ganz abgeschwächt. Wo andrerseits das Sittliche in der Motivation selber zum Gegenstand der Untersuchung gemacht wird, ist die Analyse sehr schwierig. Denn nur der Zusammenhang zwischen Motiv und Handlung ist uns in klarem Bewußtsein gegeben; die Motive aber treten auf eine uns räthselhafte Weise hervor. Daher ist der Charakter des Menschen diesem selber ein Geheimniß, welches ihm nur seine Handlungsweise theilweise sichtbar macht. Durch- sichtigkeit des Zusammenhangs von Charakter, Motiv und Hand- lung eignet den Gestalten des Dichters, nicht der Anschauung des wirklichen Lebens, und so liegt auch das Aesthetische in der Er- scheinung des wirklichen Menschen darin, daß über seinen Hand- lungen noch ein Abglanz der hervorbringenden Seele leuchtender als über denen der anderen Menschen liegt.
In dieser Doppelgestalt durchwirkt nun das sittliche Bewußt- sein in einem unendlich verzweigten Spiel von Wirkungen und Reaktionen die ganze beseelte Gesellschaft. Dem Entwickelten ent- sprechend kann das Bewegende in ihm in zwei Formen von Kräften zerlegt werden. Es wirkt zunächst direkt, als Ausbildung eines moralischen Bewußtseins und unter seinem Antrieb stehende Regelung der Handlungen. Alles was das Leben für den Menschen lebenswerth macht, ruhet auf dem Grunde des Gewissens: denn wer Gefühl seiner Würde hat und darum dem, was sonst sich wandeln kann, gefaßt in's Auge blickt, bedarf doch dieses Fun- damentes nicht nur bei sich, sondern auch bei denen, die er liebt, um leben zu können. Die andere Form von psychologischer Kraft, durch welche das sittliche Bewußtsein in der Gesellschaft wirkt, ist indirekt. Das moralische Bewußtsein, das sich in der Gesellschaft ausbildet, wirkt als ein Druck auf den Einzelnen. Gerade hierauf ist es gegründet, daß Sittlichkeit als ein System über den weitesten Umkreis der Gesellschaft herrscht und sich die mannigfachsten Be- weggründe in ihr unterwirft. Sklaven gleich, dienen gezwungen dieser Macht des sittlichen Systems auch die niedrigsten Motive. Die öffentliche Meinung, das Urtheil der anderen Menschen, die Ehre: diese sind die starken Bänder, welche die Gesellschaft da zu- sammenhalten, wo der Zwang, den das Recht übt, versagt. Und
Erſtes einleitendes Buch.
ganz abgeſchwächt. Wo andrerſeits das Sittliche in der Motivation ſelber zum Gegenſtand der Unterſuchung gemacht wird, iſt die Analyſe ſehr ſchwierig. Denn nur der Zuſammenhang zwiſchen Motiv und Handlung iſt uns in klarem Bewußtſein gegeben; die Motive aber treten auf eine uns räthſelhafte Weiſe hervor. Daher iſt der Charakter des Menſchen dieſem ſelber ein Geheimniß, welches ihm nur ſeine Handlungsweiſe theilweiſe ſichtbar macht. Durch- ſichtigkeit des Zuſammenhangs von Charakter, Motiv und Hand- lung eignet den Geſtalten des Dichters, nicht der Anſchauung des wirklichen Lebens, und ſo liegt auch das Aeſthetiſche in der Er- ſcheinung des wirklichen Menſchen darin, daß über ſeinen Hand- lungen noch ein Abglanz der hervorbringenden Seele leuchtender als über denen der anderen Menſchen liegt.
In dieſer Doppelgeſtalt durchwirkt nun das ſittliche Bewußt- ſein in einem unendlich verzweigten Spiel von Wirkungen und Reaktionen die ganze beſeelte Geſellſchaft. Dem Entwickelten ent- ſprechend kann das Bewegende in ihm in zwei Formen von Kräften zerlegt werden. Es wirkt zunächſt direkt, als Ausbildung eines moraliſchen Bewußtſeins und unter ſeinem Antrieb ſtehende Regelung der Handlungen. Alles was das Leben für den Menſchen lebenswerth macht, ruhet auf dem Grunde des Gewiſſens: denn wer Gefühl ſeiner Würde hat und darum dem, was ſonſt ſich wandeln kann, gefaßt in’s Auge blickt, bedarf doch dieſes Fun- damentes nicht nur bei ſich, ſondern auch bei denen, die er liebt, um leben zu können. Die andere Form von pſychologiſcher Kraft, durch welche das ſittliche Bewußtſein in der Geſellſchaft wirkt, iſt indirekt. Das moraliſche Bewußtſein, das ſich in der Geſellſchaft ausbildet, wirkt als ein Druck auf den Einzelnen. Gerade hierauf iſt es gegründet, daß Sittlichkeit als ein Syſtem über den weiteſten Umkreis der Geſellſchaft herrſcht und ſich die mannigfachſten Be- weggründe in ihr unterwirft. Sklaven gleich, dienen gezwungen dieſer Macht des ſittlichen Syſtems auch die niedrigſten Motive. Die öffentliche Meinung, das Urtheil der anderen Menſchen, die Ehre: dieſe ſind die ſtarken Bänder, welche die Geſellſchaft da zu- ſammenhalten, wo der Zwang, den das Recht übt, verſagt. Und
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Erſtes einleitendes Buch.
ganz abgeſchwächt. Wo andrerſeits das Sittliche in der Motivation
ſelber zum Gegenſtand der Unterſuchung gemacht wird, iſt die
Analyſe ſehr ſchwierig. Denn nur der Zuſammenhang zwiſchen
Motiv und Handlung iſt uns in klarem Bewußtſein gegeben; die
Motive aber treten auf eine uns räthſelhafte Weiſe hervor. Daher
iſt der Charakter des Menſchen dieſem ſelber ein Geheimniß, welches
ihm nur ſeine Handlungsweiſe theilweiſe ſichtbar macht. Durch-
ſichtigkeit des Zuſammenhangs von Charakter, Motiv und Hand-
lung eignet den Geſtalten des Dichters, nicht der Anſchauung des
wirklichen Lebens, und ſo liegt auch das Aeſthetiſche in der Er-
ſcheinung des wirklichen Menſchen darin, daß über ſeinen Hand-
lungen noch ein Abglanz der hervorbringenden Seele leuchtender
als über denen der anderen Menſchen liegt.
In dieſer Doppelgeſtalt durchwirkt nun das ſittliche Bewußt-
ſein in einem unendlich verzweigten Spiel von Wirkungen und
Reaktionen die ganze beſeelte Geſellſchaft. Dem Entwickelten ent-
ſprechend kann das Bewegende in ihm in zwei Formen von
Kräften zerlegt werden. Es wirkt zunächſt direkt, als Ausbildung
eines moraliſchen Bewußtſeins und unter ſeinem Antrieb ſtehende
Regelung der Handlungen. Alles was das Leben für den Menſchen
lebenswerth macht, ruhet auf dem Grunde des Gewiſſens: denn
wer Gefühl ſeiner Würde hat und darum dem, was ſonſt ſich
wandeln kann, gefaßt in’s Auge blickt, bedarf doch dieſes Fun-
damentes nicht nur bei ſich, ſondern auch bei denen, die er liebt,
um leben zu können. Die andere Form von pſychologiſcher Kraft,
durch welche das ſittliche Bewußtſein in der Geſellſchaft wirkt, iſt
indirekt. Das moraliſche Bewußtſein, das ſich in der Geſellſchaft
ausbildet, wirkt als ein Druck auf den Einzelnen. Gerade hierauf
iſt es gegründet, daß Sittlichkeit als ein Syſtem über den weiteſten
Umkreis der Geſellſchaft herrſcht und ſich die mannigfachſten Be-
weggründe in ihr unterwirft. Sklaven gleich, dienen gezwungen
dieſer Macht des ſittlichen Syſtems auch die niedrigſten Motive.
Die öffentliche Meinung, das Urtheil der anderen Menſchen, die
Ehre: dieſe ſind die ſtarken Bänder, welche die Geſellſchaft da zu-
ſammenhalten, wo der Zwang, den das Recht übt, verſagt. Und
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/101>, abgerufen am 13.06.2024.
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