Wie weit muß es doch mit Menschen gekom- men sein, bei denen man, um verstekt und räthsel- haft zu handeln, nur offenherzig und ehrlich zu Werke zu gehen braucht! Dis führt mich zu einer fünften Bemerkung, welche eben so nieder- schlagend ist:
Alle Menschen aus derjenigen Klasse, von der ich jezt rede, sind mehr oder we- niger unwahr, sind mehr oder weniger eine bloße luftige Erscheinung, welche von dem Wirklichen, was dabei zum Grunde liegt, oft mehr verschieden ist, als die Ge- stalt, die wir im Spiegel erblikken, von dem Spiegel selbst. Du staunst, mein Sohn? Ich erstaunte auch, da ich zum ersten- mahl aus dem süßen Traume der Kindheit er- wachte, und nun auf einmahl zu meinem Schrek- ken sahe, daß alle die feinen, artigen, gefälligen, sanften, gutherzigen, theilnehmenden, aufrichti-
gen
Kuͤnſte der Verſtellung zu thun im Stande waͤren.„
Wie weit muß es doch mit Menſchen gekom- men ſein, bei denen man, um verſtekt und raͤthſel- haft zu handeln, nur offenherzig und ehrlich zu Werke zu gehen braucht! Dis fuͤhrt mich zu einer fuͤnften Bemerkung, welche eben ſo nieder- ſchlagend iſt:
Alle Menſchen aus derjenigen Klaſſe, von der ich jezt rede, ſind mehr oder we- niger unwahr, ſind mehr oder weniger eine bloße luftige Erſcheinung, welche von dem Wirklichen, was dabei zum Grunde liegt, oft mehr verſchieden iſt, als die Ge- ſtalt, die wir im Spiegel erblikken, von dem Spiegel ſelbſt. Du ſtaunſt, mein Sohn? Ich erſtaunte auch, da ich zum erſten- mahl aus dem ſuͤßen Traume der Kindheit er- wachte, und nun auf einmahl zu meinem Schrek- ken ſahe, daß alle die feinen, artigen, gefaͤlligen, ſanften, gutherzigen, theilnehmenden, aufrichti-
gen
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Kuͤnſte der Verſtellung zu thun im Stande
waͤren.„
Wie weit muß es doch mit Menſchen gekom-
men ſein, bei denen man, um verſtekt und raͤthſel-
haft zu handeln, nur offenherzig und ehrlich zu
Werke zu gehen braucht! Dis fuͤhrt mich zu
einer fuͤnften Bemerkung, welche eben ſo nieder-
ſchlagend iſt:
Alle Menſchen aus derjenigen Klaſſe,
von der ich jezt rede, ſind mehr oder we-
niger unwahr, ſind mehr oder weniger
eine bloße luftige Erſcheinung, welche von
dem Wirklichen, was dabei zum Grunde
liegt, oft mehr verſchieden iſt, als die Ge-
ſtalt, die wir im Spiegel erblikken, von
dem Spiegel ſelbſt. Du ſtaunſt, mein
Sohn? Ich erſtaunte auch, da ich zum erſten-
mahl aus dem ſuͤßen Traume der Kindheit er-
wachte, und nun auf einmahl zu meinem Schrek-
ken ſahe, daß alle die feinen, artigen, gefaͤlligen,
ſanften, gutherzigen, theilnehmenden, aufrichti-
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Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 1. Hamburg, 1783, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron01_1783/146>, abgerufen am 23.05.2024.
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