p2c_700.001 Anmerk. 1. Hier erscheint die Poesie, als Nebenkunst, p2c_700.002 welche andre Künste unterstützt. Auf die Tempel p2c_700.003 der Alten, in ihre Haine, an Bildsäulen, Monumente wurden p2c_700.004 Jnschriften gesetzt, welche gewöhnlich ganz beschreibendp2c_700.005 waren. Die Aufschriften sind also ihrem Wesen p2c_700.006 nach von dem eigentlichen Sinngedicht ganz unterschieden. p2c_700.007 Die Aufschriften der Alten waren gemeiniglich kleine p2c_700.008 Gemälde des Gegenstandes für die Phantasie, späterhin nahmen p2c_700.009 sie freylich auch die Form des Sinngedichts an, das p2c_700.010 mehr für den Verstand ist. Folgende Aufschrift aus den p2c_700.011 sogenannten homerischen Epigrammen, die in der Anthologie p2c_700.012 dem Cleobulus zugeschrieben wird, ist offenbar ein beschreibendes p2c_700.013 Gedicht, weil es die Phantasie vorzüglich beschäftigt. p2c_700.014 "Seht, ein Mädchen von Erz, bewach ich den Hügel des p2c_700.015 Midas, Und so lange der Quell wird rinnen, grünen des p2c_700.016 Waldes Wipfel, sich füllen der Fluß, laut rauschen das p2c_700.017 wogige Weltmeer, glänzend steigen die Sonn und lieblich p2c_700.018 leuchten der Vollmond, werd ich lehnen hier an der vielumweineten p2c_700.019 Urne, Und dem Wandrer der Fremde verkünden p2c_700.020 das Grab des Midas." - Hier ist zwar auch eine Erwartung p2c_700.021 erregt und eine Auflösung gegeben. Der Verstand p2c_700.022 hat aber weniger Jnteresse dabey, als die Einbildungskraft. p2c_700.023 Das Ganze ist ein Bild, eine Beschreibung. Man setze p2c_700.024 den Fall, auf einer Bildsäule, welche die Victoria mit gebundenen p2c_700.025 Flügeln vorstellte, hätte man folgendes Epigramm p2c_700.026 gesunden: rome pambasileia teon kleos oupot' oleitai p2c_700.027 - nike gar se phugein apteros ou dunatai, so ist das p2c_700.028 auch eine bloße Beschreibung für die Phantasie, welche den
p2c_700.001 Anmerk. 1. Hier erscheint die Poesie, als Nebenkunst, p2c_700.002 welche andre Künste unterstützt. Auf die Tempel p2c_700.003 der Alten, in ihre Haine, an Bildsäulen, Monumente wurden p2c_700.004 Jnschriften gesetzt, welche gewöhnlich ganz beschreibendp2c_700.005 waren. Die Aufschriften sind also ihrem Wesen p2c_700.006 nach von dem eigentlichen Sinngedicht ganz unterschieden. p2c_700.007 Die Aufschriften der Alten waren gemeiniglich kleine p2c_700.008 Gemälde des Gegenstandes für die Phantasie, späterhin nahmen p2c_700.009 sie freylich auch die Form des Sinngedichts an, das p2c_700.010 mehr für den Verstand ist. Folgende Aufschrift aus den p2c_700.011 sogenannten homerischen Epigrammen, die in der Anthologie p2c_700.012 dem Cleobulus zugeschrieben wird, ist offenbar ein beschreibendes p2c_700.013 Gedicht, weil es die Phantasie vorzüglich beschäftigt. p2c_700.014 „Seht, ein Mädchen von Erz, bewach ich den Hügel des p2c_700.015 Midas, Und so lange der Quell wird rinnen, grünen des p2c_700.016 Waldes Wipfel, sich füllen der Fluß, laut rauschen das p2c_700.017 wogige Weltmeer, glänzend steigen die Sonn und lieblich p2c_700.018 leuchten der Vollmond, werd ich lehnen hier an der vielumweineten p2c_700.019 Urne, Und dem Wandrer der Fremde verkünden p2c_700.020 das Grab des Midas.“ ─ Hier ist zwar auch eine Erwartung p2c_700.021 erregt und eine Auflösung gegeben. Der Verstand p2c_700.022 hat aber weniger Jnteresse dabey, als die Einbildungskraft. p2c_700.023 Das Ganze ist ein Bild, eine Beschreibung. Man setze p2c_700.024 den Fall, auf einer Bildsäule, welche die Victoria mit gebundenen p2c_700.025 Flügeln vorstellte, hätte man folgendes Epigramm p2c_700.026 gesunden: ρωμη παμβασιλεια τεον κλεος ὁυποτ' ὀλειται p2c_700.027 ─ νικη γαρ σε φυγειν ἀπτερος ὀυ δυναται, so ist das p2c_700.028 auch eine bloße Beschreibung für die Phantasie, welche den
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Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804, S. 700. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik02_1804/224>, abgerufen am 18.06.2024.
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