Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Braun, Lily: Die Frauen und die Politik. Berlin, 1903.

Bild:
<< vorherige Seite

werden für ihre Herstellung nöthig sein. Also auch hier: Arbeits-
losigkeit, niedrige Löhne die unausbleibliche Folge. Die Ver-
ringerung der Kaufkraft geht damit Hand in Hand. Muß der Ar-
beiter den größten Theil seiner Einnahmen für die Ernährung an-
legen, so ist er gezwungen, die Befriedigung aller übrigen Be-
dürfnisse auf das äußerste Maß einzuschränken. Die Wirkung auf
die Jndustrie wäre eine unheilvolle: denn ihre Entwickelung und
ihre Blüthe hängen nicht ab von der Kaufkraft und Kauflust der
wenigen Wohlhabenden, sondern von der Konsumtionsfähigkeit der
großen Masse des Volkes.

Arbeitslosigkeit und niedrige Löhne, Entbehrung des Noth-
wendigsten an Nahrung, Kleidung und Wohnung, Unterdrückung
aller Wünsche, die bei Groß und Klein nach Erholung, nach Freude,
nach geistigen und künstlerischen Genüssen verlangen - wer
empfindet all diese Schrecken tiefer als das Weib, wem zerschneiden
sie mehr das Herz als der Mutter? Und wem drohen die gräßlichsten
Folgen dieses Elends mehr, als dem Mädchen, das selbst in guten
Zeiten schwer genug um seine Existenz kämpfen muß?

Es ist eine nicht fortzuleugnende Thatsache, daß Laster und
Verbrechen mit dem Steigen und Fallen der Lebensmittel-, vor allem
der Getreidepreise, zu- und abnehmen. Für die Eigenthums-
vergehen
ist das von einem hervorragenden Gelehrten, Professor
Georg von Mayr, längst bewiesen worden. Für den Alkoholismus
trifft es ebenso zu. Nicht nur, daß der Arbeiter gezwungen ist,
durch Bier und Schnaps seinem knurrenden Magen eine momentane
Sättigung vorzutäuschen, seine abnehmenden Kräfte auf Augenblicke
wenigstens aufzupeitschen, er wird auch um so eher zur Flasche
greifen, je mehr ihm jede andere Lebensfreude verschlossen bleibt,
je unerträglicher die Noth ist, die er, da er sie nicht überwinden
kann, wenigstens vergessen möchte. Was aber die Trunkenheit des
Mannes für die Fran bedeutet, das zu schildern dürfte kaum noch
nöthig sein: sie zerstört den Rest von Familienglück, den die traurigen
Verhältnisse noch übrig ließen, sie steigert die Noth zum Elend, sie
zwingt die Frau, sich jedem Grad der Ausbeutung willenlos hin-
zugeben.

Wie Kriminalität und Alkoholismus, so wächst unter den Hieben
der Hungerpeitsche die Prostitution, jener schlimmste Fluch der ent-
arteten Menschheit. Das Weib, "die Krone der Schöpfung", die
Vertreterin des "schönen, des zarten Geschlechts", von dem alle
Dichter singen, auf deren Wink alle Helden die gefährlichsten
Abenteuer bestanden, der die Welt zu Füßen liegt und unter deren
Herzen die Zukunft der Menschheit ruht - in den Schmutz der
Straße wirft sie dieselbe Gesellschaft, die sie feiert, und zwingt sie,
auf öffentlichem Markte ihren Körper feil zu halten wie eine Waare.
Zum Verkaufsobjekt werden die heiligsten Güter der Menschheit,
wird die Liebe selbst, der Schöpfer alles Lebens. Und fürchterlich

werden für ihre Herstellung nöthig sein. Also auch hier: Arbeits-
losigkeit, niedrige Löhne die unausbleibliche Folge. Die Ver-
ringerung der Kaufkraft geht damit Hand in Hand. Muß der Ar-
beiter den größten Theil seiner Einnahmen für die Ernährung an-
legen, so ist er gezwungen, die Befriedigung aller übrigen Be-
dürfnisse auf das äußerste Maß einzuschränken. Die Wirkung auf
die Jndustrie wäre eine unheilvolle: denn ihre Entwickelung und
ihre Blüthe hängen nicht ab von der Kaufkraft und Kauflust der
wenigen Wohlhabenden, sondern von der Konsumtionsfähigkeit der
großen Masse des Volkes.

Arbeitslosigkeit und niedrige Löhne, Entbehrung des Noth-
wendigsten an Nahrung, Kleidung und Wohnung, Unterdrückung
aller Wünsche, die bei Groß und Klein nach Erholung, nach Freude,
nach geistigen und künstlerischen Genüssen verlangen – wer
empfindet all diese Schrecken tiefer als das Weib, wem zerschneiden
sie mehr das Herz als der Mutter? Und wem drohen die gräßlichsten
Folgen dieses Elends mehr, als dem Mädchen, das selbst in guten
Zeiten schwer genug um seine Existenz kämpfen muß?

Es ist eine nicht fortzuleugnende Thatsache, daß Laster und
Verbrechen mit dem Steigen und Fallen der Lebensmittel-, vor allem
der Getreidepreise, zu- und abnehmen. Für die Eigenthums-
vergehen
ist das von einem hervorragenden Gelehrten, Professor
Georg von Mayr, längst bewiesen worden. Für den Alkoholismus
trifft es ebenso zu. Nicht nur, daß der Arbeiter gezwungen ist,
durch Bier und Schnaps seinem knurrenden Magen eine momentane
Sättigung vorzutäuschen, seine abnehmenden Kräfte auf Augenblicke
wenigstens aufzupeitschen, er wird auch um so eher zur Flasche
greifen, je mehr ihm jede andere Lebensfreude verschlossen bleibt,
je unerträglicher die Noth ist, die er, da er sie nicht überwinden
kann, wenigstens vergessen möchte. Was aber die Trunkenheit des
Mannes für die Fran bedeutet, das zu schildern dürfte kaum noch
nöthig sein: sie zerstört den Rest von Familienglück, den die traurigen
Verhältnisse noch übrig ließen, sie steigert die Noth zum Elend, sie
zwingt die Frau, sich jedem Grad der Ausbeutung willenlos hin-
zugeben.

Wie Kriminalität und Alkoholismus, so wächst unter den Hieben
der Hungerpeitsche die Prostitution, jener schlimmste Fluch der ent-
arteten Menschheit. Das Weib, „die Krone der Schöpfung“, die
Vertreterin des „schönen, des zarten Geschlechts“, von dem alle
Dichter singen, auf deren Wink alle Helden die gefährlichsten
Abenteuer bestanden, der die Welt zu Füßen liegt und unter deren
Herzen die Zukunft der Menschheit ruht – in den Schmutz der
Straße wirft sie dieselbe Gesellschaft, die sie feiert, und zwingt sie,
auf öffentlichem Markte ihren Körper feil zu halten wie eine Waare.
Zum Verkaufsobjekt werden die heiligsten Güter der Menschheit,
wird die Liebe selbst, der Schöpfer alles Lebens. Und fürchterlich

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0027" n="28"/>
werden für ihre Herstellung nöthig sein. Also                         auch hier: Arbeits-<lb/>
losigkeit, niedrige Löhne die unausbleibliche                         Folge. Die Ver-<lb/>
ringerung der Kaufkraft geht damit Hand in Hand. Muß                         der Ar-<lb/>
beiter den größten Theil seiner Einnahmen für die Ernährung                         an-<lb/>
legen, so ist er gezwungen, die Befriedigung aller übrigen Be-<lb/>
dürfnisse auf das äußerste Maß einzuschränken. Die Wirkung auf<lb/>
die                         Jndustrie wäre eine unheilvolle: denn ihre Entwickelung und<lb/>
ihre Blüthe                         hängen nicht ab von der Kaufkraft und Kauflust der<lb/>
wenigen                         Wohlhabenden, sondern von der Konsumtionsfähigkeit der<lb/>
großen Masse des                         Volkes.</p><lb/>
          <p>Arbeitslosigkeit und niedrige Löhne, Entbehrung des Noth-<lb/>
wendigsten an                         Nahrung, Kleidung und Wohnung, Unterdrückung<lb/>
aller Wünsche, die bei                         Groß und Klein nach Erholung, nach Freude,<lb/>
nach geistigen und                         künstlerischen Genüssen verlangen &#x2013; wer<lb/>
empfindet all diese                         Schrecken tiefer als das Weib, wem zerschneiden<lb/>
sie mehr das Herz als                         der Mutter? Und wem drohen die gräßlichsten<lb/>
Folgen dieses Elends mehr,                         als dem Mädchen, das selbst in guten<lb/>
Zeiten schwer genug um seine                         Existenz kämpfen muß?</p><lb/>
          <p>Es ist eine nicht fortzuleugnende Thatsache, daß Laster und<lb/>
Verbrechen                         mit dem Steigen und Fallen der Lebensmittel-, vor allem<lb/>
der                         Getreidepreise, zu- und abnehmen. Für die <hi rendition="#b">Eigenthums-<lb/>
vergehen</hi> ist das von einem hervorragenden                         Gelehrten, Professor<lb/>
Georg von Mayr, längst bewiesen worden. Für den <hi rendition="#b">Alkoholismus</hi><lb/>
trifft es ebenso zu. Nicht                         nur, daß der Arbeiter gezwungen ist,<lb/>
durch Bier und Schnaps seinem                         knurrenden Magen eine momentane<lb/>
Sättigung vorzutäuschen, seine                         abnehmenden Kräfte auf Augenblicke<lb/>
wenigstens aufzupeitschen, er wird                         auch um so eher zur Flasche<lb/>
greifen, je mehr ihm jede andere                         Lebensfreude verschlossen bleibt,<lb/>
je unerträglicher die Noth ist, die                         er, da er sie nicht überwinden<lb/>
kann, wenigstens vergessen möchte. Was                         aber die Trunkenheit des<lb/>
Mannes für die Fran bedeutet, das zu schildern                         dürfte kaum noch<lb/>
nöthig sein: sie zerstört den Rest von Familienglück,                         den die traurigen<lb/>
Verhältnisse noch übrig ließen, sie steigert die Noth                         zum Elend, sie<lb/>
zwingt die Frau, sich jedem Grad der Ausbeutung                         willenlos hin-<lb/>
zugeben.</p><lb/>
          <p>Wie Kriminalität und Alkoholismus, so wächst unter den Hieben<lb/>
der                         Hungerpeitsche die <hi rendition="#b">Prostitution,</hi> jener schlimmste                         Fluch der ent-<lb/>
arteten Menschheit. Das Weib, &#x201E;die Krone der                         Schöpfung&#x201C;, die<lb/>
Vertreterin des &#x201E;schönen, des zarten                         Geschlechts&#x201C;, von dem alle<lb/>
Dichter singen, auf deren Wink alle                         Helden die gefährlichsten<lb/>
Abenteuer bestanden, der die Welt zu Füßen                         liegt und unter deren<lb/>
Herzen die Zukunft der Menschheit ruht &#x2013;                         in den Schmutz der<lb/>
Straße wirft sie dieselbe Gesellschaft, die sie                         feiert, und zwingt sie,<lb/>
auf öffentlichem Markte ihren Körper feil zu                         halten wie eine Waare.<lb/>
Zum Verkaufsobjekt werden die heiligsten Güter                         der Menschheit,<lb/>
wird die Liebe selbst, der Schöpfer alles Lebens. Und fürchterlich<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[28/0027] werden für ihre Herstellung nöthig sein. Also auch hier: Arbeits- losigkeit, niedrige Löhne die unausbleibliche Folge. Die Ver- ringerung der Kaufkraft geht damit Hand in Hand. Muß der Ar- beiter den größten Theil seiner Einnahmen für die Ernährung an- legen, so ist er gezwungen, die Befriedigung aller übrigen Be- dürfnisse auf das äußerste Maß einzuschränken. Die Wirkung auf die Jndustrie wäre eine unheilvolle: denn ihre Entwickelung und ihre Blüthe hängen nicht ab von der Kaufkraft und Kauflust der wenigen Wohlhabenden, sondern von der Konsumtionsfähigkeit der großen Masse des Volkes. Arbeitslosigkeit und niedrige Löhne, Entbehrung des Noth- wendigsten an Nahrung, Kleidung und Wohnung, Unterdrückung aller Wünsche, die bei Groß und Klein nach Erholung, nach Freude, nach geistigen und künstlerischen Genüssen verlangen – wer empfindet all diese Schrecken tiefer als das Weib, wem zerschneiden sie mehr das Herz als der Mutter? Und wem drohen die gräßlichsten Folgen dieses Elends mehr, als dem Mädchen, das selbst in guten Zeiten schwer genug um seine Existenz kämpfen muß? Es ist eine nicht fortzuleugnende Thatsache, daß Laster und Verbrechen mit dem Steigen und Fallen der Lebensmittel-, vor allem der Getreidepreise, zu- und abnehmen. Für die Eigenthums- vergehen ist das von einem hervorragenden Gelehrten, Professor Georg von Mayr, längst bewiesen worden. Für den Alkoholismus trifft es ebenso zu. Nicht nur, daß der Arbeiter gezwungen ist, durch Bier und Schnaps seinem knurrenden Magen eine momentane Sättigung vorzutäuschen, seine abnehmenden Kräfte auf Augenblicke wenigstens aufzupeitschen, er wird auch um so eher zur Flasche greifen, je mehr ihm jede andere Lebensfreude verschlossen bleibt, je unerträglicher die Noth ist, die er, da er sie nicht überwinden kann, wenigstens vergessen möchte. Was aber die Trunkenheit des Mannes für die Fran bedeutet, das zu schildern dürfte kaum noch nöthig sein: sie zerstört den Rest von Familienglück, den die traurigen Verhältnisse noch übrig ließen, sie steigert die Noth zum Elend, sie zwingt die Frau, sich jedem Grad der Ausbeutung willenlos hin- zugeben. Wie Kriminalität und Alkoholismus, so wächst unter den Hieben der Hungerpeitsche die Prostitution, jener schlimmste Fluch der ent- arteten Menschheit. Das Weib, „die Krone der Schöpfung“, die Vertreterin des „schönen, des zarten Geschlechts“, von dem alle Dichter singen, auf deren Wink alle Helden die gefährlichsten Abenteuer bestanden, der die Welt zu Füßen liegt und unter deren Herzen die Zukunft der Menschheit ruht – in den Schmutz der Straße wirft sie dieselbe Gesellschaft, die sie feiert, und zwingt sie, auf öffentlichem Markte ihren Körper feil zu halten wie eine Waare. Zum Verkaufsobjekt werden die heiligsten Güter der Menschheit, wird die Liebe selbst, der Schöpfer alles Lebens. Und fürchterlich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU Gießen: Bereitstellung der Texttranskription. (2022-08-30T16:52:29Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Anna Pfundt, Dennis Dietrich: Bearbeitung der digitalen Edition. (2022-08-30T16:52:29Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: gekennzeichnet; Druckfehler: gekennzeichnet; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): gekennzeichnet; I/J in Fraktur: wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; Kolumnentitel: keine Angabe; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: wie Vorlage; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/braun_frauen_1903
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/braun_frauen_1903/27
Zitationshilfe: Braun, Lily: Die Frauen und die Politik. Berlin, 1903, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/braun_frauen_1903/27>, abgerufen am 06.05.2024.