Das Frauenstimmrecht.
Ein Nachwort zum Frauenkongreß von Leopold Katscher.
Auf dem großen Welt-Frauenkongreß zu Berlin war
ein ganzer Vormittag und eine imposante Abendversammlung
(17. und 18. Juni) der Frage des politischen Wahlrechts
der Frauen gewidmet. Jn derselben Woche fanden in der
Reichshauptstadt zwei sozialdemokratische Versammlungen
statt, welche sich mit demselben Gegenstand befaßten. Am
3. und 4. Juni wurde die erste internationale Stimmrechts-
konferenz gehalten und am 6. Juni mit einer riesigen
öffentlichen Versammlung abgeschlossen. Man hatte bei all
diesen Anlässen erfreuliche Gelegenheit, zahlreiche hervor-
ragende weibliche Redner über den so wichtigen Gegenstand
sprechen zu hören, z. B. Frau Chapman Cott, Frl. Dr.
Augspurg, Frl. Annie Shaw, Frl. Dr. Käte Schirmacher,
Frau Gilman, Lily Braun, Klara Zetkin, Marie Stritt u. a.
Es fehlte auch nicht an Sticheleien zwischen „bürgerlichen“
Frauen und den Sozialistinnen; der unbefangene Beobachter
darf aber wohl sagen, daß das ein Streit um des Kaisers
Bart war, und daß jede Frau ohne Rücksicht auf Partei-
angehörigkeit das Recht hat, an der guten Sache – an
jeder guten Sache – mitzuarbeiten. Können oder wollen
nicht alle gemeinschaftlich arbeiten, so mögen sie eben getrennt
marschieren; die Hauptsache ist, daß sie, eingedenk des Wortes
„all's fish that comes to net,“ vereint schlagen.
Was schlagen? Nun, die eingewurzelten Vorurteile
der Männerwelt und die Gleichgültigkeit der gedankenlosen
Mehrheit der Frauenwelt, das träge Sichnichtkümmern und
die blöden Abwehr-Argumente. Dieselben Befürchtungen,
die – seither längst von den Tatsachen widerlegt –
gegen die Schaffung besserer Frauenbildungseinrichtungen
laut wurden, machen sich gegen das Stimmrecht der Frauen
geltend: Die Mädchen würden nicht mehr heiraten wollen,
sie würden unweiblich oder männlich werden, die Familien-
bande würde zerrissen, das Heim zerstört u. s. w. Als ob
die in 3 bis 5 Jahren einmal erfolgende Abgabe eines
Stimmzettels derlei Ergebnisse haben könnte! Das sind
nur leere Phrasen, wie sie bei allen großen, gemeinnützigen
Neuerungen ertönen: einst bei der Schaffung der Welt-
ausstellungen, der Eisenbahnen, der Fabrikmaschinen, des
Pennyportos etc., gegenwärtig bei den Kämpfen der Arbeiter
und der Frauen um ihre primitiven Rechte. All das
Gerede gegen das weibliche Wahlrecht steht kaum auf einer
höheren Stufe als die Worte, die ein Berliner Polizei-
beamter, bei dem ich dieser Tage einige Kongreßteil-
nehmerinnen anmeldete, zu mir äußerte: „Was wird bei
dem Kongreß herauskommen? Die Weiber werden uns
Männer nun wohl ganz verdrängen.“
Zur Zeit des Matriarchats waren die Männer unter-
drückt. Seither waren's die Frauen. Jetzt ist die Zeit reif,
zu verlangen, daß die beiden Geschlechter nicht mehr gegen,
sondern mit einander arbeiten, streben, leben. Fort mit
der Herrschaft Eines Geschlechts und der damit ver-
bundenen grausamen Doppelmoral! Die Zukunft der
Menschheit beruht auf der gerechten Gemeinschaft von
Mann und Frau. Gleiche Rechte und gleiche Pflichten für
Alle! Das ist eine so selbstverständliche Forderung, daß
nur die Macht der Ueberlieferung oder die Furcht vor dem
Verluste des Vorranges die Männerwelt von der Gewährung
abhalten kann – abhalten trotz des günstigen praktischen
Ergebnisses des politischen Frauenstimmrechts überall dort,
wo es besteht. So z. B. in vier nordamerikanischen Bundes-
staaten (Wyoming, Utah, Colorado, Jdaho), wo die Folgen
u. a. sind: Die Wahl gediegener Männer zu Abgeordneten
und Beamten, die Erbringung besserer Staatsgesetze, die
Steigerung der Gehälter weiblicher Beamten, die Ver-
besserung des Eheglücks und daher eine beträchtliche Ab-
nahme der Anzahl der Scheidungen. Jn jenen vier Staaten
sind, wie Mrs. Chapman Cott, die Vorsitzende des am 4. Juni
gegründeten Weltbundes für Frauenstimmrecht, erzählte,
Preise für je sechs Unterschriften von Männern aus-
geschrieben worden, die das Wahlrecht der Frauen für in
der Praxis verfehlt erklären würden – ganz ergebnislos,
es fanden sich keine Preisbewerber. Gewiß ist der Stimm-
zettel nicht in der Hand jedes weiblichen Wesens gut
angebracht, denn nicht alle Frauen sind „reif“; aber läßt
sich nicht genau dasselbe von den Männern sagen? Wozu
also mit zweierlei Maß messen? Und warum den Frauen
nicht durch Gewährung des Wahlrechts erst recht Gelegenheit
zu geben, durch Erzielung einer besseren Gesetzgebung „reif“
zu werden?
Was den jungen australischen Staatsbund, der den
Frauen das Wahlrecht vor zwei Jahren, und Neuseeland,
das es ihnen vor zwölf Jahren gewährte, betrifft, so hat
der Bundespremier Barton zugestanden, früher ein Gegner
gewesen, jedoch durch die Beobachtung der Ergebnisse belehrt
worden zu sein. Seine Erfahrungen bezüglich der Wirkungen
dieses Stimmrechts hätten keinen einzigen der Uebelstände
bestätigt, deren Eintritt vorhergesagt worden war. Aber
auch abgesehen hiervon sollte das Stimmrecht, „da es
logisch korrekt“ sei, auch dann bewilligt werden, wenn es
Uebelstände im Gefolge hätte,Vergleiche William Pember Reeves's Broschüre: „Das
politische Wahlrecht der Frauen in Australien“; Leipzig, Felix
Dietrich, 1904. Sehr interessant; Preis nur 30 Pfg. fügte er hinzu.
Einen höchst wertvollen Vortrag über den „praktischen
Nutzen“ des Frauenstimmrechts hielt Käte Schirmacher auf
dem Kongreß. „Der Wahlzettel ist nicht ein papierener
Wisch,“ sagte sie in ihrer stets den Nagel auf den Kopf
treffenden Weise, „sondern eine gewaltige Waffe im Daseins-
kampf, ein politisches und soziales Machtmittel.“ Es ist
daher Unsinn, den Frauen vorzuwerfen, daß sie den Stimm-
zettel nur als Spielzeug oder aus Verschrobenheit fordern;
sie fordern ihn, weil sie mit seiner Hilfe ihre eigene Lage
und die der Gesamtheit verbessern wollen und können,
insbesondere auch ihre materiellen, juristischen und sozial-
sittlichen Verhältnisse zu heben und sich gegen die Weg-
nahme bereits besessener Rechte zu schützen vermögen. Der
Stimmzettel soll den Frauen Rechte verbriefen, während
sie jetzt nach Käte Schirmacher „im Kartenhause der wider-
ruflichen Gnadengeschenke sitzen.“
Nach all dem kann man jenen Kongreßrednerinnen,
die die Erlangung des Wahlrechts als den Kernpunkt oder
den Eckstein der Frauenbewegung erklärten, nur zustimmen.
Daher muß die Gründung des neuen Wahlbundes, der teils
aus den National-Stimmrechtsvereinen der einzelnen bereits
organisierten Länder, teils aus Einzelmitgliedern in den
nicht-organisierten Ländern, bestehen wird, freudig als ein
bedeutsamer Schritt begrüßt werden, und darum ist auch
der Beschluß, männlichen Anhängern der guten Sache den
Eintritt in den Bund zu gestatten, ein sehr wichtiges Er-
eignis. Einsichtige Männer können annoch, eben weil sie
Männer sind und daher minder parteilich erscheinen, das
Streben der Frauen nach dem Wahlrecht vielleicht kräftiger
fördern als die zunächst Beteiligten selber.
Leider hat die hochgehende Wahlrechtsbestimmung der
Konferenzlerinnen und Kongreßlerinnen eine höchst betrübende
Dämpfung erfahren durch die Haltung der Regierung gegen-
über der die Kaufmannsgerichte betreffenden Gesetzesvorlage.
Die Grafen Bülow und Posadowsky haben den Kongreß-
teilnehmerinnen einen glänzenden Empfang bereitet; gleich-
zeitig jedoch bereiteten sie der Forderung der kaufmännischen
Frauenwelt und der Reichstagsmehrheit, den betreffenden
weiblichen Jnteressenten, wenn schon nicht das passive, so
doch wenigstens das aktive Wahlrecht zu den neuen Kauf-
mannsgerichten zu gewähren, einen schmählichen Empfang,
indem die Regierung ohne jeden Grund dieses so
geringfügige, maßvolle und selbstverständliche Verlangen
ablehnte. Mit Recht nannte Albert Träger eine solche
merkwürdige Stellungnahme einen „Faustschlag ins Gesicht
des hier tagenden Frauenkongresses.“ Diese heutzutage ganz
verblüffende, durch nichts zu rechtfertigende Rückständigkeit
in einer so kleinen Sache läßt ermessen, wie furchtbar
schwierig es sein wird, den deutschen Frauen das politische
Stimmrecht zu erringen.
Allein je größer die Hindernisse, desto notwendiger der
Kampf. Und die deutschen Frauen sind zum Kampf ge-
rüstet. Einerseits die bewährten Rednerinnen der Sozialisten,
andererseits der Bund „bürgerlicher“ deutscher Frauenvereine
haben die Erlangung des politischen Wahlrechts auf ihre
Fahne geschrieben – der unter Marie Stritts Vorsitz stehende
„Bund“ erst neuestens. Daneben besteht seit dritthalb Jahren
ein von Dr. Anita Augspurg geleiteter „Deutscher Verein
für Frauenstimmrecht“. Bestehen auch zu Zeit noch gewisse
sachliche und persönliche Differenzen zwischen diesen Verbänden,
so ist doch mit Grund zu hoffen erlaubt, daß diese Un-
stimmigkeiten, (um ein neuerdings beliebtes Wort anzuwenden)
die auf der internationalen Stimmrechtskonferenz und auf
dem Welt-Frauenkongreß glücklicherweise nicht merklich zum
Ausdruck kamen, dem Fortgang der Bewegung nicht nur nicht
schaden, sondern ihn infolge zu erwartenden gegenseitigen
ungewollten Aufstachelns zu erhöhter Tätigkeit sogar fördern
werden. So könnten die, vor einer weiterblickenden Be-
trachtung nicht allzu erheblich erscheinenden Differenzen
schließlich zum Geist werden, der Böses will, aber Gutes schafft.