Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836.

Bild:
<< vorherige Seite

Welt so lange gewartet, bis ich sie kannte so wäre
meine Darstellung Persiflage geworden."

"Es liegt in den Characteren, sagte er ein ander
Mal, eine gewisse Nothwendigkeit, eine gewisse Consequenz,
vermöge welcher bey diesem oder jenem Grundzuge eines
Characters gewisse secundäre Züge Statt finden. Dieses
lehrt die Empirie genugsam, es kann aber auch einzelnen
Individuen die Kenntniß davon angeboren seyn. Ob
bey mir Angeborenes und Erfahrung sich vereinige, will
ich nicht untersuchen; aber so viel weiß ich: wenn ich
jemanden eine Viertelstunde gesprochen habe, so will ich
ihn zwey Stunden reden lassen."

So hatte Goethe von Lord Byron gesagt, daß ihm
die Welt durchsichtig sey und daß ihm ihre Darstellung
durch Anticipation möglich. Ich äußerte darauf einige
Zweifel: ob es Byron z. B. gelingen möchte, eine
untergeordnete thierische Natur darzustellen, indem seine
Individualität mir zu gewaltsam erscheine, um sich sol¬
chen Gegenständen mit Liebe hinzugeben. Goethe gab
dieses zu und erwiederte, daß die Anticipation sich über¬
all nur soweit erstrecke, als die Gegenstände dem Talent
analog seyen, und wir wurden einig, daß in dem Ver¬
hältniß, wie die Anticipation beschränkt oder umfassend
sey, das darstellende Talent selbst von größerem oder
geringerem Umfange befunden werde.

Wenn Eure Excellenz behaupten, sagte ich darauf,
daß dem Dichter die Welt angeboren sey, so haben Sie

Welt ſo lange gewartet, bis ich ſie kannte ſo waͤre
meine Darſtellung Perſiflage geworden.“

„Es liegt in den Characteren, ſagte er ein ander
Mal, eine gewiſſe Nothwendigkeit, eine gewiſſe Conſequenz,
vermoͤge welcher bey dieſem oder jenem Grundzuge eines
Characters gewiſſe ſecundaͤre Zuͤge Statt finden. Dieſes
lehrt die Empirie genugſam, es kann aber auch einzelnen
Individuen die Kenntniß davon angeboren ſeyn. Ob
bey mir Angeborenes und Erfahrung ſich vereinige, will
ich nicht unterſuchen; aber ſo viel weiß ich: wenn ich
jemanden eine Viertelſtunde geſprochen habe, ſo will ich
ihn zwey Stunden reden laſſen.“

So hatte Goethe von Lord Byron geſagt, daß ihm
die Welt durchſichtig ſey und daß ihm ihre Darſtellung
durch Anticipation moͤglich. Ich aͤußerte darauf einige
Zweifel: ob es Byron z. B. gelingen moͤchte, eine
untergeordnete thieriſche Natur darzuſtellen, indem ſeine
Individualitaͤt mir zu gewaltſam erſcheine, um ſich ſol¬
chen Gegenſtaͤnden mit Liebe hinzugeben. Goethe gab
dieſes zu und erwiederte, daß die Anticipation ſich uͤber¬
all nur ſoweit erſtrecke, als die Gegenſtaͤnde dem Talent
analog ſeyen, und wir wurden einig, daß in dem Ver¬
haͤltniß, wie die Anticipation beſchraͤnkt oder umfaſſend
ſey, das darſtellende Talent ſelbſt von groͤßerem oder
geringerem Umfange befunden werde.

Wenn Eure Excellenz behaupten, ſagte ich darauf,
daß dem Dichter die Welt angeboren ſey, ſo haben Sie

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0147" n="127"/>
Welt &#x017F;o lange gewartet, bis ich &#x017F;ie kannte &#x017F;o wa&#x0364;re<lb/>
meine Dar&#x017F;tellung Per&#x017F;iflage geworden.&#x201C;</p><lb/>
          <p>&#x201E;Es liegt in den Characteren, &#x017F;agte er ein ander<lb/>
Mal, eine gewi&#x017F;&#x017F;e Nothwendigkeit, eine gewi&#x017F;&#x017F;e Con&#x017F;equenz,<lb/>
vermo&#x0364;ge welcher bey die&#x017F;em oder jenem Grundzuge eines<lb/>
Characters gewi&#x017F;&#x017F;e &#x017F;ecunda&#x0364;re Zu&#x0364;ge Statt finden. Die&#x017F;es<lb/>
lehrt die Empirie genug&#x017F;am, es kann aber auch einzelnen<lb/>
Individuen die Kenntniß davon angeboren &#x017F;eyn. Ob<lb/>
bey mir Angeborenes und Erfahrung &#x017F;ich vereinige, will<lb/>
ich nicht unter&#x017F;uchen; aber &#x017F;o viel weiß ich: wenn ich<lb/>
jemanden eine Viertel&#x017F;tunde ge&#x017F;prochen habe, &#x017F;o will ich<lb/>
ihn zwey Stunden reden la&#x017F;&#x017F;en.&#x201C;</p><lb/>
          <p>So hatte Goethe von Lord Byron ge&#x017F;agt, daß ihm<lb/>
die Welt durch&#x017F;ichtig &#x017F;ey und daß ihm ihre Dar&#x017F;tellung<lb/>
durch Anticipation mo&#x0364;glich. Ich a&#x0364;ußerte darauf einige<lb/>
Zweifel: ob es Byron z. B. gelingen mo&#x0364;chte, eine<lb/>
untergeordnete thieri&#x017F;che Natur darzu&#x017F;tellen, indem &#x017F;eine<lb/>
Individualita&#x0364;t mir zu gewalt&#x017F;am er&#x017F;cheine, um &#x017F;ich &#x017F;ol¬<lb/>
chen Gegen&#x017F;ta&#x0364;nden mit Liebe hinzugeben. Goethe gab<lb/>
die&#x017F;es zu und erwiederte, daß die Anticipation &#x017F;ich u&#x0364;ber¬<lb/>
all nur &#x017F;oweit er&#x017F;trecke, als die Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde dem Talent<lb/>
analog &#x017F;eyen, und wir wurden einig, daß in dem Ver¬<lb/>
ha&#x0364;ltniß, wie die Anticipation be&#x017F;chra&#x0364;nkt oder umfa&#x017F;&#x017F;end<lb/>
&#x017F;ey, das dar&#x017F;tellende Talent &#x017F;elb&#x017F;t von gro&#x0364;ßerem oder<lb/>
geringerem Umfange befunden werde.</p><lb/>
          <p>Wenn Eure Excellenz behaupten, &#x017F;agte ich darauf,<lb/>
daß dem Dichter die Welt angeboren &#x017F;ey, &#x017F;o haben Sie<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[127/0147] Welt ſo lange gewartet, bis ich ſie kannte ſo waͤre meine Darſtellung Perſiflage geworden.“ „Es liegt in den Characteren, ſagte er ein ander Mal, eine gewiſſe Nothwendigkeit, eine gewiſſe Conſequenz, vermoͤge welcher bey dieſem oder jenem Grundzuge eines Characters gewiſſe ſecundaͤre Zuͤge Statt finden. Dieſes lehrt die Empirie genugſam, es kann aber auch einzelnen Individuen die Kenntniß davon angeboren ſeyn. Ob bey mir Angeborenes und Erfahrung ſich vereinige, will ich nicht unterſuchen; aber ſo viel weiß ich: wenn ich jemanden eine Viertelſtunde geſprochen habe, ſo will ich ihn zwey Stunden reden laſſen.“ So hatte Goethe von Lord Byron geſagt, daß ihm die Welt durchſichtig ſey und daß ihm ihre Darſtellung durch Anticipation moͤglich. Ich aͤußerte darauf einige Zweifel: ob es Byron z. B. gelingen moͤchte, eine untergeordnete thieriſche Natur darzuſtellen, indem ſeine Individualitaͤt mir zu gewaltſam erſcheine, um ſich ſol¬ chen Gegenſtaͤnden mit Liebe hinzugeben. Goethe gab dieſes zu und erwiederte, daß die Anticipation ſich uͤber¬ all nur ſoweit erſtrecke, als die Gegenſtaͤnde dem Talent analog ſeyen, und wir wurden einig, daß in dem Ver¬ haͤltniß, wie die Anticipation beſchraͤnkt oder umfaſſend ſey, das darſtellende Talent ſelbſt von groͤßerem oder geringerem Umfange befunden werde. Wenn Eure Excellenz behaupten, ſagte ich darauf, daß dem Dichter die Welt angeboren ſey, ſo haben Sie

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/147
Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 127. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/147>, abgerufen am 31.10.2024.