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Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804.

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getragen haben sollen. Allein wenn der Deklamator auch p1c_434.002
die Stelle des Dichters vertritt, so kommt es erst darauf p1c_434.003
an, zu bestimmen, ob die Person des Dichters selbst irgend p1c_434.004
einen phantastischen Eindruck machen soll. Bey Nazionen, p1c_434.005
die das Phantastische lieben, wie die Griechen, mochte dies p1c_434.006
der Fall seyn. Es gehört aber schlechterdings nicht zum p1c_434.007
Wesen der Kunst. Die Poesie ist die Darstellung p1c_434.008
des Jdealen durch Gedanken und Sprache. Wir haben schon p1c_434.009
oben gezeigt, daß der Dichter gar nicht auf ein Publikum p1c_434.010
Rücksicht zu nehmen braucht. Er ergötzt seinen eignen p1c_434.011
Geist an den Gedanken, und sein eignes Ohr an dem Wohllaut p1c_434.012
der Sprache. Selbst wenn er, wie die ältesten Sänger, p1c_434.013
seine Worte mit Saitenklang begleitet, ist sein Aeußerliches p1c_434.014
indifferent. Denn Poesie und Musik ist die Darstellung p1c_434.015
des Jdealen in der Zeit. Schauspielkunst ist ein zufälliges p1c_434.016
Jngredienz, wodurch zuweilen die Poesie an Würde p1c_434.017
verliehren kann, wenn sie gleich an Eindruck gewinnt. Da p1c_434.018
nun der Dichter selbst als ein unsichtbares Wesen spricht, p1c_434.019
so muß der Deklamator, der seine Person vertritt, sich ebenfalls p1c_434.020
als unsichtbar ansehen. Es ist also selbst dies eine falsche p1c_434.021
Meynung, daß der Deklamator das Gedicht auswendig hersagen p1c_434.022
müsse. Das auswendig Wissen hat seinen Vortheil, p1c_434.023
damit der Lesende das, was noch kommen soll, kenne und p1c_434.024
im Lesen nicht stocke. Jm übrigen aber ist ein Buch in der p1c_434.025
Hand ihm sehr nützlich, weil es ihm gerade die Gränze setzt, p1c_434.026
die ihn von der Mimik trennt, und die er nicht überspringen p1c_434.027
darf.

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getragen haben sollen. Allein wenn der Deklamator auch p1c_434.002
die Stelle des Dichters vertritt, so kommt es erst darauf p1c_434.003
an, zu bestimmen, ob die Person des Dichters selbst irgend p1c_434.004
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die das Phantastische lieben, wie die Griechen, mochte dies p1c_434.006
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Zitationshilfe: Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804, S. 434. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/492>, abgerufen am 03.06.2024.