London, 2. Juni. Schluß des Berichtes des Hrn. George Julian Harney, Redakteur des „Northern Star“ an die „Neue Rheinische Zeitung“.
Die Mittelklasse sehnte sich nach Reformen. Es war, als ob ihr gleichzeitig einfiele, daß der Bewegung der alten Radikalen doch etwas Wahres zum Grunde liege und wenn sie sich bisher gefürchtet hatte, Hand in Hand mit der revolutionären Masse zu gehen, so suchte sie sich jetzt an die Spitze derselben zu stellen. Vergebens bemühte sich Hr. Hunt, seine Gewalt auf die Menge geltend zu machen; ein neues Geschlecht war inzwischen emporgewachsen und er hatte nicht mehr jenen Einfluß auf die Söhne, den er einst auf die Väter gehabt hatte. Mogte er noch so energisch den Ruf für Allgemeine Wahl erheben ‒ die ganze „liberale“ Presse heulte ihn zu Boden und irregeleitet von einer Menge glattzüngiger „Redner“, die plötzlich auf der politischen Bühne erschienen, stimmte bald der ganze große Haufen der Arbeiter den Schrei für die Russell'sche Reform-Bill an, „für die Bill, die ganze Bill und für nichts als die Bill.“
Man bekam diese nur die Mittelklasse begünstigende Bill. In der That aber auch nichts weiteres an Reformen. Wohl aber manches an Grausamkeit und Tyrannei. Sobald sie zur Herrschaft gekommen war, änderte die Mittelklasse ihren Ton, ihr ganzes Benehmen. Unwillig stieß sie die Leiter zurück auf der sie emporgestiegen war, indem das erste unter der Reform-Bill gewählte Parlament Zwangsmaßregeln gegen Irland und Strafgesetze für die Armuth englischer Arbeiter passiren ließ. Außerdem denunzirte man die politischen Verbindungen der Proletarier und wandte Alles an um die sogenannten Trades-Unions, die Vereine der verschiedenen Gewerke, zu unterdrücken. Rathlos stand das Volk da. Burdett war zu den Tory's übergegangen, Cobbett starb und auch Hunt ging endlich den Weg alles Irdischen.
Eine starke Agitation gegen das neue Armengesetz, in der sich namentlich Richard Oastler, der Vertheidiger der Fabrikkinder, auszeichnete, veranlaßte zunächst ein abermaliges Erheben der Massen. An ihrer Spitze sehen wir jetzt zuerst den Irländer Feargus O'Connor. In der Grafschaft Cork hatte man ihn für das „Reform“-Parlament gewählt; da er indeß nicht die nöthige Summe des Einkommens hatte, so mußte er auf seinen Sitz verzichten und warf sich nun in die Bewegung der Arbeiter, indem er nicht nur gegen das neue Armengesetz agitirte, sondern auch als Nachfolger Hunt's für die Sache der radikalen Reform auftrat.
Die große Energie, welche er bei der Vertheidigung der wegen politischer Umtriebe angeklagten Dorchester-Arbeiter und der Glasgow-Baumwollspinner entwickelte, machte ihn bei der arbeitenden Klasse schnell bekannt und verschaffte ihm viele Anhänger. Sein Einfluß erlangte indeß erst ein entscheidendes Gewicht, als er im November 1837 den „Northern Star“ gründete, jenes Journal, welches nun schon seit mehr als zehn Jahren die Demokratie und die sozialen und politischen Rechte des Volkes vertheidigt hat. Der „Northern Star“ erschien zuerst in Leeds, dem Hauptorte der Grafschaft Yorkshire. Im November 1844 verlegte man das Blatt nach London. Freunde und Feinde erkennen es als das Organ der Chartistenbewegung an; sein Einfluß auf die arbeitende Klasse ist enorm.
Die Partei der Chartisten, welche hinfort eine so bedeutende Rolle in der englischen Geschichte spielt, erhielt ihren Namen von der „Charter“, von jenem Dokument, welches im Mai 1838 von einem Comité von sechs Männern der Arbeiter-Association und von eben so viel Parlamentsmitgliedern entworfen wurde.
Unter letztern war auch Daniel O'Connell, jener unsterbliche „Humbug,“ jener größeste aller politischen Schwindler. Dieser Aufschneider unterschrieb die Charte mit dem Bemerken, daß sich Jeder dafür erklären werde, Schurken ausgenommen, die dabei interessirt wären ein schlechtes Staatssystem aufrecht zu erhalten und Narren, auf die weder Thatsachen noch Argumente Eindruck machen könnten. Wenige Monate nachher denunzirte indeß dieser Schuft die Chartisten und bot den Whigs „fünfmalhundertausend Tipperary Jungens“ an, um damit der chartistischen Bewegung ein Ende zu machen.
Bis zu seinem letzten Lebenstage verläumdete der unselige Mann die Chartisten in der niederträchtigsten Weise und rühmte sich sogar noch bei Gelegenheit der durch das Ministerium Peel gegen ihn erhobenen Untersuchung, mit der Heldenthat, sein meistes und bestes gethan zu haben, um die Unternehmungen der Chartisten zu vereiteln. Er gab dies als Beweis seiner Loyalität gegenüber dem britischen Gouvernement an! War er nicht ein unvergleichlicher Schuft? Und dennoch verehrten ihn zehn Tausende von Narren in seinem eigenen Lande. Befriedigend ist es indeß, wenn man bedenkt, daß er seine Popularität überlebte. Seiner betrogenen Schafe waren freilich zuletzt noch viele; gering war aber ihre Zahl in Vergleich mit der ersten Masse seiner Partei. Der alte Heuchler starb gerade zu rechter Zeit; hätte er ein wenig damit gewartet, so würde er es selbst noch mit erlebt haben, wie seine Macht gebrochen, seine Partei auseinandergejagt und seine Popularität so bald erloschen war.
Die Charte vereinigte nur in parlamentarischer Form, was Fox, Grey, Erskine, Macintosh, Cartwright, Burdett, Hunt und andere so viele Jahre lang als die Prinzipien der Radikalreform vertheidigt hatten. Ihr Hauptpunkt ist die allgemeine Wahl, oder die Ausdehnung des Wahlrechtes auf einen Jeden, der 21 Jahre und darüber alt ist, Verbrecher und Verrückte ausgenommen. Ferner: Das Votiren durch Ballotage, oder geheimes Abstimmen. Drittens: Jährliche Parlamente oder jährliche Wahl der Volks-Repräsentanten. Viertens: Keine Eigenthumsqualifikation oder Zulassung aller für das Unterhaus durch die Majorität bestimmten Mitglieder, unabhängig von irgend einer Restriktion, wie sie jetzt besteht, wo Jeder (wirklich oder nur nominell) ein reines, durch Landbesitz vertretenes Einkommen von jährlich 300 Pfd. haben muß, wenn er einen Flecken, oder 500 Pfd., wenn er eine Grafschaft vertritt. Fünftens: Bezahlung der Parlamentsmitglieder, damit Unbemittelte die Wahl anzunehmen im Stande sind. Sechstens endlich: Gleiche Wahldistrikte, um der Ungleichheit des jetzigen Repräsentativsystems ein Ende zu machen, welches manchen Distrikten mit nicht mehr als 2 bis 300 Wählern erlaubt, dieselbe Anzahl Mitglieder ins Parlament zu senden, wie andern Gegenden welche mehrere Tausend Wähler zählen.
Dies, mit den nöthigen Details, ist die Charte. Es wird hinreichen um zu zeigen, was Chartismus ist.
Im Herbst 1838 wurde bei einem immensen Meeting in Birmingham eine „National-Petition“ in Betreff der sechs Punkte der Charter angenommen. Andre Versammlungen folgten in London und in den Manufaktur-Distrikten Englands und Schottlands, welche zunächst „einen Konvent von Abgeordneten der arbeitenden Klasse“ zum Resultat hatten, der in London im Februar 1839 zusammentrat und außer der Leitung der Agitation auch die Ueberreichung der von einer und einer viertel Million Unterschriften bedeckten Petition übernahm. Der „Konvent“ war aus weit mehr zweifelhaften als ehrlichen Leuten zusammengesetzt; aus Leuten, die ein gutes Geschäft mit ihrer Popularität zu machen und nur von den Fonds der Verbindung zu leben suchten. Die Frage, ob man „moralische“ oder „physische Gewalt“ zur Durchsetzung der verschiedenen Pläne anwenden solle, verursachte stürmische Debatten. Die Agitation nahm ihren Fortgang, und den ganzen Sommer hindurch herrschte die größeste Aufregung im ganzen Lande. In Birmingham und an mehreren andern Orten fanden Emeuten statt, bei denen eine Menge Agitatoren verhaftet wurden. Der Konvent lößte sich indeß auf, und nur in Newport in Wales kam es unter Anführung John Frost's zum Treffen. Mehrere Chartisten wurden dabei erschossen; da der ganze Aufstand aber sehr schlecht vorbereitet war, so blieb er ohne entscheidenden Erfolg. Außer Frost wurden auch noch Williams und Jones als Haupträdelsführer verhaftet und zum Tode verurtheilt, später indeß in so weit begnadigt, als man die Todesstrafe in lebenslängliche Verbannung nach van Diemeus Land verwandelte. Obgleich man an andern Orten mehrere Emeuten im Entstehen erstickte, so fuhr man doch mit Verhaftungen fort, und verurtheilte auch Feargus O'Connor wegen einiger Artikel des „Northern Star,“ zu 18 Monat Gefängniß in York Castle, von denen er 16 Monate absitzen mußte.
So verfolgt und gequält von den Whigs, hießen die Chartisten die endlich herankommenden Wahlen von 1841 auf's freudigste willkommen, indem sie sich überall zusammenrotteten und die Whigs zu strafen, den Tories so sehr in ihrem Kampfe halfen, daß erstere das Feld räumen mußten und Sir Robert Peel siegreich auf den Schild erhoben wurde. Unter seiner Verwaltung hatte 1842 jener große „Turn-out“, jene Arbeitseinstellung der Fabrikproletarier, statt, welche für einen Augenblick alle gesellschaftlichen Einrichtungen Englands wahrhaft mit dem Untergang bedrohte; die Chartisten hatten diese Revolte nicht hervorgerufen; ‒ sie wurden aber verantwortlich dafür gemacht, indem man neun und fünfzig ihrer Führer arretirte; darunter O'Connor, William Hill, Dr. M'. Donall, Leach, Beesley, West u. s. w.; ich selbst gehörte ebenfalls zu den Verhafteten. Die Vertheidigung der Gefangenen schadete indeß den Verfolgern so sehr, daß auf das Verdikt gegen die Chartisten nie eine Strafe folgte.
Auf's Neue aufgehalten, nahm die Agitation nichts destoweniger ihren Fortgang, und im Frühjahr 1842 brachte man abermals eine Petition in Betreff der Charter vor das Unterhaus, einen Akt mit drei Millionen Unterschriften. Natürlich wurde er wieder voll Verachtung entgegengenommen. Eine Verbindung der Whigs mit den betrogenen Protektionisten brachte dann Sir Robert Peel zum Sturz, und die Whigs von Neuem in's Amt. Sie versprachen, gemäßigte aber fortschreitende Reformer zu sein, und heuchelten große Sympathieen für Irland, indem sie jeden Versuch, dieses unglückliche Land durch Zwangsmaßregeln zu regieren, für falsch und infam erklärten. ‒ ‒ Jedermann weiß, was sie seitdem gethan haben!
In Juli-August 1847 geschahen die letzten großen Wahlen, die ein Parlament aus Whigs, Protektionisten, heuchlerischen Radikalen und andern bis zu einem gewissen Punkte ehrlichen und entschiedenen Leuten, welche wohl die Prinzipien der Charter, aber nicht ihren Namen adoptiren, und jener von den Chartisten verabscheuten Partei der Freihandelsmänner dienstbar sind, zum Resultate hatten. Einige Ultra-Chartisten traten ebenfalls bei dieser Gelegenheit als Kandidaten auf; unter ihnen Feargus O'Connor in Nottingham, Philipp M' Grath in Derby, Ernest Jones in Halifax, Thomas Clark in Sheffield, John West in Stockport, Samuel Kydd in Greenwich, John M' Crae in Greenock, ich selbst in Tiverton.
Feargus O'Connor siegte vollkommen und wurde gewählt, indem er seine beiden Konkurrenten, Sir John Cam Hobhouse, ein reiches Mitglied des Whig-Ministeriums und Gisborne, einen Whig von vielem lokalen Einfluß aus dem Felde schlug. Dies war ein wahrer Triumph für die Chartisten. Andere, wie Jones, Clark, Mc. Grath, obgleich sie bei der offiziellen Abstimmung durchfielen, hatten nichtsdestoweniger eine große Anzahl Votirender für sich. Ich selbst, indem ich Lord Palmerston zum Kampfe herausforderte, that es mit keiner Hoffnung auf Erfolg, sondern blos, um einmal die Heucheleien der Whigs an's Licht heraufzuzerren. Alle chartistischen Kandidaten wurden indeß bei der, dem offiziellen Votiren vorhergehenden Abstimmung, durch Aufheben der Hände gewählt, was den deutlichsten Beweis giebt, welches Resultat erfolgt sein würde, wenn alle Erwachsenen auch das Recht der offiziellen Abstimmung ausüben dürften.
Schließen wir hiermit. Ich habe versucht, Ihnen mit wenigen Strichen das Bild von wenigstens sechszig, achtzig Jahren zu zeichnen. Was Wunder, wenn da meine Darstellung hin und wieder nicht klar und verständlich genug ist! Ich suchte Ihnen jene Bewegung zu schildern, die in den letzten Dezennien des vorigen Jahrhunderts ihren Anfang nimmt, und sich unaufhaltsam fortentwickelt hat bis zur heutigen Stunde. Hob ich nur das politische Moment derselben hervor, so geschah es einzig und allein, weil es unmöglich ist, in so wenigen Worten eine Kette von Ereignissen auch nach der interessanteren, nach der sozialen Seite hin zu beleuchten. Wie jede politische Bewegung, so entwickelte sich auch die englische zu gleicher Zeit mit einer totalen Umgestaltung der meisten gesellschaftlichen Zustände. Das Aufhören der alten Gilden vernichtet das Verhältniß, indem der ganze Handwerkerstand mit Meistern und Gesellen bisher der Gesellschaft gegenüberstand. Ein patriarchalisches Zusammenwirken ändert sich zu einem feindlichen Gegenüberstehen der Arbeitgebenden und der Arbeiter, und zu einem Konkurriren der Arbeiter untereinander. Eine entschiedenere Umwälzung bringen indeß die großen Erfindungen der achtziger Jahre mit sich.
Der Anfang der modernen Industrie ist ein Schlag, der tausend Verhältnisse über den Haufen wirft. Massen von Menschen, die bisher handarbeitend eine große Strecke Landes und einzelne zerstreut bewohnten, werden aus ihren Schlupfwinkeln emporgejagt, um zusammengedrängt in neuen, wie im Fluge entstandenen Städten, die Sklaven derselben Maschine zu werden, welche sie im Kampfe der Konkurrenz zu Boden rang. Zu dem Lumpenproletariate, mit dem sich England seit den Zeiten der Elisabeth durch eine jährliche Armentaxe abzufinden suchte, gesellt sich das industrielle Proletariat, dessen Werth mit dem Werthe der Fabrikate von der Nachfrage und Zufuhr abhängt, und hin- und hergewürfelt von allen Konsequenzen der industriellen Entwicklung, bald jene kolossale revolutionäre Masse bildet, welche sich endlich erhebt um auf dem Wege politischer Umwälzungen eine Besserung ihrer sozialen Lage durchzusetzen.
Abwechselnd unter dem Einfluß der radikalen Aristokratie und
der liberalen Bourgeoisie, sehen wir diese anfangs unbewußte Masse nach vielen Täuschungen, nach vielen Niederlagen allmählig in der Bewegung der Chartisten zur klaren Erkenntniß seiner Stellung kommen und jede Führung seiner liberalen Betrüger abschüttelnd, der eignen Kraft vertrauen, der eignen unwiderstehlichen Gewalt. Mit jedem Siege, den die Bourgeoisie über die alte Aristokratie des Landes davonträgt, siegt auch die Masse der Arbeiter, indem sie sich abgesonderter und kompakter der siegenden Mittelklasse gegenüber stellt. Mit jedem Augenblicke wird der Kampf der Zukunft einfacher und faßlicher. Drohend stehen zuletzt die Repräsentanten des Kapitals und die Söhne der Arbeit einander gegenüber.
Doch genug. In meinem nächsten Artikel werde ich Ihnen die Lage der Bewegung seit der Revolution von 1848 zu schildern suchen.
‒ Die Engländer, die mit ihrem Armenwesen, mit der Emanzipation der Sklaven u. s. w. so viele Experimente für andere Leute gemacht haben, scheinen sich darneben zu freuen, daß jetzt auch einmal die Reihe an andere Nationen gekommen ist. Aus einem längern Artikel der Times über die französischen Ereignisse geht dies ziemlich deutlich hervor. „Es scheint unsern Nachbarn, den Franzosen, kaum eingefallen zu sein,“ sagt die Times, „daß es ein ziemlich schwieriges und sehr kostspieliges Unternehmen ist, viele Tausende von Personen mit Weibern und Kindern nach den Antipoden transportiren und auf unbebauten Inseln versorgen zu wollen. Wir sind wirklich neugierig, die Mittel nennen zu hören, mit denen man eine so massenhafte Verbannung zu betreiben gedenkt.“ Es ist möglich, daß die Times mit ihren leisen Zweifeln recht hat. Das englische Gouvernement sah sich bisher noch nicht im Stande, die Besorgung der Emigration übernehmen zu können. Wir müssen abwarten, in wie weit es der honetten Republik mit ihren blühenden Finanzen möglich ist, das Experiment durchzuführen.