blos die neue Vermögenssteuer in Ansatz gebracht werden, sondern
auch noch die fingirte bisherige Grund- und Gebäudesteuer.
„Meine Herren! Das heißt meines Erachtens die ganze Grundlage, auf
der unser Dreiklassenwahlsystem beruht, zerstören. Das Dreiklassen-
wahlsystem geht davon aus, daß der Umfang der politischen Rechte in einem gewissen
Grade bestimmt werden soll durch die Höhe der thatsächlichen Steuerleistungen
für öffentliche Zwecke. Damit würde es aber doch im direkten Widerspruch stehen,
wenn sich der Umfang des Wahlrechts nicht nach der Steuer, die Jemand entrichtet,
sondern nach den Steuern, die ihm erlassen werden, bemessen soll.“
Und Herrfurth schließt:
„Lieber eine Verzögerung um ein oder zwei Jahre, als eine Reform, welche
zwar nicht die Absicht (!), nach meinem Dafürhalten aber die Wirkung haben
würde, die Jnteressen der Gemeinden und kommunalen Verbände und die politischen
Rechte der minder wohlhabenden Klassen den Jnteressen einzelner Klassen von
Besitzenden hintanzustellen, eine Reform, welche trotz der besten Absicht (!) Gefahr
laufen würde, sich zu gestalten zu einer reformatio in pejus.“Reform zum Schlechteren, d.h. zu Gunsten des Geldsacks. – Die Sperrung
der Sätze und die (!) rühren von uns her. Der Verfasser.
Hervorgehoben muß werden, daß Herrfurth ein Anhänger des Dreiklassen-
wahlsystems ist, aber die Reform im plutokratisch-agrarischen Sinne ging ihm
wider den Strich. Daher warnte er auch in der Sitzung vom 13. Januar 1893,
nachdem er hervorgehoben hatte, daß schon im Jahre 1888 mehr als
4000 Urwahlbezirke vorhanden gewesen waren, in welchen die Wahl-
männer von 1 und 2 Wählern ernannt wurden, der plutokratische Charakter
der Wahlrechts also schon damals ein sehr bedenklicher gewesen ist:
„Wir dürfen uns nicht verhehlen, die bloße Existenz des Reichstagswahl-
rechts ist eine schwere und dauernde Gefahr für das Dreiklassenwahlsystem.“
Aber seine Warnungen und Rathschläge verhallten. Die Majorität war
entschlossen, unter allen Umständen ein Gesetz zu Stande zu bringen, das den
reichen Klassen die Macht sicherte. Zwar stellte die freisinnige Fraktion unter
Führung Rickert's den Antrag, das Reichstagswahlgesetz auch für die Landtags-
wahlen einzuführen, aber dieser Antrag würde so lau und lahm und in so ele-
gischer Stimmung durch den Antragsteller vertheidigt, daß alle Welt sah, der
Antrag wurde nur anstandshalber gestellt. Das rückte namentlich der freikonser-
vative Abgeordnete Ahrendt den Freisinnigen vor. Die Antragsteller ließen es auch zu,
daß ihr Antrag so rasch als möglich todtgeschlagen wurde, indem sie einwilligten,
daß der Antrag, der ein Gesetzentwurf war, als Amendement zur Regierungs-
vorlage behandelt wurde – „um Zeit zu ersparen“ – wodurch er mit einer
Abstimmung abgethan war. Auch die sonstige Haltung der Freisinnigen in den
Kommissions- und Plenarverhandlungen war eine sehr lahme. Sie betheiligten
sich mit einem Ernst an der Amendirung der Regierungsvorlage, der zeigte, sie
würden herzlich gerne für eine solche „Reform“ gestimmt haben, wäre ihnen dieses
einigermaßen möglich gemacht worden. Jm höchsten Grade traurig benahm sich
das Zentrum in der Sitzung vom 13. Januar 1893. Sein Vertreter, der Ab-
geordnete Bachem, begnügte sich, dem allgemeinen gleichen und direkten Wahlrecht
einige platonische Komplimente zu machen. Er wolle auf diese Frage jetzt nicht
eingehen, eine Diskussion darüber habe nur akademischen Werth. Da-
gegen legte er sich um so eifriger in's Zeug, um die 2000 Mk. Grenze bei der Ein-
kommensteuer, über die hinaus diese Steuer für das Wahlrecht nicht in Anrech-
nung kommen sollte, durchzusetzen.
„Jn meiner Vaterstadt Köln, rief er, wählen Landgerichtsräthe, Oberlandes-
gerichtsräthe und Landgerichtsdirektoren in der 3. Klasse. Wir haben hier in
Berlin die Thatsache, daß die meisten Minister in der 3. Klasse wählen. Absolut
unhaltbare Zustände. Es wird unser Bestreben sein müssen, diese Ele-
mente für die 2. Klasse zu retten (das war also der Zweck und Kernpunkt
der Reform des Zentrums. D. Verf.); dieselben gehören in die 2. Klasse
hinein! (Große Heiterkeit.)
„Meine Herren, ich hätte sagen können: sie gehören mindestens in die
2. Klasse hinein! (Heiterkeit.)
Welche Volksfreundlichkeit, welcher Radikalismus!
Jn der Sitzung vom 13. März 1893 erklärte Herr Bachem weiter, daß die
Vorlage, wie sie aus der Kommission vorliege, ein Kompromiß sei, an dem das
Zentrum festhalte. Dieses Kompromiß bestand, wie wir hier wiederholen wollen,
darin, 1. daß die Berechnung der direkten Steuern nach Zwölfteln – wie die
Regierungsvorlage vorschlug – statt nach Dritteln für die einzelnen Wählerklassen
vorgenommen werde, 2. daß die Einkommensteuer nur bis zum Satz von
2000 Mk. in Anrechnung komme, dagegen 3. die nicht entrichtete Grund-, Gebäude-
und Gewerbesteuer in Orten, in welchen direkte Gemeindesteuern nicht erhoben
würden, in Anrechnung gebracht werden sollten, und 4. die Bindung der Drei-
markmänner in die 3. Wählerklasse stattfinde. Wie die Berechnung der Steuer
nach dem Vorschlag der Regierung, 5/12 des Gesammtsteuerbetrages für die 1. Klasse,
4/12 für die 2. Klasse und 3/12 für die 3. Klasse anzurechnen, in der Praxis gewirkt
haben würde, wenn sie Gesetz geworden wäre, ergiebt die Probeberechnung, welche
die Regierung hatte aufmachen lassen und die wir weiter oben mittheilten.
Betreffs des freisinnigen Antrages Rickert und Genossen erklärte Bachem,
daß das Zentrum zwar für den Antrag stimmen, aber nicht für denselben sprechen
werde. Man bereitete ihm ein stilles Begräbniß. Jn Konsequenz dieser Haltung
vertheidigte er dagegen in der Sitzung vom 16. März 1893 die Kommissions-
vorlage mit einem wahren Feuereifer gegen die Angriffe der Freisinnigen und des
nationalliberalen v. Eynern, der namentlich die 2000 Mk. Grenze angriff.
Ein Antrag auf geheime Abstimmung hatte der Zentrumsabgeordnete
Dasbach gestellt, er vertheidigte denselben aber äußerst matt. Als dann dieser
Antrag in der Kommission gefallen war, ereiferte sich das Zentrum im Plenum
nicht mehr für denselben. Einen ganz anderen Ton schlug aber Bachem gegen
die Vorlage an, als das Herrenhaus die beiden dem Zentrum am Herzen liegen-
den Beschlüsse, die Zwölftelung und die 2000 Mk. Grenze, verworfen hatte. Das
war in der Sitzung vom 27. Juni 1893. Jetzt donnerte er:
„Das Wahlgesetz, wie es gegenwärtig in der Form des Herrenhauses vor-
liegt, ist in unseren Augen geradezu eine Vergewaltigung der Mittelstände
(sehr wahr! im Zentrum, Widerspruch rechts) und eine derartige Benachteiligung
des Wahlrechts der unteren Stände (das war die Vorlage auch in der Fassung,
in welcher das Zentrum ihr zustimmen wollte. D. Verf.), daß wir an dieser
Politik nicht betheiligt sein wollen.“ (Sehr richtig!)
Die Freundschaft zwischen Konservativen und Zentrum war damit wieder
einmal aus. Man regalirte sich gegenseitig mit den schönsten Vorwürfen. Um-
gekehrt waren die Nationalliberalen von der nunmehrigen Gestalt der Vorlage
durch das Herrenhaus befriedigt und gaben derselben ihre Zustimmung, nachdem
sie früher gegen dieselbe gestimmt hatten. Der Abgeordnete Gneist, dem der ver-
storbene Kriegsminister v. Roon bereits 1868 im Norddeutschen Reichstag ins
Gesicht sagte: „er sei der Mann, der Alles beweisen könnte“, hatte schon in der
Sitzung vom 13. Januar 1893 eine Rede gehalten, die ein wahrer Panegyrikus
auf das Dreiklassenwahlsystem war und an der Vorlage gerühmt: „Das Beste an
derselben sei ihm der Grundgedanke, wir wollen Alles beim Alten lassen.“
Recht offenherzig sprach sich auch der Konservative von Heydebrand und
der Lasa aus, welcher gegen den freisinnigen Antrag ausführte:
„Das gegenwärtige schlechte Wahlsystem ist mir viel lieber, tausendmal
lieber als das, was der Abgeordnete Rickert will.Sitzung vom 13. Januar 1893.
Und bei einer späteren Gelegenheit äußerte er: „Wir wissen, daß der Tag
einmal kommen kann – und wir erleben ihn vielleicht noch –, wo wir in diesem
festen und gesunden Einfluß des Mittelstandes, in dieser soliden Basis einen Damm
haben gegen die umstürzlerischen Massen der im deutschen Reich durch
das allgemeine Wahlrecht entfesselten Gewalt des vierten Standes.Sitzung vom 13. März 1893.
Damit aber dem Ganzen die Krone und der Segen nicht fehle, äußerte sich
auch der Ministerpräsident Graf zu Eulenburg. Er konstatirte wiederholt mit
Genugthuung, daß die sehr große Mehrheit des Hauses (zu dieser sehr großen
Mehrheit rechnet er offenbar auch das Zentrum. D. Verf.) gegen das all-
gemeine Wahlrecht sei. Er konstatirte ferner mit Genugthuung, daß was die
Kornmunalwahlen anbetreffe, auch der Abgeordnete Meyer (Berlin) der gleichen
Ansicht sei. Es habe sich weiter gezeigt, daß das Wahlsystem keineswegs so
schlecht sei, als es vielfach dargestellt wurde. Darum ist er der Meinung, daß
man ruhig abwarten könne, ob eine weitere Entwicklung dazu dränge,
Aenderungen eintreten zu lassen. Er glaubt nicht an eine solche Entwick-
lung, die bisher sich vielmehr in entgegengesetzter Richtung bewegt habe.
„Eine Menge von Leuten sind von der Schwärmerei für das allgemeine, gleiche
und geheime Wahlrecht zurückgekommen (sehr richtig! rechts) und ich bin der
Meinung, daß diese Strömung noch lange Zeit fortdauern, immer mehr Festigkeit
gewinnen wird, selbst auch nach der Richtung hin, in welcher unter den Gegnern
dieses Wahlrechts hin und wieder eine Meinungsverschiedenheit besteht, nämlich
in Beziehung auf die geheime Wahl.“
Der Ministerpräsident spricht sich alsdann direkt gegen die geheime Wahl
und zu Gunsten der öffentlichen Stimmabgabe aus, unter Billigung der Rechten
und ohne von anderer Seite Widerspruch zu finden.Sitzung vom 14. Januar 1893.
Diese Rede des preußischen Ministerpräsidenten läßt tief blicken. Ging es
diesem nach, so wären sogar die Tage des Reichstagswahlrechts gezählt. Der
gegenwärtige preußische Ministerpräsident erweist sich als ein noch schlimmerer
Reaktionär als selbst sein Vorvorgänger, Graf Fritz zu Eulenburg, war.Obige Zeilen wurden geschrieben, als der Graf zu Eulenburg noch im
Amte war. Seitdem wurde er entlassen, aber bekannt ist worden, daß er im
preußischen Ministerrath sehr weitgehende Pläne in Bezug auf die
Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts für die Reichstagswahlen
entwickelte, die dort vorläufig noch keinen Anklang fanden. Jene
Anschauungen brauchen bei ihm, als einem der Väter des Sozialistengesetzes und
bei seiner Abstammung aus einer der ersten altpreußischen Junkerfamilien nicht zu
überraschen. Aber es ist gut für das arbeitende Volk, zu wissen, wie
die Männer denken, von denen es regiert wird. Das arbeitende
Volk erzeugt erst die Werthe, welche die großen Herren in die Lage
setzen, die hohen Steuersummen bezahlen zu können, auf Grund
deren ihnen ihre Vorrechte gewährt werden.
Das muß immer wieder konstatirt werden.
Was der preußische Ministerpräsident ausführte, ist der geheime Gedanken-
gang, der alle bürgerlichen Parteien beherrscht, mit Ausnahme eines sehr kleinen
Theils der Anhänger der Parteien auf der Linken und im Zentrum. Das
allgemeine gleiche und direkte Wahlrecht ist ihnen verhaßt, sie fürchten und ver-
abscheuen es, allen voran die nationalliberale Partei, diese Vertretung einer feigen,
charakterlosen und heuchlerischen Bourgeoisie. Bestände nicht die Scheu vor den
Wählern, eine erhebliche Mehrheit aus den bürgerlichen Parteien beseitigte das
jetzt bestehende Wahlrecht für den Reichstag lieber heute als morgen. Da man
dies aber vorläufig nicht wagen kann, ohne eine Aufregung hervorzurufen, die in
ihren Wirkungen unübersehbar ist, so beschränkt man sich darauf, zu verhindern,
daß das allgemeine gleiche direkte und geheime Wahlrecht für die Landtagswahlen
in den Einzelstaaten Giltigkeit erlangt.
Das Ende des neunzehnten Jahrhunderts steht im Zeichen der
Reaktion. Man hüte sich, daß sie nicht ihren Antipoden, die Revo-
lution, erzeugt.
Das Wahlrecht in den deutschen Mittel- und
Kleinstaaten.
Wie die große Mehrzahl der Mittel- und Kleinstaaten dem sogenannten
„Staat des deutschen Berufs“, Preußen, in Bezug auf konstitutionelles Leben und
allgemeine bürgerliche Freiheit, der Zeit wie der Qualität nach, weit voraus
war, so auch in Bezug auf die Gestaltung der Wahlrechte. Eine öffentliche Ab-
stimmung, wie sie das elendeste und erbärmlichste aller bestehenden Wahlgesetze,
das preußische Dreiklassen-Wahlsystem vorschreibt, giebt es in keinem der übrigen
deutschen Staaten. Auch besteht in den Wahlgesetzen der meisten Einzelstaaten,
in Bezug auf die Zumessung des Wahlrechts für die in Frage kommenden Klassen,
mehr System und damit mehr Vernunft und Gerechtigkeit als im preußischen
Dreiklassen-Wahlsystem, das in allen diesen Richtungen den Gipfel der Absurdität,
der Unvernunft und Ungerechtigkeit erreicht hat.
Die Wahlsysteme sämmtlicher Mittel- und Kleinstaaten zu kritisiren, ist nicht
nothwendig, es genügt für den Zweck dieser Schrift, eine Anzahl derselben, darunter
diejenigen der Mittelstaaten, des Näheren zu beleuchten.
Bayern.
Jn Bayern besteht wie in Preußen und in einer Reihe anderer Staaten,
damit der parlamentarische Fortschritt nicht in galoppirendes Tempo gerathen
kann – eine Gefahr, welche die Natur unserer einzelstaatlichen „Volksvertretungen“
schon von selbst ausschließt – neben der zweiten eine erste Kammer.
Die ersten Kammern, deren Zusammensetzung bereits erwähnt wurde, haben
zweierlei Zweck. Einmal dienen sie als Bremsen, wenn die „Volkskammern“ in
ihren Forderungen zu anspruchsvoll werden, das andere Mal als Puffer, wenn
es gilt, die Angriffe der zweiten Kammer auf die Regierungen abzuschwächen.
Alle wichtigen Beschlüsse der „Volkskammern“ müssen erst durch die ersten Kammern
gutgeheißen werden, ehe sie der Regierung zur Genehmigung vorgelegt werden
können. Daher sah der Liberalismus in seiner Jugendzeit, als er noch Jdeale
hatte und Kampflust besaß, die ersten Kammern stets mit sehr feindlichen Augen
an, und eine seiner wesentlichsten Programmforderungen war:
Beseitigung der ersten Kammern.
Jm tollen Jahr, im Jahr 1848, gelang es ihm auch verschiedentlich, vorüber-
gehend die ersten Kammern zu beseitigen, aber sie kamen wieder. Und heute hat
der altersschwach und zahnlos gewordene Liberalismus sich so mit den ersten
Kammern ausgesöhnt, daß er sie vielfach gegen die Forderung der Sozialdemokratie,
sie zu beseitigen, vertheidigt. Sic transit gloria mundi.So vergeht die Herrlichkeit der Welt.
Die Zahl der Abgeordneten für die zweite Kammer Bayerns wird bestimmt,
so schreibt die Verfassung vor, nach der Bevölkerungszahl der einzelnen Regierungs-
bezirke, und zwar in der Weise, daß auf je 31500 Einwohner ein Abgeordneter
kommt. Bis zu anderweiter gesetzlicher Regelung ist das Ergebniß der Volkszählung
vom 1. Dezember 1875 maßgebend. Eine Abgrenzung der Wahlkreise durch Gesetz
fand bisher nicht statt. Die Regierung bildet die Wahlkreise, für welche das
Gesetz vorschreibt, daß der einzelne Wahlkreis ein räumlich zusammenhängendes
Ganze bilden soll, und daß kein Wahlkreis weniger als 28000 Seelen zählen darf.
Die Regierung hat bei dieser Vollmacht es in der Hand, in großem Umfang
Wahlkreisgeometrie zu betreiben, indem sie die einzelnen Wahlkreise ganz un-
gebührlich in die Länge oder in die Breite zieht oder sonst gruppirt, wie es ihrem
Jnteresse entspricht. Die vorausgegangenen Wahlen geben ihr ein Bild der
Stimmung der Bevölkerung in den verschiedenen Gegenden. Diese Wahlkreis-
geometrie ist schon häufig Gegenstand der heftigsten Angriffe, namentlich seitens
der Zentrumspartei gewesen, die sich durch dieselbe benachtheiligt sah. So erhob
der Abgeordnete Jörg im Jahre 1875 gegen die Regierung die Anklage: „Die
Wahlkreisgeometrie, die sie übe, sei eine Vergewaltigung der großen Mehrheit des
bayerischen Volkes.“ Und ebenso führte Grillenberger in einer seiner Reden in
der Session des Landtages von 1893 auf 1894 eine Reihe drastischer Beispiele
an, durch die er klar nachwies, daß die Wahlkreisgeometrie dazu diene, einen
großen Theil der Wähler um sein Wahlrecht zu prellen. Einmal wird die Wahl-
kreisgeometrie im Großen betrieben bei der Abgrenzung der Wahlkreise, dann wieder
im Kleinen innerhalb der Wahlkreise durch die Abgrenzung der Urwahlbezirke.
Obgleich nun diese Wahlkreisgeometrie offen zu Tage liegt und die schärfste
Kritik herausfordert, auch Niemand dieselbe zu vertheidigen vermag, so konnten
sich doch bisher die maßgebenden Parteien, Liberale und Zentrum, nicht über eine
Wahlreform einigen. Diese bedeutet in Bayern eine Verfassungsänderung, die eine
Zweidrittelmajorität der zweiten Kammer erfordert. Keine Partei will durch eine
vom Gesetz festgelegte Wahlkreiseintheilung zu Schaden kommen, jede will viel-
mehr möglichst viel dabei herausschlagen, und bei diesem kleinlichen Kampf werden
die wichtigsten Jnteressen des Volks hintangesetzt und die Regierung triumphirt.
Neuerdings ist es, wie überall so auch in Bayern, die Furcht vor der Sozial-
demokratie, welche die herrschenden Parteien nebst der Regierung abhält, eine Wahl-
reform vorzunehmen.
Die Wahl ist indirekt. Wahlberechtigt als Urwähler ist jeder volljährige
(über 21 Jahre alte) Staatsangehörige, der den Verfassungseid geleistet
hat und dem Staate seit mindestens 6 Monaten eine direkte Steuer entrichtet.
Für die Ausschließung vom Wahlrecht gelten die gleichen Bestimmungen, wie bei
der Ausschließung vom Reichstagswahlrecht. Wahlmann kann nur werden, wer
alle Bedingungen als Urwähler besitzt und mindestens das 25. Lebensjahr zurück-
gelegt hat. Die Wahlmänner haben vor der Wahl der Abgeordneten einen so-
genannten Wählereid zu leisten. Jn Bayern sieht man offenbar das Wahl-
geschäft als ein sehr frommes Geschäft an, zu dessen Verrichtung es erst der
Leistung zweier Eide bedarf. Aehnliches existirt nirgends in Deutschland. Zum
Abgeordneten kann gewählt werden, wer die Qualifikation als Urwähler besitzt
und mindestens 30 Jahre alt ist.
Fast alle Einzelstaaten schreiben als wahlfähiges Alter für die Abgeordneten
das vollendete 30. Lebensjahr vor, wohingegen für die Wahl zum Reichstags-
abgeordneten – ohne Schaden für die Qualität derselben – das 25. Lebensjahr
vorgeschrieben ist.
Die Qualifikation als Wahlmann oder Abgeordneter geht verloren, sobald
eine der nöthigen Vorbedingungen verloren ist. Zur giltigen Wahl eines Ab-
geordneten ist die Anwesenheit von zwei Dritteln der Wahlmänner erforderlich.
Die Wahl erfolgt durch absolute Majorität.
Zur Geschichte des jetzt bestehenden Wahlgesetzes sei Folgendes bemerkt. Jm
Jahre 1854 versuchte das reaktionäre Ministerium v. d. Pfordten, einen Gesetz-
entwurf, betreffend die Bildung der zweiten Kammer, durchzudrücken, der eine
Rückrevidirung auf ständischer Grundlage bezweckte und die Ausübung vom Be-
kenntniß zur christlichen Religion abhängig machte. Aber dieser Gesetzentwurf
erhielt nicht die nothwendige, für Verfassungsänderungen vorgeschriebene Zwei-
drittel-Majorität. Herr v. d. Pfordten versuchte es nun mit zweimaliger Auf-
lösung der Kammer, aber die Opposition kam verstärkt zurück. Der Sturz des
Ministeriums (1858) machte dem grausamen Spiel ein Ende.
Jm April 1870 legte das Ministerium v. Braun der Kammer einen neuen
Wahlgesetzentwurf vor, der als wesentliche Verbesserung die Einführung direkter
Wahlen enthielt. Stimmberechtigt sollte jeder Staatsangehörige sein, der das
25. Lebensjahr vollendet hatte und eine direkte Staatssteuer entrichtete. Für die
Wahl zum Abgeordneten war wie bisher das vollendete 30. Lebensjahr vor-
gesehen und wurde eine mindestens dreijährige Staatsangehörigkeit verlangt.
Der inzwischen ausbrechende Krieg gegen Frankreich ließ es zu keiner end-
giltigen Entscheidung über den Entwurf kommen. Jm Jahre 1874 brachte die
Regierung die Vorlage von Neuem ein, sie scheiterte aber an der Kammer, weil
man sich über die Wahlkreiseintheilung nicht verständigen konnte. Darauf zog die
Regierung die Vorlage zurück.
Jn den Jahren 1875/76, 1877, 1878 und 1879 folgten verschiedene Jnter-
pellationen beziehentlich Anträge für eine Wahlreform, die wiederum das Eine
ergaben, daß die Kammer sich auch jetzt nicht über die Wahlkreiseintheilung, d. h.
über die Vertheilung der Beute einigen konnte. Das Ende der Verhandlungen
bildete die Erklärung der Regierung: daß sie für die Einführung direkter
Wahlen nicht mehr zu haben sei! Das Sozialistengesetz war mittlerweile in
Kraft getreten, das besagt Alles.
Der Wahlreformentwurf von 1881 änderte nur Nebensächliches und kam,
da er obendrein Verschlechterungen enthielt, als Gesetz zu Stande.
Der Eifer der Kammer für eine Wahlreform war aber mittlerweile der-
maßen abgekühlt, daß der Berichterstatter, der ultramontane Abgeordnete Daller,
sich begnügen konnte, zu erklären:
„Es wird die künftige oder eine spätere Kammer wahrscheinlich das
Jdeal eines Wahlgesetzes, eines trefflicheren, das den Anforderungen entspricht,
keineswegs aufgeben und ist sie auch jedenfalls durchaus nicht durch diese Gesetzes-
amendation verpflichtet, dieses Jdeal aufzugeben.“
Verlegener kann man sich kaum ausdrücken. Das Ganze war nur Phrase.
Denn als volle zwölf Jahre später die sozialdemokratischen Abgeordneten, die
mittlerweile in den Landtag eingedrungen waren. Daller und seinen Freunden
Gelegenheit gaben, das „Jdeal“ eines Wahlgesetzes durch ihre Zustimmung ver-
wirklichen zu helfen, stimmten Daller und Genossen dagegen.
Der Gesetzentwurf auf Einführung des allgemeinen, gleichen, direkten und
geheimen Wahlrechts, den die Sozialdemokratie in der Landtagssession von 1893/94
im Münchener Landhause einbrachte, wurde von sämmtlichen Abgeordneten
des Zentrums mit Ausnahme der Stimmen Dr. Schädler's und zweier
seiner Freunde und gegen einen großen Theil der Stimmen der Libe-
ralen abgelehnt.Ausführlicheres über die Geschichte des bayerischen Landtagswahlrechts
siehe in der Broschüre: „Die bayerische Volksvertretung und das allgemeine, direkte
Landtagswahlrecht“ von Adolf Müller. München 1894. Verlag der „Münchener Post“
Damit war auch im zweitgrößten deutschen Staat die Probe auf das
Exempel gemacht, wie die bürgerlichen Parteien zum allgemeinen und direkten
Wahlrecht stehen.
Sachsen.
Die politische Bewegung, die nach den Jahren der Reaktion von 1849 bis
1859 mit dem Ausbruch des österreich-italienischen Krieges wieder begann und
insbesondere die deutschen Einheitsbestrebungen zum Ausdruck brachte, fand auch
in Sachsen einen fruchtbaren Boden. Hier verschmolz sich dieselbe mit einer gleich-
zeitig auftretenden Bewegung gegen das „System Beust“ und die von diesem
reaktivirten Ständekammern, deren Verfassung und Existenz mit dem weit vor-
geschrittenen industriellen und ökonomischen Zustand des Landes in schroffem
Widerspruch stand.
Das Jahr 1866 fegte das Ministerium Beust von der Bildfläche hinweg.
Das Jahr 1867 brachte die Gründung des Norddeutschen Bundes und zwei
Wahlen zum Norddeutschen Reichstag auf Grund des allgemeinen direkten Stimm-
rechts, und zwar für den konstituirenden Reichstag und die erste ordentliche Legis-
laturperiode desselben. Jetzt begriff man in Dresden, daß das Wahlrecht zur
zweiten Ständekammer ein Anachronismus sei, und so wurde dasselbe im Jahre
1868 geändert. Aber obgleich von allen deutschen Ländern keines weniger eine
künstliche Scheidung der Wahlkreise zwischen Stadt und Land rechtfertigte als
Sachsen, das bereits schon damals auch auf dem Lande eine großindustrielle Entwick-
lung und damit eine Bevölkerung mit städtischen Anschauungen und Jnteressen
auswies führte man dennoch diese Scheidung durch.
Das Land wurde in 35 städtische und 45 ländliche Wahlkreise eingetheilt,
die allmälig in Bezug auf ihre Wählerschaft sehr ungleich geworden sind.
Während manche Wahlkreise kaum 30000 Einwohner zählen, haben andere 70-
bis 80000 Einwohner. Die einzige Aenderung, zu der man sich in dieser langen
Zeitdauer und bei der gewaltigen Zunahme der Bevölkerung herbeiließ, war, daß
man Leipzig, das durch die Einverleibung einer Anzahl Vororte auf weit über
300000 Einwohner anwuchs, zwei neue Abgeordnete zubilligte. Es wählt statt
früher drei jetzt fünf Abgeordnete, und ist dadurch die Zahl der städtischen Ab-
geordneten des Landes von 35 auf 37 gestiegen. Sachsen hatte 1868 ca. 2400000 Einwohner, 1890 bereits 3503000, rund
50 pCt. mehr. Leipzig hatte Ende 1893 ca. 357000 Einwohner. Eine Neueintheilung der Wahl-
kreise käme der Sozialdemokratie zu Statten, deshalb unterläßt man sie also lieber.
Die Furcht vor der Sozialdemokratie beherrscht eben heute die ganze Politik,
nicht nur im Reich, sondern auch in den Einzelstaaten.
Die Hauptbestimmungen des sächsischen Landtagswahlrechts sind kurz folgende:
Wähler zum Landtag ist jeder Staatsangehörige, der das 25. Lebensjahr
vollendet hat und mindestens 3 Mk. direkte Staatssteuer entrichtet, und zwar
Einkommensteuer oder Grundsteuer oder beide zusammengerechnet. Der Einkommen-
steuersatz von 3 Mk. wird von einem Jahreseinkommen von 600-700 Mk. er-
hoben. Aber ein erheblicher Theil der industriellen Bevölkerung im Erzgebirge,
im Voigtland und in der Lausitz besitzt nicht dieses Einkommen, daher ist dieser
vom Wahlrecht ausgeschlossen.
Wählbar zum Abgeordneten ist, wer das 30. Lebensjahr vollendet hat, seit
mindestens drei Jahren sächsischer Staatsangehöriger ist und mindestens 30 Mk.
direkte Staatssteuern entrichtet. Nach den offiziellen steuerstatistischen Uebersichten
vom Jahre 1890 gab es unter den 1404069 eingeschätzten Personen – von
welchen 76925 steuerfrei waren – nur 118942, die den Zensus von 30 Mk.
Einkommensteuer hatten. Dieser Zensus wird mit einem Einkommen von 2200
bis 2500 Mk. erreicht. Unter den eingeschätzten Personen befinden sich aber auch
wieder Nichtsachsen und Frauen, deren Zahl nicht angegeben ist. Die Abgeordneten
werden auf sechs Jahre gewählt und scheidet alle zwei Jahre ein Drittel aus.
Diese Theilwahlen finden in den meisten anderen Einzelstaaten ebenfalls statt, sie
sind wesentlich aus volkshygienischen Gründen angeordnet, damit bei Wahlen durch
das ganze Land oder Ländchen nicht zu große Aufregung entsteht. Auch fürchtet
man, daß bei der gleichzeitigen Wahl aller Abgeordneten einmal lauter Neulinge
in die Landtagsstuben einrücken möchten und die ganze Regierungsmaschine ins
Stocken gerathe. Der gute Deutsche ahnt gar nicht, wie väterlich seine Regierungen
stets über sein Wohl wachen, ohne dabei das ihre zu vernachlässigen.
Seitdem sozialdemokratische Abgeordnete in der zweiten Ständekammer zu
Dresden sitzen, und dies ist seit dem Jahre 1877 der Fall, wurde von ihnen dreimal der
Antrag auf Einführung des allgemeinen gleichen direkten und geheimen Wahlrechts für
die Landtagswahlen eingebracht. Auch versuchte man eine Neueintheilung der Wahl-
kreise und die Aufhebung der Scheidung der Wahlkreise in städtische und ländliche
durchzusetzen. Beides ohne Erfolg. Das allgemeine, gleiche Wahlrecht, wie es
im Bewegungsjahr 1848 in Sachsen eingeführt wurde, besteht zwar heute noch
zu Recht und noch unter dem Beust'schen Regiment war es die Panacee, um
welche die bürgerlichen Demokraten und Liberalen sich sammelten und dessen
Wiederherstellung sie forderten, aber das sind längst vergessene Zelten.
Mehr wie in jedem andern deutschen Lande hat in Sachsen die Sozial-
demokratie sich ausgebreitet, und wie diese sich ausdehnte, wichen die bürgerlichen
Parteien mit ihren Forderungen zurück und gaben sie schließlich gänzlich preis.
Jn Folge dieser Entwicklung verschwand der linke Flügel in den bürgerlichen
3
Parteien immer mehr, die Konzentration vollzog sich stetig nach rechts, bis schließlich
sämmtliche bürgerliche Parteien, bis auf kleine abgesprengte Reste, sich zu einer
großen Ordnungspartei, d. h. zu einem allgemeinen Parteibrei, gegen die Sozial-
demokratie vereinigten, dessen einziger Zweck ist, diese zu bekämpfen.
Dieser Stand der Dinge kam auch bei der Berathung der erwähnten sozial-
demokratischen Anträge zur Geltung. Sämmtliche bürgerliche Abgeordnete bis auf
1 oder 2 – die letzten Säulen aus der Glanzzeit vergangener Tage – stimmten
gegen dieselben. Man ging noch weiter. Wagte man bisher nicht, das Landtags-
wahlrecht zu verbösern, wozu die größte Lust vorhanden ist, so verhunzte man nach
Kräften das Landgemeindewahlrecht, das seine verhältnißmäßig freisinnige Grundlage
seiner Entstehung in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts zu verdanken hatte.
Der bürgerliche Liberalismus in Sachsen, darunter Vertreter der ehemalig
republikanisch gesinnten Demokratie, fand im neunten Jahrzehnt dieses
Jahrhunderts ein Gesetz zu freisinnig, das im vierten Jahrzehnt als eben
genügend angesehen wurde. Diese Fortentwicklung nach rückwärts steht auf
derselben Höhe mit dem Verlangen, das Vereins- und Versammlungsgesetz aus der
schlimmsten Zeit der Beust'schen Aera, aus dem Jahre 1851, zu verschlechtern,
obgleich gerade dieses Gesetz Jahrzehnte lang von den sächsischen
Liberalen auf das entschiedenste als reaktionär bekämpft wurde. Und
an der Spitze dieser Bestrebungen zur Verschlechterung des sächsischen Vereins-
und Versammlungsgesetzes steht derselbe Prof. Karl Biedermann,
der einst einer der Führer der Opposition gegen das Beust'sche Regi-
ment war und deshalb von diesem seiner Professur entsetzt wurde.
Jst es verwunderlich, daß eine Partei, die solche Verräthereien sich zu
Schulden kommen läßt, immer mehr der Verachtung des Volkes verfällt?
Die stetig stärker werdende Sozialdemokratie benimmt den bürgerlichen
Parteien immer mehr den Verstand, und speziell ist es der National-Liberalismus, der
vollständigem politischem Marasmus verfallen ist und nur noch Ekel und Ver-
achtung erregt.
Württemberg.
Die in der „Einleitung“ zu dieser Schrift erwähnte Zusammensetzung der
württembergischen zweiten Kammer auf Grund der Verfassung vom Jahre 1819,
wonach dieselbe theils aus privilegirten, theils aus gewählten Abgeordneten der
sogenannten „sieben gute Städte“ und der 63 Oberamtsbezirke zusammengesetzt
wurde, besteht bis heute fort.
Die Revolutionsjahre brachten auch Württemberg ein neues Wahlgesetz mit
allgemeinen direkten Wahlen (1. Juli 1849) an Stelle des bisher bestehenden
beschränkten und indirekten Wahlsystems mit öffentlicher Stimmabgabe. Aber die
Kammer, die aus diesen Wahlen hervorging, war nicht im Sinne der Regierung
zusammengesetzt; sie gerieth mit letzterer sofort in Konflikt und wurde schon am
22. Dezember 1849 aufgelöst. Die neugewählte Kammer war aber noch demo-
kratischer als die heimgeschickte, und so währte auch der Frieden mit ihr nicht
lange. Am 6. November 1850 wurde auch sie aufgelöst, und nun berief das
Ministerium wieder die alte Ständekammer auf Grund des alten Wahlgesetzes
und erklärte die Verfassung von 1819 wieder in vollem Umfang für gültig. Es
wiederholte sich hier dasselbe Schauspiel wie in Sachsen. Die Reaktion, sobald sie
sich in der Macht wußte, trat Recht und Gesetz mit Füßen und vollzog den
Staatsstreich.
Eine Aenderung erfuhr das veraltete Wahlsystem erst im Jahre 1868 –
im gleichen Jahre wie in Sachsen – indem jetzt direkte und geheime Stimm-
abgabe, sowie das allgemeine gleiche Wahlrecht für die Wahl der Abgeordneten
der Städte und Oberamtsbezirke eingeführt wurde. Weitere Abänderungen, die
eine Erleichterung des Wahlverfahrens in Bezug auf die Stimmabgabe herbei-
führten, brachte das Jahr 1882.
Das Verfahren bei der Wahl und die Zusammensetzung der Mitglieder der
zweiten Kammer ist gegenwärtig in der Hauptsache folgendes: Die 18 Mitglieder
des ritterschaftlichen Adels werden von diesem aus seiner Mitte gewählt. Die
adelige Wählerschaft besteht aus 143 Stimmen, so daß jeder Abgeordnete durch-
schnittlich 11 Stimmen vertritt. Ferner sind die sechs protestantischen General-
superintendenten (Prälaten) Mitglieder der Kammer kraft ihres Amtes, ebenso der
katholische Landesbischof, der der Amtszeit nach älteste Dekan des Domkapitels
und der Kanzler der Landes-Universität. Weiter wählt das Domkapitel für die
Kammer ein Mitglied aus seiner Mitte. Zu diesen Vertretern der Privilegirten
kommen die Vertreter der „sieben guten Städte“ (Stuttgart, Tübingen, Ludwigs-
burg, Ellwangen, Ulm, Heilbronn und Reutlingen) und die Abgeordneten der
63 Oberamtsbezirke, die sämmtlich auf Grund des allgemeinen gleichen und
direkten Wahlrechts gewählt werden.
Württemberg ist also das einzige deutsche Land, dessen Landesvertreter zum
größten Theil auf Grund eines wirklich demokratischen Wahlrechts gewählt werden.
Es ist hierin den „Republiken“ Hamburg, Bremen und Lübeck weit voraus. Wähler
für die 70 aus der Volkswahl hervorgehenden Abgeordneten ist jeder Staatsangehörige,
der das 25. Lebensjahr vollendet hat. Wählbar zum Abgeordneten ist jeder Württem-
berger, der 30 Lebensjahre zurückgelegt hat. Die Abgeordneten der ersten wie der
zweiten Kammer erhalten Tagegelder in Höhe von 10 Mk. und freie Eisenbahnfahrt.
Es ist ein Charakteristikum, das nur in Deutschland vorhanden ist, daß die
Abgeordneten sämmtlicher Landtage, die fast sämmtlich nach beschränkten Wahl-
rechten gewählt werden, Tagegelder beziehen, wohingegen den nach einem demo-
kratischen Wahlrecht gewählten Vertretern zum Deutschen Reichstag diese Tagegelder
vorenthalten werden. Der Grund ist nicht weit zu suchen, er ist abermals:
Furcht vor der Sozialdemokratie.
Die Wahlkreise für die Volksabgeordneten sind sehr ungleich. So wählt
Ellwangen mit ca. 4600 Einwohnern einen Vertreter, und Stuttgart mit
ca. 140000 Einwohnern ebenfalls. Stuttgart allein hat 20000 Einwohner mehr
als die übrigen 6 „guten Städte“ zusammengenommen. Das Oberamt Spaihingen
mit ca. 17400 Einwohnern wählt ebenso einen Vertreter wie das Oberamt
Cannstatt mit ca. 47000 Einwohnern.
Dem Drängen nach einer Wahlreform, durch die man eine Beseitigung
der Privilegirten in der zweiten Kammer und eine gleichmäßige Eintheilung der
Wahlkreise erwartet, suchte die Regierung durch einen Entwurf entgegenzukommen
, den sie dem Landtag in der Session von 1894 vorlegte. Nach diesem Entwurf
sollte die erste Kammer um 12 Mitglieder vermehrt werden. Der Konservatismus
dieser aus zweifelreinsten Konservativen zusammengesetzten Kammer sollte also zwölf
neue Stützen erhalten. Dagegen sollte die zweite Kammer nur um zwei Mit-
glieder vermehrt werden. Die „Reform“ der zweiten Kammer dachte sich die
Regierung also: Die Vertreter der Ritterschaft sollten von 13 auf 8, die Prälaten
von 6 auf 4, die Vertreter der katholischen Kirche von 3 auf 2 herabgesetzt
werden. Dagegen sollten als neue Privilegirte im modernen Sinne Sitz und
Stimme erhalten: ein Vertreter der technischen Hochschule, ein Vertreter der land-
wirthschaftlichen Bauverbände und drei Vertreter der Handels- und Gewerbe-
kammern. Stuttgart sollte statt eines vier Abgeordnete erhalten, im Uebrigen
sollte Alles beim Alten bleiben.
Diese „Wahlreform, mit der man den verschiedenen Richtungen in der
Kammer gerecht werden wollte, befriedigte nach keiner Seite, und so verfiel sie
dem verdienten Schicksal, sie wurde abgelehnt.
Baden
Das Großherzogthum Baden hat vom Jahre 1818 an bis zum Jahre
1848, während welcher Zeit es eine Ständevertretung besaß, mehr parlamen-
tarische Kämpfe durchzumachen gehabt als irgend ein anderes Land Deutschlands.
3*
Baden spielte deshalb in diesem Zeitraum in der öffentlichen Meinung Deutsch-
lands eine Rolle, die weit über seine geographische Bedeutung und politische
Machtstellung hinausging. Das Verhalten seiner Landesvertreter wurde ander-
wärts vielfach als Muster und nachahmenswerthes Beispiel angesehen. Daher
fanden auch die Revolutionsjahre (1848 und 1849) in Baden einen besonders
vorbereiteten Boden. Das Jahr 1848 brachte dem Lande eine große Zahl von
Reformgesetzen und den Ausbruch zweier republikanischer Aufstände im April und
September. Eine noch größere republikanische Schilderhebung folgte im Frühjahr
1849, aber eine Aenderung der Verfassung und des Wahlgesetzes fand nicht statt.
Nach der blutig niedergeschlagenen Revolution und den bekannten Standrechtelungen
zu Mannheim, Rastatt und Freiburg traten im März 1850 die Kammern, gewählt
nach dem unveränderten Wahlgesetz, wieder zusammen.
Die Verfassung vom 22. August 1818 und die Wahlordnung vom
23. Dezember 1818 wurde erst durch ein Gesetz vom 25. August 1876 und eine
Verordnung vom 2. Juli 1877, betreffend die Vornahme der Wahlmännerwahlen
bei den Wahlen der Abgeordneten der zweiten Kammer, etwas verändert und er-
gänzt. Eine Aenderung der Grundlagen des Wahlrechts führten diese Maß-
nahmen nicht herbei.
Die zweite Kammer besteht noch heute wie vom Anfang der Verfassung an
aus 63 Abgeordneten der Städte und Aemter. Die Wahl ist indirekt. Die Ab-
geordneten werden durch Wahlmänner gewählt. Stimmfähig sind alle Staats-
bürger, die das 25. Lebensjahr zurückgelegt haben in dem Wahlbezirk, in dem sie
ihren Wohnsitz haben. Zum Abgeordneten kann gewählt werden, wer das 30. Lebens-
jahr zurückgelegt hat und die Wählbarkeit als Wahlmann besitzt. Die Abgeordneten
werden auf vier Jahre gewählt, alle zwei Jahre scheidet die Hälfte aus.
Vom Wahlrecht und der Wählbarkeit ausgeschlossen sind: Entmündigte oder
Mundtodte; Personen, die in Konkurs sind, während der Dauer des Verfahrens;
Personen, die auf öffentlichen Mitteln Armenunterstützung beziehen oder im letzten
der Wahl vorausgegangenen Jahr bezogen haben; Personen, welche das Wahl-
recht oder die Wählbarkeit in Folge strafrichterlichen Urtheils verloren haben.
Jn der Frühjahrssession 1894 brachten Abgeordneten des Zentrums und
der Freisinnigen Anträge ein, die auf die Einführung direkter Wahlen und einer
neuen Wahlkreiseintheilung gerichtet waren. Der nationalliberale Abgeordnete
Fieser ging weiter und beantragte die Einführung der Proportionalwahlen, „ob-
gleich er die Ueberzeugung habe, daß alsdann seine Partei nie mehr die Mehr-
heit in der Kammer erhalten werde“, die sie bisher gehabt hatte. Das ist eine
bei einem Nationalliberalen beispiellose Selbstaufopferung, die anerkannt werden
muß. Am 22. Juni 1894 beschloß die Kammer mit allen gegen acht Stimmen
(5 nationalliberale, 2 konservative und 1 vom Zentrum) Einführung direkter
Wahlen nach dem Proportionalwahlsystem, ferner größere Sicherung des Wahl-
geheimnisses. Diese Beschlüsse machen der badischen zweiten Kammer alle Ehre.
Mit 31 gegen 29 Stimmen erklärte sich die Kammer ferner für eine neue
Wahlkreiseintheilung unter der Voraussetzung direkter Wahlen. Die Regierung
verhielt sich diesen Beschlüssen gegenüber ablehnend.
Hessen.
Die Revolutionsjahre hatten auch für Hessen die Wirkung, daß das Land
ein neues Wahlgesetz erhielt, auf Grund dessen die Wahlen allgemeine und direkte
waren. Für die Wählbarkeit in die erste Kammer wurde ein mäßiger Zensus
festgesetzt. Aber die Lebensdauer dieses Gesetzes war nur eine kurze. Der neu
gewählte Landtag gerieth mit dem Ministerium in heftige Konflikte und dieses
folgte dem Beispiel der Regierungen in den größeren Staaten und löste den
Landtag, Ende September 1850, auf. Eine Verordnung, zu deren Erlaß die
Regierung ebenso wenig wie anderwärts eine gesetzliche Vollmacht besaß, dekretirte
eine neue Wahlordnung, auf Grund deren eine Kammer gewählt wurde, die ein
neues Wahlgesetz berieth und beschloß. Das von dieser Kammer beschlossene Wahl-
gesetz ist bis heute noch in Kraft.
Darnach besteht die hessische zweite Kammer aus 50 Abgeordneten, von
welchen 10 die größeren Städte (Darmstadt und Mainz je 2, Gießen, Offenbach,
Worms, Alzen und Bingen je 1) wählen und die 40 anderen das übrige Land
wählt. Von diesen 40 Abgeordneten kommen 17 auf die Provinz Starkenburg,
13 auf Oberhessen. 10 auf Rheinhessen.
Die Wahlen sind indirekt. Urwähler ist jeder hessische Staatsangehörige, der seit
mindestens 3 Jahren im Lande wohnt, seit Beginn des Jahres, in dem die Wahl statt-
findet, eine Einkommensteuer entrichtet und das 25. Lebensjahr zurückgelegt hat. Für
den Ausschluß von der Wahl gelten die gleichen Bestimmungen wie im Reichswahlgesetz.
Als Wahlmann kann gewählt werden, wer die Bedingungen als Urwähler
erfüllt, außerdem in der Gemeinde, in der er ausgestellt wird, stimmberechtigt ist und
an direkten Staatssteuern jährlich mindestens 17 Mk. bezahlt. Zum Abgeordneten
kann jeder stimmberechtigte Urwähler gewählt werden. Die Wahl der Wahlmänner
und der Abgeordneten erfolgt auf 6 Jahre. Der Antrag aus Einführung des allgemeinen
gleichen und direkten Wahlrechts ist mehrfach von den ultramontanen Abgeordneten
der Kammer gestellt worden, fand aber an der nationalliberalen Mehrheit stets
seinen Gegner. Seltsamer Zustand. Jn Preußen und Bayern verhalten sich die
Zentrumsabgeordneten gegen das allgemeine Stimmrecht gleichgültig oder direkt feind-
lich, in Hessen stimmen sie für dasselbe. Das Geheimniß dieser widersprechenden
Haltung ein und derselben Partei in den verschiedenen Landtagen liegt darin, daß man
nicht nach Prinzipien und Grundsätzen handelt, sondern nach Gründen der Opportunität
(Zweckmäßigkeit). Jn Preußen und Bayern hat das Zentrum durch Gewährung
des allgemeinen Stimmrechts nichts zu gewinnen, sondern kann nur an die Sozial-
demokraten verlieren, außerdem will es dieselben aus den Kammern fernhalten.
Jn Hessen hofft umgekehrt das Zentrum durch das allgemeine Wahlrecht zu gewinnen.
Es zeigt sich auch hier wieder, daß die einzige Partei, die wirkliche Prinzipien-
politik betreibt und feste Grundsätze für ihr Handeln maßgebend sein läßt, die
sozialdemokratische ist.
Braunschweig.
Jm Jahre 1830 machten die guten Braunschweiger einen Aufstand, der die
Verjagung des Herzogs Karl bewirkte, worauf sein Bruder die Regierung über-
nahm. Der verjagte Herzog erließ darauf am 7. September eine Proklamation,
in der er das Versprechen gab, das allgemeine Wahlrecht einzuführen. Es half
ihm nichts. 1832 trat eine Verfassung in Kraft, auf Grund welcher der Landtag
aus 10 Abgeordneten der Ritterschaft, 12 Deputirten der Städte, 10 der Land-
bewohner und 16 Abgeordneten der drei Standesklassen bestand.
Das Jahr 1848 änderte diese Einrichtungen dahin ab, daß die Städte
10 Wahlkreise bildeten mit je 2 Abgeordneten, und die Landgemeinden 18 Wahl-
kreise, von welchen 16 ebenfalls je 2 Abgeordneten wählten. Der eine Abgeordnete
eines Wahlkreises wurde von sämmtlichen Stimmberechtigten (Wähler war jeder
über 25 Jahre alte unbescholtene Braunschweiger) nach gleichem und direktem
Wahlrecht gewählt, den zweiten Abgeordneten wählten die Höchstbesteuerten. Diese
letzteren wählten im ganzen Lande 26 von 64 Abgeordneten.
Die Reaktionsjahre brachten auch für Braunschweig einen Rückschritt. Jm
November 1851 hob der Landtag selbst auf Antrag der Regierung das alte Wahl-
gesetz auf und schuf ein neues, das noch heute in Geltung ist. Darnach besteht
der Landtag aus 46 Abgeordneten, von welchen die Städte 10, die Landgemeinden
12, die Höchstbesteuerten 21 und die Geistlichkeit der evangelischen Kirche 3 wählt.
Die beiden letztgenannten Wahlkategorien, eine winzige Minorität der Bevölkerung,
wählen also die Mehrheit des Landtages. Damit aber ja kein oppositioneller
Geist in die Landesvertretung eindringen kann, wurde weiter bestimmt, daß die
Vertreter der Städte und Landgemeinden durch indirekte Wahl gewählt werden.
Außerdem werden die Wähler der Städte in drei Klassen eingetheilt, nach Höhe
der Gemeindesteuer, die sie entrichten, und wählt jede Klasse ein Drittel der Wahl-
männer. Die gleiche Eintheilung findet bei den Wählern der ländlichen Gemeinden
statt, mit denen noch die Besitzer von Gütern, Gehöften, Wohnhäusern, Fabriken,
Hütten, Salinen, Gruben ꝛc., soweit diese selbständig für sich bestehen, wählen.
Braunschweig hat also ein Wahlsystem, das sich würdig dem preußischen an
die Seite stellt, ja es in mehrfacher Hinsicht an Komplizirtheit des Wahlverfahrens
und Destillirfähigkeit der Wählerschaft noch übertrifft. Die große Masse der Steuer-
zahler ist, auch wo sie ein Scheinwahlrecht besitzt, vollkommen machtlos und that-
sächlich rechtlos.Näheres über die Braunschweiger Zustände und die ganze Entwicklung
des Landes enthält: Richard Calwer: Das braunschweigische Volk und seine
politische Vertretung. Braunschweig 1894, A. Günther.
Hamburg.
Die „Republik“ Hamburg – man verzeihe diese Bezeichnung – hat bis-
her sich eine Verfassung bewahrt, die einer noch im ständischen Wesen versunkenen
Monarchie zur Ehre gereichte. Aehnlich steht es mit ihren Schwestern, den
„Republiken“ Bremen und Lübeck. Die Plutokratie dieser Republiken hat es bis-
her meisterhaft verstanden, sich ausschließlich in der Macht zu behaupten, was
allerdings nur möglich war durch die Staatsgebilde in ihrer Umgebung, die direkt
und indirekt zu dieser Konservirung beitrugen.
Jm Jahre 1712 kam unter der Herrschaft des Standrechts und während
der Besetzung Hamburgs durch eine kaiserliche Armee, die in Folge innerer
Streitigkeiten in die Stadt geführt worden war, eine „provisorische“ Verfassung
zu Stande, die volle anderthalb Jahrhunderte, bis 1859, in Geltung war.
Patrizier und protestantische Geistlichkeit regierten während dieser Zeit die Stadt
und theilten sich in die Annehmlichkeiten, welche die Beherrschung eines reichen
Gemeinwesens wie Hamburg mit sich bringt. Jn der Zeit der Sturmfluth von
1848/49 trat auch in Hamburg eine aus allgemeinen direkten Wahlen der ge-
sammten Bürgerschaft hervorgegangene konstituirende Versammlung zusammen, um
eine demokratische Verfassung zu berathen. Aber als diese fertig war, hatte
die Reaktion wieder Oberwasser gewonnen. Unter dem Schutze der preußischen
Bajonette, die Hamburg wegen der Schleswig-Holsteinischen Wirren mit Dänemark
besetzt hatten, verweigerte der Senat die Annahme der Verfassung und setzte eine
Neunerkommission ein, die das Rückwärtsrevidiren mit Eifer besorgte.
Die Wirkungen der großen Handelskrise von 1857 und der Anstoß, der
durch die Veränderungen in Preußen kam – Uebernahme der Regierungsgewalt
durch den Prinzregenten und Einsetzung eines liberalen Ministeriums – führten
endlich eine Revision herbei, die allerdings keine „grundstürzende“ war. Weitere
unbedeutende Aenderungen traten 1879 ein.
Heute besteht in Hamburg Folgendes zu Recht. Um Wähler zu sein, ge-
nügt nicht die Staatsangehörigkeit, der Staatsangehörige muß auch Bürger sein
und entsprechende Steuern entrichten. Das noch bestehende Bürgerrechtsgesetz
stammt aus dem Jahre 1864 und erfordert die Leistung einer Gebühr von
30 Mk. von jedem Staatsangehörigen, der das Bürgerrecht erlangen will. Da
nun die Staatsangehörigkeit ohne Bürgerrecht keinen Werth hat, andererseits die
Ausübung des Gewerbetriebes nach der Reichsgesetzgebung von der Staats-
angehörigkeit nicht abhängig gemacht werden kann, ist das Streben, Hamburger
Staatsangehöriger zu werden, für die Zugewanderten ein sehr geringes. Des
Weiteren schreckt die Bürgerrechtsgebühr von der Gewinnung des Bürgerrechts
ab, da letzteres Minderbemittelten nur beschränkte Rechte gewährt. Die Wirkung
dieses Zustandes ist, daß nahezu die Hälfte der Einwohner des Hamburger Staats-
gebiets Ausländer sind, darunter nach der Volkszählung von 1890 allein 150000
Preußen, und daß die Zahl der Bürger von Jahr zu Jahr sinkt.
Jn dem Zeitraum von 1865-1875 hatte die Zahl der Hamburger Bürger
bereits um 4000-5000 abgenommen; sie betrug weiter:
1875: 33726 | 1879: 30856 | 1880: 30856 | 1892: 23645 |
Um das Aussterben der Bürger zu verhindern, wurde die Bestimmung ge-
troffen, daß Staatsangehörige mit über 3600 Mk. Einkommen das Bürgerrecht
erwerben müssen. Diese Bestimmung verhindert aber nicht die rapide Abnahme
der Zahl der Bürger bei beständig wachsender Bevölkerung.
Am 1. Dezember 1890 hatte Hamburg als Staat rund 622000 Einwohner,
darunter 152000 Steuerzahler. Die Bürgerschaft zählt aber, wie angeführt wurde,
wenig über 23000 Köpfe und ist in Bezug auf das Wahlrecht in drei Klassen
eingetheilt. Einmal wählen sämmtliche Wahlberechtigte zur „Bürgerschaft“:
80 Abgeordnete. Weiter wählen ca. 6000 stimmberechtigte Grundeigenthümer,
die sich ausschließlich aus der Stadt und den Vororten rekrutiren – die länd-
lichen Grundbesitzer sind ausgeschlossen – 40 Abgeordnete. Endlich wählen die
sogenannten Rotabeln: Richter, Handelsrichter, Mitglieder der Vormundschafts-
behörde, ebenfalls 40 Abgeordnete. Die beiden letzten Wahlkategorien haben ein
doppeltes Wahlrecht sie wählen erst mit der Gesammtheit der Bürgerschaft und dann
noch als Grundeigenthümer oder Rotabeln. Bei diesem wunderbaren und einzigen
Wahlsystem, bei dem auch noch die in der Verwaltung sitzenden Personen selbst einen
Theil „der Bürgerschaft“ wählen, die zur Kontrolle ihrer Handlungen bestimmt ist,
befanden sich unter 160 Bürgerschaftsmitgliedern ca. 130 Grundeigenthümer.
Das aktive Wahlrecht ist an das vollendete 25. Lebensjahr, das passive
Wahlrecht – das Recht gewählt zu werden – an das vollendete 30. Lebensjahr
gebunden, außerdem muß der Bürger, der gewählt werden will, seit mindestens
drei Jahren seinen Wohnsitz oder seinen Geschäftsbetrieb im Staatsgebiet haben.
Man begreift hiernach auch die traurigen sanitären Zustände, die sich bei
der Choleraepidemie des Jahres 1892 in Hamburgs Straßen und Wohnungen
herausstellten. Das Grundeigenthümerinteresse widerstrebt allen Maßregeln und
Reformen, die Kosten verursachen. Und ohne Kosten sind Reformen unmöglich.
Die Vertheilung der politischen Rechte auf die Zahl der Steuerzahler ergiebt
folgendes Resultat:
129000 | Steuerzahler | besitzen | ein | Wahlrecht | 0 |
16400 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 1 |
6000 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 3 |
300 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 20 |
300 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 22 |
1880 betrug die Zahl der Steuerzahler, die Wahlrecht besaßen, noch 26 pCt.,
1890 nur noch 15 pCt. der Steuerzahler. Jm Jahre 1891 vertheilte sich das
Einkommen auf 25905 Bürger also:
9850 | hatten | ein | Einkommen | | über 3600 | Mk. |
4339 | 〃 | 〃 | 〃 | von | 2000-3600 | 〃 |
9456 | 〃 | 〃 | 〃 | 〃 | 600-2000 | 〃 |
2260 versteuerten kein Einkommen, weil sie ein solches unter 600 Mk. besaßen
oder mit der Steuer im Rückstand waren.Das Bürgerrecht im Hamburgischen Staate von Dr. Dränert, 3. Auflage,
herausgegeben von M. Deutschländer, 1893.
Jm Laufe der Jahre wurden mehrfache Versuche gemacht, diese unhalt-
baren Zustände zu ändern. Es wurden Anträge gestellt auf Aufhebung der
Bürgerrechtsgebühren und die Ertheilung des Wahlrechts an alle Staatsangehörigen.
Andere Anträge gingen dahin, das Wahlrecht auf diejenigen Staatsangehörigen
zu beschränken, die 1200 oder 1500 Mk. Einkommen besäßen.
Zweimal, und zwar im Jahre 1872 und 1883, hat ein aus der „Bürger-
schaft“ gewählter Ausschuß beschlossen, zu empfehlen, das Wahlrecht allen steuer-
zahlenden Staatsangehörigen zu gewähren. Aber beide Male ließ das Plenum
seinen Ausschuß im Stich.
Der Sturm der öffentlichen Entrüstung, den die während der Cholera-
periode zu Tage getretenen Mißstände in der Staatsverwaltung in der Ein-
wohnerschaft Hamburg's und weit über Hamburgs Grenzen hinaus hervorgerufen
hatte, brachte die Reformbewegung von Neuem in Fluß. Jnsbesondere war es
die Sozialdemokratie, die auf Umgestaltungen drängte, die Aufhebung der Bürger-
rechtsgebühren und die Zulassung jedes volljährigen Staatsangehörigen zur Wahl
der Bürgerschaft verlangte. Es wurde seitens der Bürgerschaft abermals eine
Kommission eingesetzt, welche nach langen Verhandlungen endlich einen Bericht
über die Reform der Verhandlungen zu Stande brachte. (April 1894.)
Jn diesem Bericht schlug die Mehrheit der Kommission vor, die Bürger-
rechtsgebühr zwar aufzuheben, aber nur unter der Voraussetzung, daß die kosten-
lose Erwerbung des Bürgerrechts nur solchen volljährigen hamburgischen Staats-
angehörigen zustehen solle, die seit mindestens fünf Jahren ansässig gewesen sind
und außerdem von einem Einkommen von mindestens 1500 Mk. Einkommensteuer
bezahlten. Eine Minorität wollte den Einkommensatz aus 1000 oder 1200 Mk. er-
mäßigen. Des weiteren sollten Hamburger, die noch keine fünf Jahre im Staatsgebiet
wohnten oder kein Einkommen von 1500 Mk. versteuerten, das Bürgerrecht durch
Leistung einer Gebühr von 30 Mk. nach wie vor erwerben können.
Die Kommission erklärt zur Begründung ihrer Vorschläge, es gelte, „un-
geeignete Elemente“ aus der Bürgerschaft fern zu halten. Nur „Bürger“ besäßen das
rechte Jnteresse am Gemeinwesen und dazu gehöre nicht nur ein gewisses urtheils-
fähiges Alter und bürgerliche Unbescholtenheit, sondern auch mehrjährige An-
wesenheit und die Fähigkeit, einen eigenen Hausstand in einigermaßen gesicherter
Weise zu begründen und zu erhalten.
Diese Vorschläge entsprechen ganz dem, was man von einer in der Herr-
schaft sitzenden Klasse erwarten kann. 1892 waren die „ungeeigneten Elemente“
sehr geeignet, Samariterdienste zu leisten und die Stadt zu retten von der Lotter-
wirthschaft der privilegirten Klassen, zum „Bürger“ sind sie aber zu schlecht.
Die Vorschläge der Kommission wurden von der Bürgerschaft noch nicht in
Berathung gezogen. Konnte Hamburg mit einer „provisorischen Verfassung“ nahezu
150 Jahre regiert werden, warum jetzt so drängen?
Neuerdings haben sich Senat und Bürgerschaft über die Bedingungen der
Bürgerrechtserwerbung geeinigt und ist mit letzterer alsdann auch das Wahlrecht
verknüpft. Die wesentlichsten Bestimmungen lauten:
§ 1. Deutsche erwerben die Hamburgische Staatsangehörigkeit nach Maß-
gabe der Reichsgesetzgebung.
Ausländer können die Hamburgische Staatsangehörigkeit nur erwerben,
wenn sie – abgesehen von den im § 8 des Bundesgesetzes vom 1. Juni 1870
ausgestellten Erfordernissen – den Nachweis liefern, daß sie
1. das 21. Lebensjahr vollendet haben;
2. aus dem Staatsverbande, dem sie angehört haben, entlassen sind oder
die Sicherheit haben, daß ihnen diese Entlassung für den Fall der
Aufnahme in den hiesigen Staatsverband ertheilt wird.
§ 2. Zum Erwerbe des Hamburgischen Bürgerrechtes ist jeder Volljährige
berechtigt, welcher die Hamburgische Staatsangehörigkeit erworben hat, sich im Besitze
der bürgerlichen Ehrenrechte befindet, nicht auf Grund der Bestimmungen des § 6
unter 2 bis 4 des Bürgerrechtes verlustig geworden ist und während der letzten
5 Jahre ein jährliches Einkommen von mindestens 1200 Mk. hierselbst
versteuert hat oder zu einer hiesigen amtlichen Thätigkeit berufen wird, für welche
die Erwerbung des Bürgerrechtes vorgeschrieben ist, oder zum Referendar oder, ohne
daß er vorher hierselbst als Referendar thätig gewesen ist, zum Assessor ernannt wird.
§ 3. Zum Erwerbe des Bürgerrechtes verpflichtet ist jeder nach
§ 2 dazu berechtigte Staatsangehörige, welcher in drei auf einander
folgenden Jahren ein steuerpflichtiges Einkommen von mindestens
2000 Mk. jährlich gehabt und das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet hat.
Diese Bestimmungen für die Erwerbung des Bürgerrechts in der „Republik“
Hamburg sind so reaktionär als möglich, sie sind weit rückständiger als die gleich-
artigen Bestimmungen in fast allen übrigen Staaten Deutschlands. Damit ist
wieder ein neuer Beweis für die alte Erfahrung geliefert, daß eine Bourgeoisie,
die durch die Sozialdemokratie in Angst und Schrecken gejagt wurde, in der Regel
weit reaktionärer ist als eine Monarchie. Der aus Angst vor dem „Umsturz“
toll gewordene Bourgeois ist der Typus der Feigheit.
Weimar.
Die weimarische Kammer besteht aus 31 Abgeordneten: sie ist zusammen-
gesetzt aus einem Vertreter der begüterten ehemaligen Ritterschaft, aus vier Ver-
tretern der Besitzer inländischen Grundeigenthums von mindestens 8000 Mk. Rente;
aus fünf Vertretern derjenigen Staatsangehörigen, die über 3000 Mk. jährliches
Einkommen haben und aus 21 Abgeordneten, welche die übrigen Staatsangehörigen
wählen, soweit sie das Ortsbürgerrecht besitzen. Die ersten drei Wählerklassen
wählen ihre Abgeordneten direkt, die vierte Klasse wählt indirekt. Das Orts-
bürgerrecht muß durch Kauf erworben werden. Wahlmann kann nur der Orts-
bürger werden, der das 25. Lebensjahr überschritten hat. Zum Abgeordneten
kann nur gewählt werden, wer mindestens das 30. Lebensjahr vollendet hat.
Auch in dem kleinen Großherzogthum Weimar ist, wie man sieht, reichlich
Vorsorge getroffen, daß die demokratischen oder gar die sozialdemokratischen
Bäume nicht in den Himmel wachsen.
Anhalt.
Jm Herzogthum Anhalt ist jeder Staatsangehörige Wähler, der das
25. Lebensjahr zurückgelegt hat. Für den Ausschluß vom Wahlrecht gelten ähnliche
Bestimmungen wie beim Reichstags-Wahlrecht. Es giebt nur eine Kammer.
Die Zahl der Abgeordneten beträgt 36. Von diesen ernennt der Herzog 2;
die höchstbesteuerten Grundbesitzer, die 63 Mk. und mehr Grundsteuer entrichten,
wählen 8 Abgeordnete. Die höchstbesteuerten Handels- und Gewerbetreibenden,
insofern sie mit mehr als 18000 Mk. Einkommen zur Einkommensteuer heran-
gezogen sind, wählen 2 Abgeordnete, die Städte wählen 14, das platte Land
10 Abgeordnete.
Die Wahl der beiden letzterwähnten Kategorien von Abgeordneten erfolgt
indirekt durch Wahlmänner. Wie in Braunschweig, Weimar und anderwärts, so
tritt auch hier ein Bevormundungssystem der Wähler durch Wahlmänner ein,
sobald größere Wählerkreise vorhanden sind. Ein Wahlzensus besteht nicht. Die
22 Städte des Herzogthums bilden 9 Wahlkreise, von denen einer (Dessau) 3,
ein anderer (Bernburg) 2 Abgeordnete wählt. Die Wahlen sind geheim, auf
150 - 200 Einwohner wird ein Wahlmann gewählt.
Mecklenburg.
Die beiden Mecklenburg (Schwerin und Strelitz) sind die einzigen deutschen
Staaten, die noch im Zustande feudalherrlicher Unschuld sich befinden; sie besitzen
noch kein Feigenblatt, genannt konstitutionelle Verfassung, das ihre Blöße deckt.
Der mehrmals wiederholte Beschluß des deutschen Reichstags Anfangs der
siebenziger Jahre, daß jeder deutsche Bundesstaat eine aus Wahlen der Bevölkerung
hervorgegangene Landesvertretung besitzen muß, fand beim Bundesrath keine
Gegenliebe und wanderte in den Papierkorb. Die Serenissimi in den beiden
Mecklenburg und ihre Regierungen, die wußten, daß die Beschlüsse des Reichstags
nur ihnen galten, blieben ungerührt und fuhren fort, zu regieren, als gingen sie
diese Beschlüsse nichts an. Die mittelalterliche landständische Verfassung, nach der
die Korps der Ritter- und der Landschaft nebst einigen ernannten Vertretern der
Städte das Heft in der Hand haben, war zwar ebenfalls in den Bewegungs-
jahren vorübergehend in Gefahr, sogar auch kurze Zeit außer Kraft gesetzt und durch
eine neue Verfassung verdrängt, aber Preußen und der reaktionäre Bundestag
halfen ihren mecklenburgischen Herren Vettern die „alte Ordnung“ wieder her-
stellen, die sich bis heute eines ungeschmälerten Bestandes erfreut.
Jn Mecklenburg wird einstens nur ein Sturm von unten den feudalen
Plunder wegfegen können. Das Bürgerthum ist dazu unfähig.
Das Reichtags-Wahlrecht und die bürgerlichen
Parteien.
Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, daß die bürgerlichen Parteien
mit Ausnahme eines sehr kleinen Bruchtheils ihrer Anhänger auf der Linken und
im Zentrum entschiedene Gegner des allgemeinen gleichen, direkten und geheimen
Wahlrechts sind. Gegner desselben sind mit Ausnahme der württembergischen
Regierung auch die deutschen Regierungen.
Wie war es aber alsdann möglich, daß für den norddeutschen beziehentlich
deutschen Reichstag das demokratischste aller Wahlrechte zur Geltung kam? Diese
Frage liegt nahe und ihre Beantwortung ist nothwendig, aber leicht.
Es wurde bereits hervorgehoben, daß das Frankfurter Parlament im
Jahre 1849 das allgemeine gleiche, direkte und geheime Wahlrecht für alle über
25 Jahre alten Deutschen als Grundlage für die Wahlen zum Parlament beschlossen
hatte. Wahlrechte, die auf der gleichen Grundlage ruhten, eroberten in jener
Zeit der schweren Noth der Regierungen eine ganze Reihe Einzelstaaten, sie fielen
aber, wie gezeigt, der hereinbrechenden Reaktion wieder zum Opfer.
Ende der fünfziger Jahre begann die politische Bewegung aufs Neue. Die
Einheitsbestrebungen traten immer mehr in den Vordergrund, und fanden namentlich
in den im September 1859 in Frankfurt a. M. gegründeten Nationalverein ihren
Sammelpunkt.
Die Bewegung wuchs so, daß sie die Regierungen nicht mehr ignoriren
konnten. Es tauchten allerlei Projekte auf, bis endlich Herr von Beust einen
positiven Vorschlag beim Bundestag einbrachte, dahingehend, daß neben dem
erweiterten Bundestag eine Delegirtenversammlung, gewählt aus den Landes-
vertretungen der Einzelstaaten, zusammentreten sollte, die mit dem Bundestag
allgemeine Gesetze für Deutschland zu vereinbaren habe. Als über dies Projekt es zur
Abstimmung kam, ließ Herr v. Bismarck, der damals bereits preußischer Minister-
präsident war, die ablehnende Haltung Preußens damit motiviren, daß er ausführte:
„nur in einer Vertretung, welche nach Maßgabe der Bevölkerung jedes
Bundesstaats aus letzterer durch unmittelbare Wahlen hervorgehe, könne
die deutsche Nation das berechtigte Organ ihrer Einwirkung auf die gemein-
samen Angelegenheiten finden.“
Wenige Monate zuvor hatte bereits die dritte Generalversammlung des
Nationalvereins, dessen Vorsitzender Herr v. Bennigsen war, beschlossen (6. und
7. Oktober 1862 zu Koburg), daß die Reichsverfassung vom 28. März 1849
sammt Grundrechten und Wahlgesetz zunächst das zu erstrebende Ziel
für die Einigung Deutschlands seien .
Diese Forderung bildete von jetzt ab die Grundlage für die Agitation des
National-Vereins. Derselbe sagte sich mit vollkommenem Recht: wolle er seine
Bestrebungen mit Erfolg gekrönt sehen, so könne dies nur auf Grund eines
Programmes geschehen, für das sich das Volk erwärmte. Als dann im Sommer 1863
Oesterreich mit einem neuen Reformplan hervortrat, erklärte Preußen durch Herrn
von Bismarck abermals, daß nur eine Nationalvertretung hervorgegangen aus
direkter Betheiligung der ganzen Nation, der Sachlage entspreche. So
spielte Bismarck gegenüber den deutschen Fürsten den Radikalen, während er
gleichzeitig im eignen Lande mit der Volksvertretung sich um die Anerkennung der
einfachsten konstitutionellen Grundsätze stritt.
Die Verhältnisse spitzten sich aber immer mehr zu. Die Dinge hatten einen
Lauf genommen, daß eine gründliche Auseinandersetzung zwischen Oesterreich und
Preußen nur eine Frage der Zeit war. Für Bismarck handelte es sich darum,
den Bundestag in Verwirrung zu bringen und zu sprengen, andererseits aber die
öffentliche Meinung Deutschlands für sich zu gewinnen. Mit diesem Ziel vor
Augen beantragte er am 2. April 1866, also wenige Monate vor Ausbruch des
Krieges zwischen Oesterreich und Preußen:
„Hohe Bundesversammlung wolle beschließen, eine aus direkten und
allgemeinen Wahlen hervorgehende Versammlung für einen noch näher
zu bestimmenden Tag einzuberufen, um die Vorlagen der Regierungen über
eine Reform der Bundesverfassung entgegenzunehmen und zu berathen.“
Bismarck's Plan war, auf Grund dieser neuen Verfassung Preußen an die
Spitze Deutschlands zu bringen und Oesterreich aus dem Bunde zu drängen. Er
wußte aber auch, daß dies ohne Krieg nicht möglich war, und so brach derselbe
aus, der ihn über Erwarten rasch seinem Ziele entgegenführte. Sobald er Herr
der Situation war, wurde der konstituirende norddeutsche Reichstag, der als ge-
meinsame Volksvertretung des Norddeutschen Bundes (1867) ins Leben trat, auf
Grund des allgemeinen gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts gewählt, also
aus Grund desselben Wahlrechtes, das seiner Zeit das deutsche Parlament be-
schlossen hatte.
Bismarck erklärte sich für dieses Wahlrecht, weil er wohl wußte, daß nur
dieses seine neue Schöpfung bei den Massen populär machen könne und die beste
Waffe gegen den Partikularismus sei. Als es sich aber darum handelte, das
allgemeine direkte Wahlrecht auch als Grundlage in die Verfassung des Norddeutschen
Bundes auszunehmen, erhob sich aus demselben Lager Widerspruch, in dem man
Jahre lang dasselbe als Köder für die Einheit Deutschlands benutzt hatte.
Herr v. Sybel, Grumbrecht-Harburg, Dr. Meyer-Thorn machten neben ver-
schiedenen Mitgliedern der Rechten schwere Bedenken dagegen geltend. Jnsbesondere
sah Herr v. Sybel „die Diktatur der Demokratie“ aus diesem Wahlrecht hervor-
gehen. Darauf antwortete Bismarck (21. Sitzung am 23. März 1867) unter
anderem Folgendes:
„Das allgemeine Wahlrecht ist uns gewissermaßen als ein Erbtheil der
Entwicklung der deutschen Einheitsbestrebungen überkommen; wir haben es in der
Reichsverfassung gehabt, wie sie in Frankfurt entworfen wurde; wir haben es im
Jahre 1863 den damaligen Bestrebungen Oesterreichs in Frankfurt entgegengesetzt,
und ich kann nur sagen: Jch kenne wenigstens kein besseres Wahlgesetz.
Es hat ja gewiß eine große Anzahl von Mängeln, die machen, daß auch
dieses Wahlgesetz die wirkliche besonnene und berechtigte Meinung eines Volkes
nicht vollständig photographirt und en miniature wiedergiebt, und die verbündeten
Regierungen hängen an diesem Wahlgesetz nicht in dem Maße, daß sie nicht jedes
andere akzeptiren sollten, dessen Vorzüge vor diesem ihnen nachgewiesen werden…
Wir haben einfach genommen, was vorlag und wovon wir glaubten, daß es am
leichtesten annehmbar sein würde, und weitere Hintergedanken dabei nicht gehabt.
Was wollen denn die Herren, die das anfechten, und zwar mit der Beschleunigung,
deren wir bedürfen, an dessen Stelle setzen? Etwa das preußische Dreiklassen-
system? Ja, meine Herren, wer dessen Wirkung und die Konstellationen,
die es im Lande schafft, etwas in der Nähe beobachtet hat, muß
sagen, ein widersinnigeres, elenderes Wahlgesetz ist nicht in irgend
einem Staate ausgedacht worden (Unruhe und Bravo!), ein Wahlgesetz,
welches alles Zusammengehörige auseinanderreißt und Leute zusammenwürfelt, die
nichts mit einander zu thun haben, in jeder Kommune mit anderem Maße mißt.
Leute, die in irgend einer Gemeinde weit über die erste Klasse hinausreichen, diese
allein ausfüllen würden, in einer benachbarten Kommune in die dritte Klasse wirft;
in Gemeinden, wo beispielsweise drei Besitzer jeder ungefähr 200 Thaler Steuern
bezahlen, deren zwei in die erste und den dritten, der sieben Silbergroschen weniger
bezahlt, in die zweite verwirft, wo seine Mitwähler mit 5 Thaler anfangen, und
von den bäuerlichen Besitzern mit 5 Thaler Steuern kommt wieder eine gewisse
Anzahl zu zwei; plötzlich zwischen Hans mit 4 Thaler 7 Sgr. und Kunz mit
4 Thaler 6 Sgr., reißt die Reihe ab, und die anderen werden mit dem Prole-
tariat zusammengeworfen. Wenn der Erfinder dieses Wahlgesetzes sich
die praktische Wirkung desselben vergegenwärtigt hätte, hätte er es
nie gemacht. Eine ähnliche Willkürlichkeit und zugleich eine Härte
liegt in jedem Zensus, eine Härte, die da am fühlbarsten wird, wo
dieser Zensus abreißt, wo die Ausschließung anfängt; wir können es
dem Ausgeschlossenen gegenüber doch wirklich schwer motiviren, daß
er deshalb, weil er nicht dieselbe Steuerquote wie sein Nachbar
zahlt – und er würde sie gern bezahlen, denn sie bedingt ein größeres Ver-
mögen, das er aber nicht hat – er gerade Helot und politisch todt in
diesem Staatswesen sein solle.
Diese Argumentation findet überall an jeder Stelle Anwendung, wo eben
die Reihe Derer, die politisch berichtigt bleiben sollen, abgebrochen wird.“
Bismarck bestätigte also, daß man das allgemeine Wahlrecht als Erbtheil
der deutschen Einheitsbestrebungen aufgenommen habe, er erklärte aber auch weiter,
daß es das beste Wahlrecht sei, was er kenne, und insbesondere verurtheilte
er das preußische Klassenwahlsystem mit einer Schärfe, wie es der größte Gegner
nicht schärfer verurtheilen könnte. Er begnügte sich auch nicht blos mit der Ver-
urtheilung, er begründete auch diese Verurtheilung an der Hand un-
widerleglicher Thatsachen. Daß Bismarck später dennoch mit diesem elendesten
und erbärmlichsten aller Wahlgesetze in Preußen weiter regierte, spricht nur für die
eigenthümliche Moral, die seiner Regierungsweise zu Grunde lag. Sein Urtheil
über das Dreiklassenwahlsystem bleibt richtig, auch wenn er später gegen seine
Ueberzeugung von der Erbärmlichkeit desselben es beibehielt. Seine Gründe dafür
sind ebenfalls kein Geheimniß.
Der Konflikt mit dem preußischen Abgeordnetenhaus, das nach dem
widersinnigsten und elendesten aller Wahlgesetze gewählt war, hatte in konser-
vativen Kreisen schon längst Zweifel an der Zweckmäßigkeit desselben hervor-
gerufen. Als nach der ersten Auflösung des Abgeordnetenhauses (1862) die
Wahlen noch oppositioneller ausfielen, befürwortete die „Konservative Korrespondenz“
offen die Einführung des allgemeinen direkten Wahlrechts, das Drei-
klassenwahlsystem bestehe nicht zu Recht.
Die Erfahrungen bei den preußischen Dreiklassenwahlen trugen dazu bei,
auch Bismarck das allgemeine direkte Wahlsystem als das ihm günstigere erscheinen
zu lassen, wie das unverholen in der Zirkulardepesche vom 24. März 1866 an
den Gesandten München, Prinzen Reuß, zum Ausdruck kommt, in der er wört-
lich schreibt:
„Direkte Wahlen und allgemeines Stimmrecht halte ich für größere
Bürgschaften einer konservativen Haltung als irgend ein künstliches, auf Erzielung
gemachter Majoritäten berechnetes Wahlgesetz. Nach unseren Erfahrungen sind die
Massen ehrlicher bei der Erhaltung staatlicher Ordnung interessirt als die Führer
derjenigen Klassen, die man durch die Einführung irgend eines Zensus in der
aktiven Wahlberechtigung privilegiren möchte.“
„Jch darf es wohl als eine auf langer Erfahrung begründete
Ueberzeugung aussprechen“ (schrieb Bismarck weiter, am 19. April 1866,
an den Grafen Bernsdorf nach London), daß das künstliche System indirekter und
Klassenwahlen ein viel gefährlicheres ist, indem es die Berührung der höchsten
Gewalt mit den gesunden Elementen, die den Kern und die Masse des Volkes
bilden, verhindert. Jn einem Lande mit monarchischen Traditionen und loyaler
Gesinnung wird das allgemeine Stimmrecht, indem es die Einflüsse der
liberalen Bourgeoisie-Klassen beseitigt, auch zu monarchischen Wahlen
führen, ebenso wie in Ländern, wo die Massen revolutionär fühlen, zu anarchischen.
Jn Preußen aber sind neun Zehntel des Volks dem Könige treu und nur durch
künstlichen Mechanismus der Wahl um ihren Ausdruck gebracht. Die Träger
der Revolution sind die Wahlmänner-Kollegien, die der Umsturzpartei ein
über das Land verbreitetes und leicht zu handhabendes Netz gewähren, wie dies
1789 die Pariser Elekteurs gezeigt haben. Jch stehe nicht an, indirekte Wahlen
für eins der wesentlichsten Hilfsmittel der Revolution zu erklären, und ich glaube,
in diesen Dingen praktisch einige Erfahrungen gesammelt zu haben.“
Wie man sieht, richtete sich Bismarck's ganzer Haß in jener Zeit gegen die
liberale Bourgeoisie. Er war des naiven Glaubens, wie er das auch in einer
Unterhaltung mit Lassalle deutlich durchblicken ließ, und wofür die Herrschaft
Napoleons III. während anderthalb Jahrzehnten zu sprechen schien, daß bei
dem allgemeinen direkten Wahlrecht in Preußen eine ihm günstiger gesinnte Kammer
zusammen gekommen wäre.
Als er später dann entdeckte, daß auch mit der Bourgeoisie sehr gut aus-
zukommen sei, einerlei ob ihre Vertreter nach dem Dreiklassenwahlsystem oder dem
allgemeinen gleichen direkten Wahlrecht gewählt werden, wenn man nur ihre
materiellen Jnteressen wahrzunehmen versteht, und er die Erfahrung machte, daß
gerade die Arbeiter ihm die unbequemste und unangenehmste Opposition in den
Reichstag sandten, erschien ihm das Dreiklassenwahlsystem wieder als das genehmere
und er söhnte sich mit ihm aus.
Was liegt an der Elendigkeit, Erbärmlichkeit und Widersinnlichkeit eines
Wahlsystems, sobald es die gewünschten Vertreter schafft! Alsdann hat es seine
Aufgabe und seinen Zweck erfüllt.
Die Nationalliberalen aber waren von der neiuenneuen deutschen Herrlichkeit und dem
Ausfall der ersten Wahlen zum Norddeutschen Reichstag, ungeachtet der Bedenken
einiger ihrer Mitglieder, so entzückt, daß sie Bnin einem Wahlaufruf für die
preußischen Landtagswahlen, unterzeichnet von v. eennigsenBennigsen. Lasker, Miquel u. s. w.,
das allgemeine, gleiche, direkte und gnheimegeheime Wahlrecht für das
„festeste Bollwerk der Freiheit“ erklärte und verkündeten:
„Preußens Geschicke sind enger als jemals mit den Lebensbedingungen
des deutschen Volksgeistes verknüpft; sie werden sich um so schleuniger und glor-
reicher erfüllen, je weiter und breiter die Betheiligung aller Klassen herangezogen
wird. Das beschränkte Klassenwahlsystem hat sich überlebt und der nächste
Landtag wird zu prüfen haben, in welcher Weise und unter was für Voraus-
setzungen der Uebergang zum allgemeinen Stimmrecht zu bereiten ist.“
Heute sind die Unterzeichner jenes Aufrufs, soweit sie noch am Leben sind,
nebst ihren Parteigenossen die eifrigsten Anhänger des „überlebten, be-
schränkten Klassenwahlsystems“, und sie arbeiteten am eifrigsten an der oben
skizzirten „Reform“ dieses Wahlsystems.
Damals (1867) begeisterte man sich aber nicht blos für das allgemeine Wahl-
recht, man hielt auch die Diäten für die Reichstags-Abgeordneten für unumgänglich
nöthig. Bismarck hatte bei der Schlußberathung der norddeutschen Bundes-
verfassung erklärt, daß die verbündeten Regierungen lieber auf das Verfassungs-
werk verzichteten, als die Diäten bewilligten – man sieht, seine Schwärmerei für
das allgemeine Wahlrecht hatte enge Grenzen – darauf antwortete Herr v. Bennigsen
in der 33. Sitzung am 15. April 1867:
„Jch halte es für ein ganz bedenkliches Experiment, daß in einem deutschen
Parlamente die Diäten beseitigt werden sollen. Meine Herren! Jch weiß nicht,
welche Folgen davon für den Reichstag hervorgerufen werden; ich halte diese
Folgen für durchaus unberechenbar, und ich habe es daher sehr beklagt, daß von
Seiten der Regierung ein solches Gewicht auf diese Frage gelegt wird… Jch
hoffe von den nächsten Jahren, daß es möglich sein wird, im Reichstag über die
Bewilligung der Diäten im Wege der Gesetzgebung eine andere Vereinbarung zu treffen.“
So Herr v. Bennigsen damals. Heute betrachtet er die Bewilligung der
Diäten als eine Art Kompensation für eine Verschlechterung oder Beseitigung des
allgemeinen Wahlrechts, das deutete er in einer der letzten Sessionen des Reichs-
tags sehr deutlich an. 1867 stimmte auch, ungeachtet der Erklärung Bismarck's,
ein Theil der Parteigenossen v. Bennigsen's, darunter v. Forkenbeck, Fries-
Weimar, Dr. Gneist, Grumbrecht, Lasker, Wölfel für die Diäten, wohingegen
mit v. Bennigsen Dr. Braun-Wiesbaden, Miquel u. a., dem Wunsche Bismarck's
folgend, gegen dieselben stimmten. Damals waren die Nationalliberalen im Ver-
gleich zu heute noch Männer zu nennen, gegenwärtig sind sie die traurigsten,
unmännlichsten Politiker unseres Zeitalters.
Welch seltsame Blüthen die Begeisterung der damaligen Zeit trieb, dafür spricht
ein Antrag v. Kardorff's im preußischen Landtag im Jahre 1869. Die Regierung
hatte einen Gesetzentwurf eingebracht, betreffend eine anderweite Feststellung der
Wahlbezirke. Kardorff beantragte, denselben abzulehnen und dagegen zu beschließen:
„Der Königlichen Staatsregierung zur Erwägung zu geben, ob es sich nicht
im allgemeinen politischen Jnteresse empfehlen dürfte, die Zusammensetzung des
preußischen Abgeordnetenhauses in Bezug auf Abgrenzung der Wahlbezirke,
Wahlmodus und Zahl der Abgeordneten mit der des Reichstags in
Einklang zu bringen und damit eine nähere organische Verbindung
der beiden Körperschaften anzubahnen.“
Der Antrag bezweckte also im Grunde genommen, daß die preußischen
Reichstags-Abgeordneten in der Hauptsache auch die Mitglieder der zweiten
Kammer des Landtages seien. Herr v. Kardorff gehört heute ebenfalls zu jenen,
die über ihre damaligen Jugendsünden Buße in Sack und Asche thun.
Betrachtet man heute die Parteien des Reichstags in Bezug auf ihre
Stellung zum allgemeinen gleichen Wahlrecht, so müssen die konservativen Parteien
(Deutschkonservative und Reichspartei) mit den Nationalliberalen als ent-
schiedene Gegner desselben angesehen werden; sie würden es lieber heute als
morgen aus der Welt schaffen, sie haben nur noch nicht den Muth, dies offen
auszusprechen und ihm die Axt an die Wurzel zu legen. Das Zentrum ist zum
Theil ein stiller Gegner, zum Theil ein sehr lauer Freund desselben – siehe die
Haltung der Anhänger des Zentrums im preußischen und bayerischen Landtag.
Nur vereinzelte Mitglieder des Zentrums sind ehrliche Anhänger des allgemeinen
gleichen und direkten Wahlrechts.
Aehnlich wie im Zentrum steht es in der freisinnigen Partei. Eifer und
Wärme für das allgemeine gleiche Wahlrecht fehlen. Würde es abzuschaffen ver-
sucht, man würde dagegen kämpfen, gelänge aber der Versuch, man würde sich
nicht darüber grämen.
Daß bei dieser eigenthümlichen Situation dennoch die Gegnerschaft bisher
sich nur selten offen gegen das allgemeine Wahlrecht aussprach, liegt in der
Scheu vor den Massen des Volkes, denen dasselbe ans Herz gewachsen ist, und
in der Furcht vor der Aufregung dieser Massen, falls der Versuch gemacht werden
sollte, es zu beseitigen. Etwas zu verweigern, was man noch nicht besitzt, ist
weit leichter, als etwas zu nehmen, was man bereits in Händen hat.
Das Blatt, das seit Jahren rücksichtslos und schamlos für die Beseitigung
des allgemeinen Wahlrechts eintritt, ist das Organ der rheinischen Bourgeoisie,
die „Kölnische Zeitung“. Wie einst für die Junker der Mensch erst mit dem
Baron begann, so beginnt für jene Klasse, die Bourgeoisie, der Mensch erst, wenn
er das Reservelieutenantspatent oder den Titel „Rath“ in der Tasche hat oder
mindestens hunderttausend Mark im Vermögen besitzt. Alle anderen Menschen
sind Lumpen, höchstens nütze als Stimmvieh, das keine eigene Meinung haben
darf, sondern verpflichtet ist, die Leute mit der satten Tugend und der zahlungs-
fähigen Moral, die Leute von „Besitz und Bildung“ als seine Vertreter zu wählen.
Diese Bourgeoisie voller Anmaßung, ebenso intolerant wie verfolgungssüchtig
gegen Andersdenkende, dabei voll Verachtung vor dem Arbeiter, der ihr den Reichthum
erwirbt, der ihr das Wohlleben und die Vorrechte ermöglicht, ist heute die
mächtigste Klasse in der Gesellschaft. Sie möchte auch die Alles beherrschende sein.
Es gab allerdings eine Zeit, es ist freilich schon etwas lange her, in der das
Organ dieser Klasse am Rhein, die „ Kölnische Zeitung“, über das allgemeine gleiche
direkte Wahlrecht ganz anders dachte. Damals schrieb das edle Blatt:
„Man kann sagen – und hat es oftmals gesagt –, daß Vermögen keine
sichere Bürgschaft gewährt für Rechtlichkeit, Geschicklichkeit und Vaterlandsliebe,
daß es Pöbel unter allen Ständen gebe und der vornehme noch gefährlicher sei
als der geringe. Erzeugt man nicht Pöbel, indem man alle Besitzlosen oder
wenig Begüterten zu Pöbel stempelt? Wird nicht die bürgerliche Ordnung da-
durch befestigt, daß Jeder innerhalb derselben eine Stelle findet? Man kann
endlich sich auf einen höheren Standpunkt stellen, und den Staat nicht mehr als
Zweck betrachten, sondern als bloßes Mittel. Er ist eine Erziehungsanstalt der
Menschheit. Und wozu soll ein jeder Mensch erzogen werden, wenn nicht zur
Selbständigkeit? Selbständigkeit, eine Persönlichkeit, welche ihr Gesetz in sich hat,
ist die Blüthe dieses Lebens und der Keim des zukünftigen. Wie kann aber Jemand
zur Selbständigkeit gelangen, welcher nicht selbst einen Willen haben darf, sondern
stets dem Willen Anderer folgen muß?
Doch über alle solche allgemeine Betrachtungen werden Machiavelli's Jünger
nur lächeln und fortfahren, von der Unmündigkeit des großen Haufens zu reden;
denn sie wollen diese Verleumdung der Menschheit, wie alles Uebrige, aus guter
Hand haben, aus der Erfahrung. Wohlan, so laßt uns die Erfahrung fragen,
was lehrt sie uns? Sie lehrt uns, daß Versammlungen, welche aus
Geistlichen, Adeligen und Hochbesteuerten bestanden, stets und aller
Orten Gesetze gemacht haben, die ihren eigenen Vortheil zunächst be-
förderten, und es ist beinahe lächerlich, etwas Anderes zu erwarten.
Sie lehrt uns, daß in jedem Staate, wo die Minderheit Gesetze giebt,
die Mehrheit unzufrieden ist.
Und das Vertrauen, welches der Staat in seine Bürger durch Verleihung
des allgemeinen Stimmrechts setzt, bewährt sich – auf glänzende Weise. Der
Mensch fängt unter der freien Verfassung selbst zu denken und zu reden an. Er
wird wie umgewandelt. Er wirft seine Blödigkeit ab, ein neuer Geist, ein Pfingsten
kommt über ihn, er spricht beherzt seine Meinung aus und zeigt oft mehr Verstand
und politische Reife, als manches Mitglied der preußischen Herren-Kurie, als
mancher deutsche Professor des Staatsrechts. So wahr ist es, daß nur die Frei-
heit zur Freiheit erzieht.“
So die große rheinische Vettel nach den Märztagen von 1848. Heute
redet sie in einer ganz anderen Sprache. Der freie Mensch von 1848, der selbst
denkt und redet und oft mehr Wissen und politische Reife besaß, als manches
Mitglied der preußischen Herrenkurie oder als mancher deutscher Professor des
Staatsrechts (Nachbarin, euer Fläschchen! Der Verf.), ist heute am Ende des neun-
zehnten Jahrhunderts politisch unwissend, roh, dünkelhaft, von der Phrase be-
einflußt, er gehört mit einem Wort zum Pöbel.
Die Partei der „Kölnischen Zeitung“, die nationalliberale Partei, konnte bis-
her das allgemeine gleiche Wahlrecht noch nicht beseitigen, so suchte sie wenigstens
seine Wirkungen einzudämmen. Herr v. Bennigsen brachte im Jahre 1887 im
Kartellreichstag, in dem eine Majorität ihm sicher war, den Antrag ein, die
Wahlperioden von drei Jahren auf fünf Jahre zu verlängern. Und so geschah
es. Man hatte die Stirn, die Verlängerung der Wahlperioden mit der all-
gemeinen Wahlmüdigkeit zu begründen. Wahlmüde ist aber nur die Bourgeoisie,
weil sie die Wahlen als ein Volksgericht fürchtet. Die Wahlbetheiligung bei den
Reichstagswahlen hat sich, wie nachgewiesen wurde, stetig gehoben, dagegen ist die
Wahlbetheiligung bei dem elendesten und erbärmlichsten aller Wahlsysteme, dem
Dreiklassenwahlsystem, beständig gesunken.
Heute muß in Deutschland das allgemeine Wahlrecht gegen die Angriffe
seiner offenen und heimlichen Feinde vertheidigt werden, an eine Ausdehnung des-
selben auf die Wahl der Landtage denkt in den bürgerlichen Parteien ernstlich
Niemand. Die einzige Partei, die es rückhaltlos vertheidigt und zugleich mit
Eifer und Hingebung seine Ausdehnung erstrebt, ist die Sozialdemokratie. Und
zwar erstrebt sie die Ausdehnung desselben nicht nur auf die Wahl der Landtage,
sondern auch in dem Sinne, daß alle Staatsbürger, die das 21. Lebens-
jahr zurückgelegt haben, wahlberechtigt sind.
Mit vollendetem 20. Lebensjahr muß der Mann seine Kräfte dem Dienst
des Landes Freiheit und Unabhängigkeit zur Verfügung stellen, er muß Soldat
werden. Mit dem vollendeten 21. Lebensjahr wird er für rechtsfähig erklärt, sein
Vermögen zu verwalten, er wird mündig. Seine Steuerkraft zur Unterhaltung
des Staates wird bereits weit früher in Anspruch genommen durch die Leistung
direkter und indirekter Abgaben.
Beansprucht die Bourgeoisie ein größeres Maß von Rechten, weil sie an-
geblich mehr durch direkte Steuern für das Gemeinwesen leiste, so vergißt sie:
1. daß das höhere Einkommen oder das Vermögen, von dem sie die höheren
Steuern entrichtet, durch die Ausbeutung der Arbeitskraft der Arbeiter-
klasse erworben ist;
2. daß die Arbeiterklasse es vorzugsweise ist, die durch den
Militärdienst sie in ihrem Einkommen und ausbeuterischen Erwerbe
schützt und gegebenen Falles ihr Blut für sie verspritzen, ja ihr Leben
opfern muß;
3. daß die Arbeiterklasse, weit mehr als ihr Einkommen recht-
fertigt, zu den öffentlichen Lasten beiträgt und insbesondere die
Lasten der indirekten Steuern vorzugsweise zu tragen hat; Bekanntlich werden die Reichsausgaben hauptsächlich durch die Einnahmen
aus den indirekten Steuern bestritten, die ungerechteste Besteuerung, die es giebt,
die namentlich die großen unbemittelten Massen zu tragen haben.
Der Netto-Ertrag der Zölle und indirekten Steuern, d. h. der Ertrag
nach Abzug der Erhebungskosten, wurde für das Etatsjahr 1894/95, in runder
Summe veranschlagt, für die
Zölle | 349706000 Mk. |
Jnländ. Tabaksteuer | 11082000 〃 |
Zuckersteuer | 75406000 〃 |
Salzsteuer | 42742000 〃 |
Branntweinsteuer | 118081000 〃 |
Brausteuer und Uebergangsabgabe von Bier | 24856000 〃 |
Stempelabgaben | 34045000 〃 |
Jn Summa | 655918000 Mk. |
Das ergiebt auf den Kopf der Bevölkerung rund 13 Mk. Nicht in-
begriffen sind in obigen Beträgen die Erträge der Biersteuer in Bayern, Württem-
berg, Baden und Elsaß-Lothringen, die 1892 rund 50 Millionen Mk. ergab, die
Erträge der inländischen Weinsteuerꝛc.
4. daß nach dem Grundsatz, wer Pflichten hat, soll auch auch Rechte haben,
das Wahlrecht ein selbstverständliches Recht ist;
5. daß der Staat, wenn er ein Rechtsstaat und kein Klassenstaat sein will, nach
den einfachsten Grundsätzen der Gerechtigkeit jedem mündigen Staatsangehörigen
Wahlrecht gewähren muß;
Endlich
6. daß das Wahlrecht einem jeden mündigen Staatsangehörigen auch gewährt
werden muß, damit er ein legales Mittel besitzt, durch dessen Anwendung ihm
ermöglicht wird, staatliche und soziale Einrichtungen zu schaffen, die Jedem eine
menschenwürdige Existenz ermöglichen.
Soll es der Zweck des Staates sein, wie seine Vertheidiger behaupten, das
Wohlsein aller seiner Angehörigen gleich und gerecht zu fördern, so muß es
gerade Jenen, die des Schutzes und der Hilfe am meisten bedürfen,
ermöglicht werden, diesen Staatszweck zu verwirklichen, denn es ist, um die oben
zitirten Ausführungen der „Kölnischen Zeitung“ zu wiederholen, eine Thatsache:
daß Versammlungen von Privilegirten, Geistlichen, Adeligen
und Höchstbesteuerten, stets und aller Orten Gesetze gemacht haben,
die ihren eigenen Vortheil zunächst beförderten, so daß es beinahe
lächerlich ist, etwas Anderes von Jhnen zu erwarten.
Bei allen deutschen Völkerschaften der früheren Zeit erhielt der junge Mann in
dem Augenblick, in dem er wehrfähig erklärt wurde, als Zeichen dafür die Wehre,
das Gewehre ausgehändigt. Das geschah in der Regel schon mit vollendetem
18. Lebensjahr. Dann erlangte er aber gleichzeitig das Recht, in den öffentlichen
Angelegenheiten mitzusprechen. Er erhielt das Stimmrecht in der Volks-
versammlung, der Versammlung aller wehrfähigen freien Männer. Dieses Recht
wird noch gehandhabt in den Urkantonen der Schweiz und im Appenzellerland.
Jn der ganzen Schweiz erhält das Wahlrecht jeder Schweizerbürger in
allen öffentlichen Angelegenheiten (für die National-, Kantonal-, Gemeinderaths-
wahlen ꝛc.) mit dem vollendeten 20. Lebensjahr.
Ebenso besitzt jeder Franzose mit vollendeten 21. Lebensjahr das Staats-
und Gemeindewahlrecht. Mit demselben Lebensalter beginnt das Wahlfähigkeits-
alter in England und den Vereinigten Staaten.
Aber wozu in die Ferne schweifen, liegen die Beispiele doch so nahe. Jn
Bayern ist jeder Staatsangehörige, wenn er sonst die Bedingungen der Wähl-
barkeit erfüllt, mit dem vollendeten 21. Lebensjahr Urwähler. Das gilt auch von
einer Reihe anderer Staaten, z. B. von Weimar. Jn Sachsen bestand 50 Jahre
lang für die Landgemeinde-Wahlen die Bestimmung, daß jeder über 21 Jahre alte
Gemeinde-Angehörige das Wahlrecht besaß. Die Bestimmung wurde in den
achtziger Jahren zunächst von der reaktionären zweiten Kammer abgeschafft; nicht,
weil sie sich nicht bewährt hatte, sondern wieder aus Angst vor der Sozial-
demokratie, die in die Gemeinderäthe gelangte.
Jn den ersten Kammern werden die Mitglieder der privilegirten Geschlechter
zugelassen, sobald sie das 21. Lebensjahr vollendet haben, die Prinzen sogar schon
nach vollendetem 18. Lebensjahr. Was also die Sozialdemokratie verlangt, besteht
sowohl vielfach in Deutschland, wie in großen Kulturländern ersten Ranges all-
gemein. An allgemeiner Bildung steht aber das deutsche Volk, und speziell die
deutsche Arbeiterklasse, hinter keinem Volk und keiner Arbeiterklasse der Welt zurück,
und so kann man billiger und gerechter Weise dem deutschen Volke nicht verweigern,
was andere längst besitzen.
Freilich, in der nationalliberalen Partei, die stets die Fahne der Reaktion
allen Parteien voranträgt, besteht eine andere Ansicht. Den Muth, zu fordern, daß
das allgemeine Wahlrecht abgeschafft werde, besitzt man nicht überall, dagegen wäre
es keine Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts, wie ein Blatt dieser Partei im
Sommer 1894 mit echt jesuitischer Kasuistik bemerkte – und im politischen Jesuitismus
sind die Nationalliberalen Meister – wenn das Wahlfähigkeits-Alter erhöht würde.
Das Blatt schreibt: „Eine Verletzung des Staats-Grundgesetzes wäre es beispielsweise
nicht, wenn der Wunsch vorherrscht, daß das Wahlrecht allgemein in einem Alter
geübt wird, das ein verständiges Staatsbewußtsein verbürgt. Das Alter von
25 Jahren hat es heut zu Tage nicht mehr. Die Sorge um die Existenz,
die Grundlage für eine sichere Berufsarbeit zu legen, absorbirt seine Jnteressen.“
Der politische Jesuit, der dieses schrieb, will offenbar das stimmfähige Alter
auf das 30. Lebensjahr erhöhen, ein Vorschlag, der auch schon in antisemitischen
Blättern auftauchte. Aber woran der Herr nicht dachte, ist, daß die große
Mehrheit der Arbeiter vom 20.-30. Lebensjahr vergleichsweise am sorgen-
freiesten lebt; ihre schwersten Sorgen beginnen in der Regel nach dem 30. Lebens-
jahre, wenn die Familie wächst, und noch mehr mit dem 40. Lebensjahre und
später, wenn sie in den mit christlicher Liebe regierten Staats- und
Privatbetrieben kein Unterkommen mehr finden, weil man sie für zu
alt erachtet. Ein weiteres Wort dem hier ausgesprochenen Gedanken entgegen-
zusetzen, erübrigt sich.
4
Das Stimmrecht der Frauen.
Jst es dem deutschen Bourgeois und dem deutschen Philister ein ungeheuerlich
erscheinender Gedanke, die Altersgrenze für die Ausübung des allgemeinen gleichen
Wahlrechts auf das vollendete 20. oder 21. Lebensjahr herabzusetzen, so erscheint
ihm die Forderung, auch den Frauen das Stimmrecht zu gewähren, als Ausbund
der Tollheit, als Wahnsinn. Ueber die Berechtigung dieser Forderung haben wir
uns in unserem Buche „Die Frau und der Sozialismus“Verlag von J. H. W. Dietz, Stuttgart. 24. Auflage. ausführlich ausgesprochen,
wir können hier uns kurz fassen.
Für die Gewährung des Stimmrechts an die Frauen sprechen alle Gründe,
mit Ausnahme der beiden ersten, die oben (Seile 48) für das Stimmrecht der
Männer angeführt wurden. Soldat brauchen die Frauen nicht zu werden, aber
die Frauen gebären und erziehen die künftigen Soldaten. Und dieses Geschäft
ist weit lebensgefährlicher als das, Soldat zu sein. Die Zahl der
Frauen, die im Laufe der Jahrzehnte in Folge von Geburten sterben
oder siech durchs Leben wandern, ist weit größer als die Zahl der
Soldaten, die im Kriege fallen oder verwundet werden. So starben
in Preußen allein in dem Zeitraum von 1816-1876 321791 Frauen am Kind-
bettfieber. An dieser einzigen Krankheit starben also weit mehr Frauen, als in
demselben Zeitraum in Preußen Männer in Folge von Kriegen oder Revolutionen
starben. Und ebenso ist die Zahl der durch die Folgen des Wochenbetts siechen
Frauen, die meist frühzeitig sterben, eine vielfach größere, als die Zahl der im
Kriege oder bei Volksaufständen verwundeten Männer.
Ein weiterer Grund für das Stimmrecht der Frauen ist, daß viele Millionen
von ihnen heute produktiv thätig sind und den Lebensunterhalt für sich und
ihre Familien genau so verdienen wie die Männer. Jm Jahre 1892 betrug die
Zahl der in den der Gewerbe-Jnspektion unterstellten Betrieben beschäftigten
weiblichen Arbeitskräfte bereits nahe an 700000. Hierzu kommen die in den
Handels- und Verkehrsgewerben, im Kleingewerbe, in der Hausindustrie, in den
geistigen Berufen, in der Landwirthschaft und als Dienstboten beschäftigten weib-
lichen Arbeitskräfte, die sich in Summa aus mindestens 5 Millionen Köpfe belaufen.
Alle diese Frauen sind wesentlich interessirt an unserer Handels- und Zollgesetz-
gebung, an der Gewerbegesetzgebung mit speziellem Bezug auf den Arbeiterschutz,
an der Besteuerung, an dem Zustand des Erziehungswesens. Weiter sind sie
interessirt an all den gesetzlichen und öffentlichen Maßnahmen, von denen Krieg
oder Friede, Arbeit und Verdienst oder Arbeitsmangel und Verdienstlosigkeit abhängen.
Dieses Alles geht sogar die vielen Millionen Ehefrauen ebenso gut wie ihre
Männer an, die in der häuslichen Rolle als Erhalter und Verwalter des Verdienten
und Erworbenen und als die Erzieher der Kinder beschäftigt sind. Von der Natur
der öffentlichen Zustände hängt weit mehr als von dem guten Willen, der Jntelligenz
und Kraft der Einzelnen Wohl und Wehe der Familie ab.
Ferner giebt es Millionen Frauen, die den Kampf ums Dasein für sich
selbst und ihre Angehörigen zu führen haben, weil kein Mann, der diesen Kampf
übernimmt, an ihrer Seite steht. Die Leistung direkter und indirekter Steuern ist
für die Frauen eben so selbstverständlich wie für die Männer. Begeht die Frau
ein Vergehen oder Verbrechen, so wird ihre Verurtheilung und Strafe genau nach
demselben Gesetz bemessen, das für die Männer gilt. Sie hat also dieselben Pflichten
wie der Mann, warum nicht auch dieselben Rechte?
Der Einwand, sie verstehe nichts von öffentlichen Angelegenheiten trifft sie
nicht mehr als Millionen Männer, welche die vornehmste Pflicht eines Staats-
bürgers, sich um dieselben zu bekümmern, vernachlässigen. Mit der Gewährung
von Rechten kommt das Jnteresse, mit der Uebung der Rechte die Einsicht. Um
schwimmen zu lernen, muß ich ins Wasser gehen können, sonst lerne ich es nicht.
Jn der Vorzeit besaßen die Frauen die gleichen Rechte wie die Männer.
Die Entwicklung des Privateigenthums, und die daraus hervorgehende Herrschaft
des Mannes raubte sie ihnen. Die sozialen Verhältnisse der modernen Zeit
haben die Stellung der Frau total verändert, sie wird immer mehr die Genossin
statt die Untergebene des Mannes. Diese Aenderung ihrer sozialen Stellung verlangt
eine gleiche Aenderung ihrer öffentlichen Stellung.
Jm Staate Wyoming der Vereinigten Staaten Nordamerikas besitzen die
Frauen seit 25 Jahren das gleiche Stimmrecht wie die Männer und werden gleich
diesen für öffentliche Stellungen gewählt, beides mit dem ausgezeichnetsten Erfolg.
Aehnliches trat seitdem in andern Staaten der Union ein. Jn den Staaten
Colorado und Arizona besitzen die Frauen seit einigen Jahren das politische
Stimmrecht, ebenso neuerdings in Minnesota. Jn 22 Staaten der Union besitzen
die Frauen das aktive und passive Wahlrecht für die Schulverwaltung. Jn Kansas,
Nebraska, Arizona, Dakota, Jdaho und Montana ist ihnen das Gemeinde-Wahlrecht
eingeräumt unter der Voraussetzung, daß sie Bürgerinnen sind. Jn Argonia
(Kansas) wurde 1887 die Frau eines Arztes zum Bürgermeister gewählt, das
gleiche geschah 1893 in Onesunga aus Neuseeland. Jn letzterem Lande besitzen sie seit
1893 das Parlaments-Wahlrecht und betheiligten sich sehr lebhaft an demselben.
Jn Schweden haben seit 10 Jahren die Frauen das Wahlrecht für die
Bezirks- und Gemeindewahlen unter den gleichen Bedingungen wie die Männer.
Die Frage des Frauen-Stimmrechts in England hat bereits eine Geschichte
hinter sich. 1886 gelang es endlich, einen Antrag auf Ertheilung des Stimmrechts
für Parlamentswahlen an die Frauen in zwei Lesungen zur Annahme zu bringen.
Die Auflösung des Parlaments verhinderte die letzte Entscheidung. Jm Jahre 1892
wurde ein ähnlicher Antrag nur mit 175 gegen 152 Stimmen verworfen; seitdem
kam kein neuer Antrag wieder zur Verhandlung. Dagegen besitzen in den meisten
Kreisen Englands die Frauen das gleiche Stimmrecht wie die Männer für die
Schul- und Armenkommissionen. Jn Frankreich kann eine Frau, die Jnhaberin
eines Handels- oder Fabrikbetriebs ist, das Wahlrecht für die Handelsgerichte
ausüben, sie kann aber nicht gewählt werden. Jn Sachsen besitzt die Frau, die
Grundbesitzerin und unverheirathet ist, das Gemeinde-Wahlrecht, aber sie darf
nicht gewählt werden.
Eine Menge ähnlicher Beispiele ließen sich noch anführen, die angeführten
genügen aber, um zu zeigen, daß auch das Stimmrecht der Frauen bereits weit
mehr Gelthung sich erobert hat, als der deutsche Philister sich träumen läßt.
Es ist nur eine Frage der Zeit, daß es allgemein zur Geltung kommt, und
die Sozialdemokratie ist die einzige Partei, die es in ihrem Programm fordert.
Das Proportional-Wahlsystem.
Jst das allgemeine gleiche, direkte und geheime Wahlrecht das demokratischste
Wahlrecht, so ist dagegen die Art, wie es gehandhabt wird, noch eine sehr mangelhafte.
Zweck einer Wahl ist oder soll sein, die Stimmung der Wähler durch die
gewählten Abgeordneten zu einem, wir möchten sagen, photographisch getreuen
Ausdruck zu bringen. Dieses geschieht aber keineswegs durch die Eintheilung des
Landes in Wahlkreis- und durch die Wahl der Volksvertreter innerhalb derselben
nach der absoluten Mehrheit der abgegebenen Stimmen.
Bei dieser Art der Stimmabgabe und der Stimmzählung kann es geschehen
und geschieht thatsächlich daß eine Mehrheit der Vertreter nur eine Minderheit
der abgegebenen Stimmen hinter sich hat, die Wahl also ein ganz falsches Bild
der Volksstimmung giebt. Als z. B. im Jahr 1887 der Reichstag wegen Verweigerung
einer Militärvorlage ausgelöst wurde, ergab die daraus folgende Hauptwahl das
Resultat, daß eine Zusammenstellung der Stimmen derjenigen Parteien, die gegen
die Militärvorlage sich erklärt hatten, über 100000 Stimmen mehr auf ihre
Kandidaten vereinigt hatten, als diejenigen, die für die Militärvorlage stimmten.
Die Vertreter der Letzteren hatten aber im Reichstag die Mehrheit.
4*
Noch auffälliger war das Resultat der Wahlen im Jahre 1898, die bekannt-
lich ebenfalls stattfanden, weil die Mehrheit des aufgelösten Reichstags eine neue
Militärvorlage abgelehnt hatte. Bei der Hauptwahl entfielen auf die Kandidaten
der Gegner der Vorlage rund 4233000 Stimmen, die Anhänger vereinigten
3225000 Stimmen auf ihre Kandidaten, also 1098000 Stimmen weniger. Aber
im Reichstag hatte die Minderheit der Stimmen die Mehrheit der Vertreter auf
ihre Seite, indem die Vorlage mit einer Mehrheit von 12 Stimmen ange-
nommen wurde.
Dieser seltsame Widerspruch erklärt sich zum Theil aus dem Resultat der
engeren Wahlen, bei welchen die seltsamsten Verbindungen zwischen den Parteien
vorkommen, er erklärt sich aber hauptsächlich dadurch, daß viele hunderttausend
Stimmen bei der Art der Wahl wirkungslos unter den Tisch fallen und keinen
Einfluß auf das Resultat ausüben. So hatte z. B. im Jahre 1887 die Sozial-
demokratie in Sachsen unter 519008 abgegebenen gültigen Stimmen 149270.
Von den 23 sächsischen Vertretern im Reichstag erhielt sie aber nicht einen, obgleich
im Verhältniß der für sie abgegebenen Stimmen ihr mindestens 6 Mandate
gebührten. Diese Anomalie wird auch durch die Ungleichheit der Wahlkreise
befördert, wonach z. B. Schaumburg-Lippe, das im Jahre 1890 rund 40000 Ein-
wohner hatte, ebenso einen Vertreter wählt wie der vierte Berliner Wahlkreis, der
damals 488000 Einwohner hatte. Jm ersteren Wahlkreis konnte von rund 8000
Wählern, wenn sie sämmtlich stimmen, ein Abgeordneter gewählt werden, der 4001
Stimmen auf sich vereinigt, im vierten Berliner Wahlkreis brauchte unter der gleichen
Voraussetzung, daß alle Wähler stimmten, der Kandidat bei rund 97600 Wählern
mindestens 48801 Stimmen. Aber auch bei gleich großen Wahlkreisen kann bei
dem gegenwärtigen System die Minorität zur Majorität werden. Nehmen wir
folgendes Beispiel. Jn sechs Wahlkreisen werden genau gleichviel Stimmen abge-
geben und zwar in jedem rund 20000. Dieselben vertheilen sich aber in folgender
Weise auf drei Parteien. Es erhalten im Wahlkreise:
| A. | B. | C. | D. | E. | F. | Jnsgesammt |
die Konservativen | 11000 | 1800 | 1200 | 10200 | 1900 | 10500 | = 36300 |
die Sozialdemokraten | 6500 | 7800 | 13500 | 8000 | 7000 | 7900 | = 50700 |
das Zentrum | 2500 | 10400 | 5300 | 1800 | 11100 | 1400 | = 32500. |
Nach einem solchen Stimmausfall in den sechs Wahlkreisen haben die
Konservativen mit 36300 Stimmen 3 Abgeordnete, das Zentrum mit 32500 Stim-
men hat 2 Abgeordnete, und die Sozialdemokraten mit 50700 Stimmen haben nur
1 Abgeordneten erhalten. Die Ungerechtigkeit der Vertheilung der Abgeordneten
liegt auf der Hand; dabei ist die Wahl in alter Ordnung verlaufen, es ist nicht
einmal eine Stichwahl mit unnatürlicher Verbindung der Parteien nothwendig
gewesen.
Das Bild im Kleinen, was wir hier geben, entspricht ziemlich genau der
Wirklichkeit im Großen, wie folgende Zahlen zeigen. Bei den Reichstags-Wahlen
Juli 1893 betheiligten sich bei der Hauptwahl von 10628292 eingetragenen
Wählern 7702265, die 7673973 gültige Stimmen abgaben. Es entfielen also
auf durchschnittlich 19330 gültige Stimmen ein Abgeordneter. Es erhielten in
jener Wahl:
| Stimmen | wirklich
Abgeordnete | statt
Abgeordnete |
Deutschkonservative | 1038353 | 68 | 54 |
Deutsche Reichspartei | 438345 | 27 | 23 |
Nationalliberale | 996980 | 52 | 52 |
Freisinnige Vereinigung | 258481 | 13 | 13 |
Volkspartei | 666439 | 22 | 34 |
Süddeutsche Volkspartei | 166757 | 11 | 9 |
Zentrum | 1468501 | 99 | 76 |
Polen | 229531 | 19 | 12 |
Deutsche Reformpartei (Antisem.) | 263861 | 10 | 14 |
Sozialdemokraten | 1786738 | 43 | 95 |
Weitere 345925 Stimmen entfielen auf Welfen, elsaß-lothringische Protestler,
Wilde, sie lassen sich nicht genau rubriziren, 13972 Stimmzettel waren zersplittert.
Unter den Wilden sind im Parlaments-Almanach auch vier antisemitische
Abgeordnete aufgeführt: Ahlwardt, Liebermann v. Sonnenberg, Hilbert und Leuß.
Die angeführte Berechnung ergiebt, daß eine wesentliche Verschiebung der Parteien
im Reichstage eintreten würde, wenn die Zahl der Vertreter der angegebenen
Parteien genau der für die Partei abgegebenen Stimmen entspräche. Am
schlimmsten kommt bei der jetzigen Vertheilung die Sozialdemokratie weg, welche
statt 95 Vertreter nur 43 erhielt.
Um also ein richtiges Gleichgewicht zwischen Wählern und Gewählten für
alle Parteien herzustellen, muß an Stelle der Wahl in Wahlkreisen ein Wahl-
system treten, nach welchem die Vertheilung der Abgeordneten nicht mehr auf die
Wahlkreise, sondern nach den für eine Partei in ganz Deutschland ab-
gegebenen Stimmen erfolgt. Dies kann nach verschiedenen Methoden ge-
schehen. Wir halten uns hier an diejenige, die wir bereits im Jahre 1877/78 in
der „Zukunft“ vorschlugen,Die „Zukunft“, Sozialistische Revue, 1. Jahrgang, Seite 507 und folgende,
Berlin. Verlag der Allgem. deutschen Assoziations-Buchdruckerei. weil sie uns die einfachste zu sein scheint.
Nach dieser Methode bildet das ganze Deutsche Reich einen Wahlkreis.
Für die Stimmabgabe wird eine Eintheilung in Bezirke, ähnlich der jetzigen, vor-
genommen, in welchen die Wähler ihre Stimmen abgeben. Der Wähler
stimmt aber nicht mehr für eine bestimmte Person, sondern für eine
Partei; demnach lauten die Stimmzettel auf den Namen einer bestimmten Partei.
Sämmtliche abgegebenen Stimmen werden an einer Zentralstelle gesammelt und
nach Parteien geordnet und addirt. Die Zahl der Abgeordneten dividirt in die
Zahl der abgegebenen gültigen Stimmen ergiebt die Durchschnittszahl der Stimmen,
die auf einen Abgeordneten entfallen. Nimmt man an, daß künftig das Reich
400 Abgeordnete habe und es seien rund 8 Millionen gültige Stimmen abgegeben
worden, so entfallen auf jeden Abgeordneten 20000 Stimmen. Bekam von den
abgegebenen gültigen Stimmen z. B. die Sozialdemokratie 2150000, so hat sie
auf rund 107 Abgeordnete Anspruch und im gleichen Maßstab jede andere Partei,
gemäß der auf sie gefallenen Stimmenzahl.
Jhre Abgeordneten bestimmt jede Partei selbst, dergestalt, daß jede Partei,
die ihre Wahlbetheiligung offiziell bei der Zentralstelle angezeigt hat, auch eine
Liste der Kandidaten einreicht, die in der Reihenfolge, in der ihre Namen auf
der Liste stehen, für gewählt erklärt werden, so weit die Zahl der abgegebenen
Stimmen, durch die Wählerzahl, die auf einen Vertreter kommt, dividirt, der
Partei Abgeordnete zuweist.
Bei diesem System ist absolut sicher, daß jede Partei, die nur soviel
Stimmen zusammenbringt, als auf einen Abgeordneten durchschnittlich entfallen,
einen solchen erhält. Ebenso können Personen, die keiner Partei angehören, sich
um Stimmen auf ihre Person bewerben. Langt die Zahl der abgegebenen
Stimmen, so sind sie gewählt. Ein Ueberschuß an Stimmen, sei er noch so groß,
würde aber in diesem Falle verloren gehen, weil die auf eine bestimmte Person
lautenden Stimmzettel auf andere Personen nicht übertragen werden können. Da-
gegen könnten überschüssige Stimmen ber einzelnen Parteien insofern noch berück-
sichtigt werden, als ein Ueberschuß von über die Hälfte der auf einen Ab-
geordneten kommenden Stimmenzahl noch zur Zuweisung eines Abgeordneten
führen kann. Z. B. würde der Ueberschuß von 15000 Stimmen, der nach dem
angegebenen Beispiel bei 107 Abgeordneten auf 2155000 Stimmen der Sozial-
demokratie verbliebe, bei Vertheilung einer Anzahl von Mandaten auf die Rest-
überschüsse der einzelnen Parteien, ihr wahrscheinlich noch einen Vertreter ver-
schaffen. Dagegen würden Theilüberschüsse von weniger als der Hälfte – also
unter 10000 – unberücksichtigt bleiben.
Ein solches Wahlsystem durchgeführt, würde folgende Vortheile ergeben:
1. Jede Partei erhielt genau die Vertreterzahl, die sie nach Maßgabe der
für sie abgegebenen Stimmen beanspruchen kann.
2. Jndem statt der Personen die Parteien und ihre Bestrebungen in den
Vordergrund der Erörterung treten, verliert der Wahlkampf jeden persönlichen
Charakter, er vertieft sich und wird prinzipiell, er wird um Grundsätze geführt.
Auch der Kampf um Kirchthurmsinteressen wäre beseitigt.
3. Jede Partei hat die Sicherheit, daß sie diejenigen Personen, die sie in
erster Linie im parlamentarischen Kampfe thätig sehen will, in die Parlamente
bringt. Es kann nicht mehr vorkommen, daß erste Kräfte einer Partei durch das
Wahlmißgeschick geschlagen werden, wohingegen Kräfte von geringerer Bedeutung
siegen. Z. B. würden die Nationalliberalen einen Wörmann, den sie schwer ent-
behren, sicher im Reichstag haben, während bei dem jetzigen Wahlsystem keine
Aussicht vorhanden ist, daß er jemals wieder in Hamburg gewählt wird.
4. Bliebe es den Parteien unbenommen, die Kandidaten auch nach Lands-
mannschaften auszustellen und nach Maßgabe der abgegebenen Stimmen als ge-
wählt proklamiren zu lassen. Wenn z. B. das bayerische Zentrum verlangte, daß auf
333000 in Bayern abgegebene Zentrumsstimmen die entsprechende Zahl Vertreter
aus Bayern genommen werde, so stünde der Ausführung dieses Verlangens kein
Hinderniß im Wege. Die Parteien machen das unter sich ab.
5. Hörten die Stichwahlen auf und wäre damit eine Quelle großen Aerger-
nisses für alle Parteien beseitigt.
6. Wären amtliche und sonstige Maßregelungen gegen die Person des Kan-
didaten, weil letzterer nicht mehr in den Vordergrund tritt, wesentlich erschwert,
oft sogar unmöglich gemacht.
7. Würde der Kandidatenmangel, an dem gerade die bürgerlichen Parteien
am meisten leiden, verschwinden oder doch geringer werden, weil kein Kandidat
mehr seiner Person wegen in den Wahlkampf einzutreten brauchte. Auch besteht
keine Gefahr mehr für eine persönliche Niederlage.
8. Wäre die gewählte Volksvertretung ganz und voll der Ausdruck der An-
schauungen in den Wählerkreisen.
Als selbstverständlich wird vorausgesetzt, daß die offiziell für die Bewerbung
angemeldeten Parteien und einzelnen Personen bei der Feststellung der Wahlresultate
in entsprechender Weise vertreten sind.
Das Proportionalwahlsystem ist bereits in einer Reihe von Schweizer-
kantonen in Uebung und es wird nicht lange währen und es ist in der ganzen
Schweiz für alle Wahlen in Gebrauch. Das Proportionalwahlsystem, beruhend
auf dem Grundsatz bei allgemeinen, gleichen direkten und geheimen Wahlrechts,
ist das Jdeal eines Wahlsystems.
Aber das ist gerade der schwerwiegendste Grund für unsere herr-
schenden Klassen, es nicht zu wollen und mit aller Kraft seiner Ver-
wirklichung entgegenzutreten.
Schluß.
Als im Februar 1893 die belgischen Arbeiter eine große Agitation für
die Einführung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts ent-
falteten, sah sich der Brüsseler Korrespondent der „Frankfurter Zeitung“ ver-
anlaßt, den General Brialmont – bekanntlich eine militärische Autorität ersten
Ranges auf dem Gebiete der Beseitigungskunst – darüber zu befragen, wie er
zu der Frage des allgemeinen Wahlrechts stehe. Nach dem Bericht der „Frank-
furter Zeitung“ vom 16. April (Abendblatt Nr. 107) antwortete der General:
„Jch bin Anhänger des allgemeinen Stimmrechts und halte es nach
wie vor für die einfachste Lösung der bestehenden Schwierigkeiten.
Dabei gehe ich von meinem speziellen Standpunkt als Soldat aus.
Jch halte es für das nothwendige Korrelat der allgemeinen Wehr-
pflicht, die ich anstrebe und deswegen ich allein in die Kammer gewählt
worden bin.“
Jm Weiteren führte der General aus, daß zwar die Bourgeoisie Gegnerin
des allgemeinen Stimmrechts sei, daß er aber nicht glaube, daß man auf die Dauer
dasselbe den belgischen Arbeitern vorenthalten könne.
So sprach ein belgischer General, der genau wußte, daß die Agitation
für das allgemeine Stimmrecht von den Sozialisten ausging, die gerade im Früh-
jahr 1893 Demonstrationen zu Gunsten desselben in Szene setzten, die in Deutsch-
land, unter dem Beifall sämmtlicher Generale der deutschen Armee, den Belagerungs-
zustand zur Folge gehabt hätten.
Jn ganz Preußen, in ganz Deutschland giebt es keinen General,
der in ähnlich vorurtheilsfreier Weise wie Brialmont zu urtheilen
vermöchte. Die deutschen Generale gehören sammt und sonders zu den
grimmigsten Gegnern des allgemeinen Stimmrechts, und viele von ihnen
würden lieber heute als morgen den ganzen Parlamentarismus zum Teufel gehen
sehen, obgleich die allgemeine Wehrpflicht für Deutschland seit Jahrzehnten besteht.
Diese allgemeine Wehrpflicht ist durch die letzte Militärvorlage in einer
Weise ausgedehnt worden, daß der Stamm der wehrfähigen Männer nahezu auf-
gebraucht wird. Neben den persönlichen Opfern liegen die materiellen Opfer
hauptsächlich auf den arbeitenden Klassen.
Das System der indirekten Steuern ist sogar in Deutschland, gerade in den
letzten anderthalb Jahrzehnten, in einem früher nie gekannten Maßstab ausgebaut
worden, und unsere Regierungen, unterstützt von einem großen Theil der Bour-
geoisie, sind bestrebt, es noch zu erweitern.
Mit diesen steigenden Pflichten auch die Rechte in Einklang zu bringen,
liegt unseren maßgebenden Kreisen fern. Man sinnt vielmehr darauf, die Rechte
zu verkürzen, die knapp genug zugemessenen Freiheiten – wenn sie überhaupt
diese Bezeichnung verdienen – wie das Vereins- und Versammlungsrecht und die
Preßfreiheit zu beschneiden.Die dem Reichstage vorgelegte Umsturzvorlage zeigt noch deutlicher, wohin
der neueste Kurs geht.
Und in diesem Ruf nach Rückwärtsrevidirung einer Gesetzgebung, die zum
Theil, wie das Gesetz über das Vereins- und Versammlungswesen, der schlimmsten
Reaktionsperiode Deutschlands erst entsprossen ist, steht die politische Vertretung
einer feigen und charakterlosen Bourgeoisie, die nationalliberale Partei, an
der Spitze.
Dieselbe Partei, die, wir wiederholen es immer wieder, der Hauptträger
der Reaktion in Deutschland ist, schreit auch nach „Aenderung der bisherigen
Grundlagen“ des Reichstages. Das allgemeine Wahlrecht ist ihr in tiefster Seele
verhaßt, und ginge es nach ihr, seine Tage wären gezählt.
Nun, die Feinde des allgemeinen Stimmrechts mögen sich zu Herzen nehmen,
was Robbertus bereits 1849 in den „Demokratischen Blättern“ schrieb, als die
preußische Regierung durch einen Staatsstreich das allgemeine Stimmrecht auf-
gehoben und das Dreiklassenwahlsystem oktroirt hatte. Damals führte Robbertus
aus: das natürliche Ziel der gerichtlichen Entwicklung sei das all-
gemeine gleiche Wahlrecht.
„Die Eigenthümlichkeit aller unserer gesellschaftlichen Verhältnisse drängt
unaufhaltsam zu ihm hin, und alle Analogien aus dem antiken Staat reden
der Berechtignng dieses Dranges das Wort. Wenn die Neigung zum Freistaat
unabweislich vorhanden ist, wenn er vielleicht thatsächlich schon besteht, wenn die
Mitglieder desselben bereits eine bürgerlich gleichberechtigte Gesellschaft bilden,
so ist kein Zensus, keine Vermögenseintheilung mehr stark genug, auf die
Dauer dem Andrange auch zu voller politischer Gleichheit zu widerstehen.
Dazu würden in das ganze Leben, in die Erziehung und die Sitten von
Familien und Generationen einschneidende, die bürgerliche Rechtsgleichheit selbst
wieder aufhebende, it einem Wort tiefere Unterschiede gehören, als eine ober-
flächliche und bewegliche Vermögenseintheilung. Auch das lehrt schon der antike
Staat unwiderleglich. Wo nicht im Alterthum von vornherein die politische
Gleichheit verfassungsmäßig gegründet ward, da haben auch niemals timokratische
EinrichtungenEinrichtungen, die auf den Reichthum gegründet sind., deren endliche Entwicklung verhindern können. Und dennoch
waren dieselben im Alterthum mehr dazu geeignet, als sie es heute sein
würden. Jm Alterthum stuften sich auch die politischen Pflichten nach den
Rechten ab, während dies in dem heutigen preußischen Versuch nicht der Fall
und auch bei den Bedürfnissen des modernen Staats unmöglich ist. Damals
war die letzte Klasse frei von Steuer und Kriegsdienst, die ersteren Klassen trugen
bei ihren größeren politischen Rechten auch die Kosten der Staatsverwaltung
und Kriegführung allein. Die heutigen Einrichtungen können aber weder
die Steuern noch die Kriegsdienste der letzten Klasse entbehren; diese
lasten vielmehr hauptsächlich auf ihr. Mit doppelter Berechtigung
verlangen daher auch die Proletarier bei uns die Gleichheit der
Stimme, mit doppelter Gewalt wird daher auch bei uns die bürger-
liche gleichberechtigte, die politisch schon gleich verpflichtete Menge
jene schwachen Schranken des Geldes durchbrechen, die sie von der
politischen gleichen Berechtigung abhalten sollen. Wenn der ge-
schichtliche Zug einmal gegeben ist, so dient ihm Alles, Weisheit
und Thorheit, Recht und Unrecht, Segen und Fluch.“
Dieser geschichtliche Zug, von dem Robbertus spricht, ist vorhanden, und
speziell die Sozialdemokratie kann von sich sagen, daß Alles, was ihre
Gegner noch zu ihrem Verderben ausgedacht, schließlich zu ihren
Gunsten sich gestaltet hat.
Der Schrei der oberen Klassen nach Rückschritt, immer mehr Rückschritt,
wird durch den zehnfach verdoppelten Schrei von Unten nach Fort-
schritt, immer mehr Fortschritt, nach Menschlichkeit und Gerechtigkeit
übertönt werden. Die Massen haben es satt, die oberen Klassen über ihr
Schicksal entscheiden zu lassen, sie wollen selbst ihre Geschicke lenken. Darum der
Ruf nach dem allgemeinen Stimmrecht, so weit die deutsche Zunge klingt.
Mögen die herrschenden Klassen nicht vergessen, daß wenn einmal in
Europa der große Generalmarsch geschlagen wird, auf den hin zwölf bis
fünfzehn Millionen Männer von Waffen starrend in das Feld rücken, nur
das Volk seine nationale Existenz bewahren kann, das sich bewusst ist, ein
Vaterland zn besitzen, das sich der Mühe lohnt, es auch zu vertheidigen.
Druck von Max Bading, Berlin SW., Beuth-Straße 2.