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Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804.

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blos allegorische Maschienerie in ein historisches Gedicht p1c_312.002
gebracht, so ist dies eine Vermischung heterogener p1c_312.003
Dichtungsarten und läßt gewöhnlich kalt, weil dergleichen p1c_312.004
abstrakten Personen die individuellen Züge fehlen. Voltaire p1c_312.005
glaubte dadurch seine Henriade für aufgeklärte Nationen genießbar p1c_312.006
zu machen, allein Personen, wie die Zwietracht p1c_312.007
z. B., haben nicht so viel poetisches Leben, als die ursprünglich p1c_312.008
historischen Götter des Alterthums. Sie haben weder p1c_312.009
Charakter noch Leidenschaft, und die paar sinnlichen Attribute, p1c_312.010
mit denen sie ärmlich ausgestattet werden, sind nicht p1c_312.011
hinreichend zu interessiren. Mehr davon bey der Epopee. p1c_312.012
Die Commentatoren der Dichter suchen überall Allegorieen p1c_312.013
und dehnen die Erklärung bis auf die kleinsten Umstände aus. p1c_312.014
Dies ist z. B. der Fall mit der ersten Ekloge des Virgils. p1c_312.015
Freylich liegt der Fehler hier etwas am Dichter selbst und p1c_312.016
an seiner ungleichen nicht rein idyllischen Schreibart, wie p1c_312.017
schon Heyne bemerkt. Allein wenn man annehmen könnte, p1c_312.018
daß der Dichter selbst immer einen Doppelsinn vor Augen p1c_312.019
hätte, so würde nothwendig die Phantasie zu vielen Zwang p1c_312.020
des Verstandes erleiden, um noch hinlänglich lebhaft zu p1c_312.021
seyn. Wie Harduin mit dem Horaz, die italienischen Ausleger p1c_312.022
mit dem Ariost verfahren, ist bekannt. Tasso selbst p1c_312.023
soll in seinem blos historischen Gedicht hinterdrein eine Allegorie p1c_312.024
gesucht und gefunden haben. Dies ist ein Streben p1c_312.025
nach allgemeiner Wahrheit im poetischen Geiste, der sich p1c_312.026
nur selbst mißversteht. Der Dichter möchte gern seine p1c_312.027
Phantasieen mit den einmal aufgeführten abstrakten Systemen p1c_312.028
der Menschen aussöhnen, denen zu Liebe er oft ungerecht

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blos allegorische Maschienerie in ein historisches Gedicht p1c_312.002
gebracht, so ist dies eine Vermischung heterogener p1c_312.003
Dichtungsarten und läßt gewöhnlich kalt, weil dergleichen p1c_312.004
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z. B., haben nicht so viel poetisches Leben, als die ursprünglich p1c_312.008
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Die Commentatoren der Dichter suchen überall Allegorieen p1c_312.013
und dehnen die Erklärung bis auf die kleinsten Umstände aus. p1c_312.014
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Freylich liegt der Fehler hier etwas am Dichter selbst und p1c_312.016
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Zitationshilfe: Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804, S. 312. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/370>, abgerufen am 03.06.2024.