Während man im Hinblick auf die Entstehung des waldhei- mer Lexikons wahrnimmt, daß in Waldheim die Stimme des Ver- brechens in einzelnen Klängen sich bemerkbar macht und die stutzig gewordene Regierung zur Ausschreibung von Collectaneen durchs ganze Land veranlaßt, sodaß eine weither zusammengetragene offi- cielle Sammlung entstand: spricht sich hier das wie in einen Brennpunkt concentrirte Verbrechen in ganzer und einheitlicher Fülle aus und tritt mit der Repräsentation fast aller deutschen Dialekte und besonders auch mit dem Judendeutsch überraschend correct in Form und logischem Verständniß hervor, wenn auch, namentlich im Jüdischdeutschen, manche Schreib- und Druckfehler vorhanden sind. Wie es aber kommt, daß das verhältnißmäßig nur kleine Wörterbuch als ein so echter und vollkommener Typus des gesammten Gaunerthums und dadurch ganz eigenthümlich dasteht, das lehrt schon ein flüchtiger Blick auf die damalige heillos ver- fahrene Einrichtung der Anstalt, die freilich kaum schlechter war als alle übrigen jener Zeit und von welcher die unbefangene Statistik des wackern Wagnitz 1) nach mehrjährigen Zusammen- stellungen ein wahrhaft grauenerregendes Bild gibt. Jn fast aus- schließlicher Zahl findet man in St.-Georgen das Gaunerthum vertreten, und in welcher Weise gehalten! Bei dem gänzlichen Mangel an Jrrenanstalten waren die Zellen in St.-Georgen mit -- Wahnsinnigen überfüllt. Das Zuchthaus übte das ihm 1736 verliehene Privilegium, in Marmor zu arbeiten, aus und bekam später (1738) das fernere Privilegium, "Gesellen und Lehrlinge auf jeder Aeltern Verlangen aufzunehmen und aufzudingen"! Also eine freie Hochschule des Gaunerthums im Zuchthause, mit voller Freizügigkeit vom Volke her und ins Volk hinein, eine Hochschule grauenhafter Verbrechen innerhalb und außerhalb seiner Mauern,
1) "Historische Nachrichten und Bemerkungen über die merkwürdigsten Zucht- häuser in Deutschland" u. s. w. (2 Bände, Halle 1791 -- 94). Jn Bd. II, Abth. 2, S. 9, rechnet Wagnitz die Verbrechen nach ihrer procentweisen Ver- tretung so auf: Mord 1/2, Mordbrand 1/2, Todtschlag 2, Diebe und Vagan- ten 63, Sodomiterei 1/2, Blutschande 11/2, Unzucht 30 und Verschwendung 2 Procent.
Ave-Lallemant, Gaunerthum. IV. 9
Während man im Hinblick auf die Entſtehung des waldhei- mer Lexikons wahrnimmt, daß in Waldheim die Stimme des Ver- brechens in einzelnen Klängen ſich bemerkbar macht und die ſtutzig gewordene Regierung zur Ausſchreibung von Collectaneen durchs ganze Land veranlaßt, ſodaß eine weither zuſammengetragene offi- cielle Sammlung entſtand: ſpricht ſich hier das wie in einen Brennpunkt concentrirte Verbrechen in ganzer und einheitlicher Fülle aus und tritt mit der Repräſentation faſt aller deutſchen Dialekte und beſonders auch mit dem Judendeutſch überraſchend correct in Form und logiſchem Verſtändniß hervor, wenn auch, namentlich im Jüdiſchdeutſchen, manche Schreib- und Druckfehler vorhanden ſind. Wie es aber kommt, daß das verhältnißmäßig nur kleine Wörterbuch als ein ſo echter und vollkommener Typus des geſammten Gaunerthums und dadurch ganz eigenthümlich daſteht, das lehrt ſchon ein flüchtiger Blick auf die damalige heillos ver- fahrene Einrichtung der Anſtalt, die freilich kaum ſchlechter war als alle übrigen jener Zeit und von welcher die unbefangene Statiſtik des wackern Wagnitz 1) nach mehrjährigen Zuſammen- ſtellungen ein wahrhaft grauenerregendes Bild gibt. Jn faſt aus- ſchließlicher Zahl findet man in St.-Georgen das Gaunerthum vertreten, und in welcher Weiſe gehalten! Bei dem gänzlichen Mangel an Jrrenanſtalten waren die Zellen in St.-Georgen mit — Wahnſinnigen überfüllt. Das Zuchthaus übte das ihm 1736 verliehene Privilegium, in Marmor zu arbeiten, aus und bekam ſpäter (1738) das fernere Privilegium, „Geſellen und Lehrlinge auf jeder Aeltern Verlangen aufzunehmen und aufzudingen“! Alſo eine freie Hochſchule des Gaunerthums im Zuchthauſe, mit voller Freizügigkeit vom Volke her und ins Volk hinein, eine Hochſchule grauenhafter Verbrechen innerhalb und außerhalb ſeiner Mauern,
1) „Hiſtoriſche Nachrichten und Bemerkungen über die merkwürdigſten Zucht- häuſer in Deutſchland“ u. ſ. w. (2 Bände, Halle 1791 — 94). Jn Bd. II, Abth. 2, S. 9, rechnet Wagnitz die Verbrechen nach ihrer procentweiſen Ver- tretung ſo auf: Mord ½, Mordbrand ½, Todtſchlag 2, Diebe und Vagan- ten 63, Sodomiterei ½, Blutſchande 1½, Unzucht 30 und Verſchwendung 2 Procent.
Avé-Lallemant, Gaunerthum. IV. 9
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><pbfacs="#f0141"n="129"/><p>Während man im Hinblick auf die Entſtehung des waldhei-<lb/>
mer Lexikons wahrnimmt, daß in Waldheim die Stimme des Ver-<lb/>
brechens in einzelnen Klängen ſich bemerkbar macht und die ſtutzig<lb/>
gewordene Regierung zur Ausſchreibung von Collectaneen durchs<lb/>
ganze Land veranlaßt, ſodaß eine weither zuſammengetragene offi-<lb/>
cielle Sammlung entſtand: ſpricht ſich hier das wie in einen<lb/>
Brennpunkt concentrirte Verbrechen in ganzer und einheitlicher<lb/>
Fülle aus und tritt mit der Repräſentation faſt aller deutſchen<lb/>
Dialekte und beſonders auch mit dem Judendeutſch überraſchend<lb/>
correct in Form und logiſchem Verſtändniß hervor, wenn auch,<lb/>
namentlich im Jüdiſchdeutſchen, manche Schreib- und Druckfehler<lb/>
vorhanden ſind. Wie es aber kommt, daß das verhältnißmäßig nur<lb/>
kleine Wörterbuch als ein ſo echter und vollkommener Typus des<lb/>
geſammten Gaunerthums und dadurch ganz eigenthümlich daſteht,<lb/>
das lehrt ſchon ein flüchtiger Blick auf die damalige heillos ver-<lb/>
fahrene Einrichtung der Anſtalt, die freilich kaum ſchlechter war<lb/>
als alle übrigen jener Zeit und von welcher die unbefangene<lb/>
Statiſtik des wackern Wagnitz <noteplace="foot"n="1)">„Hiſtoriſche Nachrichten und Bemerkungen über die merkwürdigſten Zucht-<lb/>
häuſer in Deutſchland“ u. ſ. w. (2 Bände, Halle 1791 — 94). Jn Bd. <hirendition="#aq">II</hi>,<lb/>
Abth. 2, S. 9, rechnet Wagnitz die Verbrechen nach ihrer procentweiſen Ver-<lb/>
tretung ſo auf: Mord ½, Mordbrand ½, Todtſchlag 2, Diebe und Vagan-<lb/>
ten 63, Sodomiterei ½, Blutſchande 1½, Unzucht 30 und Verſchwendung 2<lb/>
Procent.</note> nach mehrjährigen Zuſammen-<lb/>ſtellungen ein wahrhaft grauenerregendes Bild gibt. Jn faſt aus-<lb/>ſchließlicher Zahl findet man in St.-Georgen das <hirendition="#g">Gaunerthum</hi><lb/>
vertreten, und in welcher Weiſe gehalten! Bei dem gänzlichen<lb/>
Mangel an Jrrenanſtalten waren die Zellen in St.-Georgen<lb/>
mit — Wahnſinnigen überfüllt. Das Zuchthaus übte das ihm 1736<lb/>
verliehene Privilegium, in Marmor zu arbeiten, aus und bekam<lb/>ſpäter (1738) das fernere Privilegium, „Geſellen und Lehrlinge<lb/>
auf jeder Aeltern Verlangen aufzunehmen und aufzudingen“! Alſo<lb/>
eine freie Hochſchule des Gaunerthums im Zuchthauſe, mit voller<lb/>
Freizügigkeit vom Volke her und ins Volk hinein, eine Hochſchule<lb/>
grauenhafter Verbrechen innerhalb und außerhalb ſeiner Mauern,<lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#g">Avé-Lallemant,</hi> Gaunerthum. <hirendition="#aq">IV.</hi> 9</fw><lb/></p></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[129/0141]
Während man im Hinblick auf die Entſtehung des waldhei-
mer Lexikons wahrnimmt, daß in Waldheim die Stimme des Ver-
brechens in einzelnen Klängen ſich bemerkbar macht und die ſtutzig
gewordene Regierung zur Ausſchreibung von Collectaneen durchs
ganze Land veranlaßt, ſodaß eine weither zuſammengetragene offi-
cielle Sammlung entſtand: ſpricht ſich hier das wie in einen
Brennpunkt concentrirte Verbrechen in ganzer und einheitlicher
Fülle aus und tritt mit der Repräſentation faſt aller deutſchen
Dialekte und beſonders auch mit dem Judendeutſch überraſchend
correct in Form und logiſchem Verſtändniß hervor, wenn auch,
namentlich im Jüdiſchdeutſchen, manche Schreib- und Druckfehler
vorhanden ſind. Wie es aber kommt, daß das verhältnißmäßig nur
kleine Wörterbuch als ein ſo echter und vollkommener Typus des
geſammten Gaunerthums und dadurch ganz eigenthümlich daſteht,
das lehrt ſchon ein flüchtiger Blick auf die damalige heillos ver-
fahrene Einrichtung der Anſtalt, die freilich kaum ſchlechter war
als alle übrigen jener Zeit und von welcher die unbefangene
Statiſtik des wackern Wagnitz 1) nach mehrjährigen Zuſammen-
ſtellungen ein wahrhaft grauenerregendes Bild gibt. Jn faſt aus-
ſchließlicher Zahl findet man in St.-Georgen das Gaunerthum
vertreten, und in welcher Weiſe gehalten! Bei dem gänzlichen
Mangel an Jrrenanſtalten waren die Zellen in St.-Georgen
mit — Wahnſinnigen überfüllt. Das Zuchthaus übte das ihm 1736
verliehene Privilegium, in Marmor zu arbeiten, aus und bekam
ſpäter (1738) das fernere Privilegium, „Geſellen und Lehrlinge
auf jeder Aeltern Verlangen aufzunehmen und aufzudingen“! Alſo
eine freie Hochſchule des Gaunerthums im Zuchthauſe, mit voller
Freizügigkeit vom Volke her und ins Volk hinein, eine Hochſchule
grauenhafter Verbrechen innerhalb und außerhalb ſeiner Mauern,
1) „Hiſtoriſche Nachrichten und Bemerkungen über die merkwürdigſten Zucht-
häuſer in Deutſchland“ u. ſ. w. (2 Bände, Halle 1791 — 94). Jn Bd. II,
Abth. 2, S. 9, rechnet Wagnitz die Verbrechen nach ihrer procentweiſen Ver-
tretung ſo auf: Mord ½, Mordbrand ½, Todtſchlag 2, Diebe und Vagan-
ten 63, Sodomiterei ½, Blutſchande 1½, Unzucht 30 und Verſchwendung 2
Procent.
Avé-Lallemant, Gaunerthum. IV. 9
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 4. Leipzig, 1862, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum04_1862/141>, abgerufen am 31.10.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.