Beseler, Georg: Volksrecht und Juristenrecht. Leipzig, 1843.Zwölftes Kapitel. proceß dagegen mit seiner Untersuchungsmaxime, die nur zuWillkührlichkeiten führt, fehlt seit der Abschaffung der Folter der Schlußstein des ganzen Gebäudes; die über Alles wichtige Beweislehre ist durch und durch erschüttert, und in der Praxis so gut wie in der Theorie zeigt sich ein unstätes Schwanken, welches die innere Haltungslosigkeit des ganzen Systems deut- lich genug bekundet, und eben ein Zeugniß davon ablegt, wie wenig es dem mühevollen Scharfsinn einer in sich abgeschlos- senen Schule gelingen kann, den Anforderungen des Lebens und der Freiheit Genüge zu leisten. -- Auch das materielle Strafrecht, so tüchtig es auch in mancher Hinsicht durchgear- beitet worden, kann doch schon seiner gelehrten Färbung wegen und bei der Unsicherheit mancher allgemeiner Regeln und na- mentlich des Strafmaaßes, keinen Anspruch darauf machen, das Bedürfniß des Volkes und des Staates zu befriedigen; wie viele und wichtige Momente darin aber von den Juristen schief gefaßt oder übersehen worden sind, ist in neuerer Zeit, da eine mehr volksthümliche Gesetzgebung in diesem Rechts- theile angestrebt wird, bestimmt genug an den Tag gekom- men. -- Was ferner die Stellung des Juristenrechts im Staats- und Kirchenrechte betrifft, so verweise ich auf die im vorigen Kapitel gegebene Ausführung, und fasse nur noch das Privatrecht näher ins Auge. Auch auf diesem Gebiete haben die Juristen, obgleich ihnen hier gerade die freieste Bewegung vergönnt war, den ihrer Wirksamkeit überhaupt anhängenden Charakter nicht verleugnet. Der Kampf, den sie für das rö- mische Recht gegen das einheimische führten, war ja, in vielen Beziehungen wenigstens, ein beharrlich fortgesetztes Streben, den todten Buchstaben über das lebendige Wort zu setzen, und wenn auch am Ende das römische Recht einer oft willkühr- Zwoͤlftes Kapitel. proceß dagegen mit ſeiner Unterſuchungsmaxime, die nur zuWillkuͤhrlichkeiten fuͤhrt, fehlt ſeit der Abſchaffung der Folter der Schlußſtein des ganzen Gebaͤudes; die uͤber Alles wichtige Beweislehre iſt durch und durch erſchuͤttert, und in der Praxis ſo gut wie in der Theorie zeigt ſich ein unſtaͤtes Schwanken, welches die innere Haltungsloſigkeit des ganzen Syſtems deut- lich genug bekundet, und eben ein Zeugniß davon ablegt, wie wenig es dem muͤhevollen Scharfſinn einer in ſich abgeſchloſ- ſenen Schule gelingen kann, den Anforderungen des Lebens und der Freiheit Genuͤge zu leiſten. — Auch das materielle Strafrecht, ſo tuͤchtig es auch in mancher Hinſicht durchgear- beitet worden, kann doch ſchon ſeiner gelehrten Faͤrbung wegen und bei der Unſicherheit mancher allgemeiner Regeln und na- mentlich des Strafmaaßes, keinen Anſpruch darauf machen, das Beduͤrfniß des Volkes und des Staates zu befriedigen; wie viele und wichtige Momente darin aber von den Juriſten ſchief gefaßt oder uͤberſehen worden ſind, iſt in neuerer Zeit, da eine mehr volksthuͤmliche Geſetzgebung in dieſem Rechts- theile angeſtrebt wird, beſtimmt genug an den Tag gekom- men. — Was ferner die Stellung des Juriſtenrechts im Staats- und Kirchenrechte betrifft, ſo verweiſe ich auf die im vorigen Kapitel gegebene Ausfuͤhrung, und faſſe nur noch das Privatrecht naͤher ins Auge. Auch auf dieſem Gebiete haben die Juriſten, obgleich ihnen hier gerade die freieſte Bewegung vergoͤnnt war, den ihrer Wirkſamkeit uͤberhaupt anhaͤngenden Charakter nicht verleugnet. Der Kampf, den ſie fuͤr das roͤ- miſche Recht gegen das einheimiſche fuͤhrten, war ja, in vielen Beziehungen wenigſtens, ein beharrlich fortgeſetztes Streben, den todten Buchſtaben uͤber das lebendige Wort zu ſetzen, und wenn auch am Ende das roͤmiſche Recht einer oft willkuͤhr- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0368" n="356"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Zwoͤlftes Kapitel</hi>.</fw><lb/> proceß dagegen mit ſeiner Unterſuchungsmaxime, die nur zu<lb/> Willkuͤhrlichkeiten fuͤhrt, fehlt ſeit der Abſchaffung der Folter<lb/> der Schlußſtein des ganzen Gebaͤudes; die uͤber Alles wichtige<lb/> Beweislehre iſt durch und durch erſchuͤttert, und in der Praxis<lb/> ſo gut wie in der Theorie zeigt ſich ein unſtaͤtes Schwanken,<lb/> welches die innere Haltungsloſigkeit des ganzen Syſtems deut-<lb/> lich genug bekundet, und eben ein Zeugniß davon ablegt, wie<lb/> wenig es dem muͤhevollen Scharfſinn einer in ſich abgeſchloſ-<lb/> ſenen Schule gelingen kann, den Anforderungen des Lebens<lb/> und der Freiheit Genuͤge zu leiſten. — Auch das materielle<lb/> Strafrecht, ſo tuͤchtig es auch in mancher Hinſicht durchgear-<lb/> beitet worden, kann doch ſchon ſeiner gelehrten Faͤrbung wegen<lb/> und bei der Unſicherheit mancher allgemeiner Regeln und na-<lb/> mentlich des Strafmaaßes, keinen Anſpruch darauf machen,<lb/> das Beduͤrfniß des Volkes und des Staates zu befriedigen;<lb/> wie viele und wichtige Momente darin aber von den Juriſten<lb/> ſchief gefaßt oder uͤberſehen worden ſind, iſt in neuerer Zeit,<lb/> da eine mehr volksthuͤmliche Geſetzgebung in dieſem Rechts-<lb/> theile angeſtrebt wird, beſtimmt genug an den Tag gekom-<lb/> men. — Was ferner die Stellung des Juriſtenrechts im<lb/> Staats- und Kirchenrechte betrifft, ſo verweiſe ich auf die im<lb/> vorigen Kapitel gegebene Ausfuͤhrung, und faſſe nur noch das<lb/> Privatrecht naͤher ins Auge. Auch auf dieſem Gebiete haben<lb/> die Juriſten, obgleich ihnen hier gerade die freieſte Bewegung<lb/> vergoͤnnt war, den ihrer Wirkſamkeit uͤberhaupt anhaͤngenden<lb/> Charakter nicht verleugnet. Der Kampf, den ſie fuͤr das roͤ-<lb/> miſche Recht gegen das einheimiſche fuͤhrten, war ja, in vielen<lb/> Beziehungen wenigſtens, ein beharrlich fortgeſetztes Streben,<lb/> den todten Buchſtaben uͤber das lebendige Wort zu ſetzen, und<lb/> wenn auch am Ende das roͤmiſche Recht einer oft willkuͤhr-<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [356/0368]
Zwoͤlftes Kapitel.
proceß dagegen mit ſeiner Unterſuchungsmaxime, die nur zu
Willkuͤhrlichkeiten fuͤhrt, fehlt ſeit der Abſchaffung der Folter
der Schlußſtein des ganzen Gebaͤudes; die uͤber Alles wichtige
Beweislehre iſt durch und durch erſchuͤttert, und in der Praxis
ſo gut wie in der Theorie zeigt ſich ein unſtaͤtes Schwanken,
welches die innere Haltungsloſigkeit des ganzen Syſtems deut-
lich genug bekundet, und eben ein Zeugniß davon ablegt, wie
wenig es dem muͤhevollen Scharfſinn einer in ſich abgeſchloſ-
ſenen Schule gelingen kann, den Anforderungen des Lebens
und der Freiheit Genuͤge zu leiſten. — Auch das materielle
Strafrecht, ſo tuͤchtig es auch in mancher Hinſicht durchgear-
beitet worden, kann doch ſchon ſeiner gelehrten Faͤrbung wegen
und bei der Unſicherheit mancher allgemeiner Regeln und na-
mentlich des Strafmaaßes, keinen Anſpruch darauf machen,
das Beduͤrfniß des Volkes und des Staates zu befriedigen;
wie viele und wichtige Momente darin aber von den Juriſten
ſchief gefaßt oder uͤberſehen worden ſind, iſt in neuerer Zeit,
da eine mehr volksthuͤmliche Geſetzgebung in dieſem Rechts-
theile angeſtrebt wird, beſtimmt genug an den Tag gekom-
men. — Was ferner die Stellung des Juriſtenrechts im
Staats- und Kirchenrechte betrifft, ſo verweiſe ich auf die im
vorigen Kapitel gegebene Ausfuͤhrung, und faſſe nur noch das
Privatrecht naͤher ins Auge. Auch auf dieſem Gebiete haben
die Juriſten, obgleich ihnen hier gerade die freieſte Bewegung
vergoͤnnt war, den ihrer Wirkſamkeit uͤberhaupt anhaͤngenden
Charakter nicht verleugnet. Der Kampf, den ſie fuͤr das roͤ-
miſche Recht gegen das einheimiſche fuͤhrten, war ja, in vielen
Beziehungen wenigſtens, ein beharrlich fortgeſetztes Streben,
den todten Buchſtaben uͤber das lebendige Wort zu ſetzen, und
wenn auch am Ende das roͤmiſche Recht einer oft willkuͤhr-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |