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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

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schen Despotismus und den Schinder der Völker denke,
welcher das von Natur selbst vermaledeite und mit lybischem
Sand bedeckte Land zum Abscheu der Menschen machen
und mit ewigem Fluch beladen wird?"14) In Preussen, wo
Christian Wolff bei Strafe des Stranges die Universität Halle
verlassen musste, weil er in Friedrich Wilhelms Deserteur-
skandale eingegriffen haben sollte! Die Uebereinstimmung
mit Luthers Kleinem Katechismus war erstes Gebot, gemäss
jenen Artikeln der Augsburgischen Konfession, nach denen
der Landesfürst die höchste geistliche Würde bekleidete, und
der Professor hatte als Werkzeug und Diener des Fürsten
das Amt, dessen Autorität zu erhärten und seine glorreiche
Allmacht zu fördern. Man ermesse darnach, was die Mensch-
heit von den protestantischen Universitäten Deutschlands seit
1530 zu erwarten hatte. Nur die allergründlichste Reform
des ganzen Bildungswesens in Deutschland wird den zwei-
deutigen Pharisäismus aufheben können, der jahrhunderte-
lang ex officio gezüchtet wurde 15). Jede Freiheitsregung
musste als Kontrebande auf Schleichwegen der Dialektik
befördert werden, und die Vorsicht gebot, zu Methoden
zu greifen, die jederzeit eine Hintertür offen liessen; vor-
ausgesetzt, dass der Professor wirklich den ernstlichen Willen
hatte, der Wahrheit zuliebe seinen Treuspruch zu brechen
und nicht vorzog, die Neuerungen der Zeit mit dem Dogma
des Absolutismus in sophistische Uebereinstimmung zu
bringen.

Was bedeutet es also, wenn schon Borowsky sagt,
dass Kants "Moral besonders nicht im Widerspruch mit
der christlichen Sittenlehre stehe"? Von den Beziehungen
des kategorischen Imperativs und des Kant'schen Persönlich-
keitsbegriffs zur Soldatendressur Friedrich Wilhelms I. soll
noch die Rede sein. Aber auch die berühmte Kant'sche
Sozialmaxime: "Handle so, dass die Maxime deines Wollens
zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten
könne" -- verleugnet sie den lutheranischen Staatsbegriff?

schen Despotismus und den Schinder der Völker denke,
welcher das von Natur selbst vermaledeite und mit lybischem
Sand bedeckte Land zum Abscheu der Menschen machen
und mit ewigem Fluch beladen wird?“14) In Preussen, wo
Christian Wolff bei Strafe des Stranges die Universität Halle
verlassen musste, weil er in Friedrich Wilhelms Deserteur-
skandale eingegriffen haben sollte! Die Uebereinstimmung
mit Luthers Kleinem Katechismus war erstes Gebot, gemäss
jenen Artikeln der Augsburgischen Konfession, nach denen
der Landesfürst die höchste geistliche Würde bekleidete, und
der Professor hatte als Werkzeug und Diener des Fürsten
das Amt, dessen Autorität zu erhärten und seine glorreiche
Allmacht zu fördern. Man ermesse darnach, was die Mensch-
heit von den protestantischen Universitäten Deutschlands seit
1530 zu erwarten hatte. Nur die allergründlichste Reform
des ganzen Bildungswesens in Deutschland wird den zwei-
deutigen Pharisäismus aufheben können, der jahrhunderte-
lang ex officio gezüchtet wurde 15). Jede Freiheitsregung
musste als Kontrebande auf Schleichwegen der Dialektik
befördert werden, und die Vorsicht gebot, zu Methoden
zu greifen, die jederzeit eine Hintertür offen liessen; vor-
ausgesetzt, dass der Professor wirklich den ernstlichen Willen
hatte, der Wahrheit zuliebe seinen Treuspruch zu brechen
und nicht vorzog, die Neuerungen der Zeit mit dem Dogma
des Absolutismus in sophistische Uebereinstimmung zu
bringen.

Was bedeutet es also, wenn schon Borowsky sagt,
dass Kants „Moral besonders nicht im Widerspruch mit
der christlichen Sittenlehre stehe“? Von den Beziehungen
des kategorischen Imperativs und des Kant'schen Persönlich-
keitsbegriffs zur Soldatendressur Friedrich Wilhelms I. soll
noch die Rede sein. Aber auch die berühmte Kant'sche
Sozialmaxime: „Handle so, dass die Maxime deines Wollens
zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten
könne“ — verleugnet sie den lutheranischen Staatsbegriff?

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[56/0064] schen Despotismus und den Schinder der Völker denke, welcher das von Natur selbst vermaledeite und mit lybischem Sand bedeckte Land zum Abscheu der Menschen machen und mit ewigem Fluch beladen wird?“ ¹⁴⁾ In Preussen, wo Christian Wolff bei Strafe des Stranges die Universität Halle verlassen musste, weil er in Friedrich Wilhelms Deserteur- skandale eingegriffen haben sollte! Die Uebereinstimmung mit Luthers Kleinem Katechismus war erstes Gebot, gemäss jenen Artikeln der Augsburgischen Konfession, nach denen der Landesfürst die höchste geistliche Würde bekleidete, und der Professor hatte als Werkzeug und Diener des Fürsten das Amt, dessen Autorität zu erhärten und seine glorreiche Allmacht zu fördern. Man ermesse darnach, was die Mensch- heit von den protestantischen Universitäten Deutschlands seit 1530 zu erwarten hatte. Nur die allergründlichste Reform des ganzen Bildungswesens in Deutschland wird den zwei- deutigen Pharisäismus aufheben können, der jahrhunderte- lang ex officio gezüchtet wurde ¹⁵⁾ . Jede Freiheitsregung musste als Kontrebande auf Schleichwegen der Dialektik befördert werden, und die Vorsicht gebot, zu Methoden zu greifen, die jederzeit eine Hintertür offen liessen; vor- ausgesetzt, dass der Professor wirklich den ernstlichen Willen hatte, der Wahrheit zuliebe seinen Treuspruch zu brechen und nicht vorzog, die Neuerungen der Zeit mit dem Dogma des Absolutismus in sophistische Uebereinstimmung zu bringen. Was bedeutet es also, wenn schon Borowsky sagt, dass Kants „Moral besonders nicht im Widerspruch mit der christlichen Sittenlehre stehe“? Von den Beziehungen des kategorischen Imperativs und des Kant'schen Persönlich- keitsbegriffs zur Soldatendressur Friedrich Wilhelms I. soll noch die Rede sein. Aber auch die berühmte Kant'sche Sozialmaxime: „Handle so, dass die Maxime deines Wollens zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“ — verleugnet sie den lutheranischen Staatsbegriff?

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Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/64>, abgerufen am 09.06.2024.