Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836.

Bild:
<< vorherige Seite

derselbigen Stelle, wo wir gestern den Hamlet sahen,
sehen wir heute den Staberle, und wo uns morgen
die Zauberflöte entzückt, sollen wir übermorgen an den
Späßen des neuen Sonntagskindes Gefallen finden.
Dadurch entsteht beym Publicum eine Confusion im
Urtheil, eine Vermengung der verschiedenen Gattungen,
die es nie gehörig schätzen und begreifen lernt. Und
dann hat Jeder seine individuellen Forderungen und
seine persönlichen Wünsche, mit denen er sich wieder
nach der Stelle wendet, wo er sie realisirt fand. An
demselbigen Baum, wo er heute Feigen gepflückt, will
er sie morgen wieder pflücken, und er würde ein sehr
verdrießliches Gesicht machen, wenn etwa über Nacht
Schlehen gewachsen wären. Ist aber jemand Freund
von Schlehen, der wendet sich an die Dornen."

"Schiller hatte den guten Gedanken, ein eigenes
Haus für die Tragödie zu bauen, auch jede Woche ein
Stück bloß für Männer zu geben. Allein dieß setzte
eine sehr große Residenz voraus und war in unsern
kleinen Verhältnissen nicht zu realisiren."

Wir sprachen über die Stücke von Iffland und
Kotzebue, die Goethe in ihrer Art sehr hoch schätzte.
"Eben aus dem gedachten Fehler, sagte er, daß niemand
die Gattungen gehörig unterscheidet, sind die Stücke
jener Männer oft sehr ungerechter Weise getadelt wor¬
den. Man kann aber lange warten, ehe ein paar so
populare Talente wieder kommen."

derſelbigen Stelle, wo wir geſtern den Hamlet ſahen,
ſehen wir heute den Staberle, und wo uns morgen
die Zauberfloͤte entzuͤckt, ſollen wir uͤbermorgen an den
Spaͤßen des neuen Sonntagskindes Gefallen finden.
Dadurch entſteht beym Publicum eine Confuſion im
Urtheil, eine Vermengung der verſchiedenen Gattungen,
die es nie gehoͤrig ſchaͤtzen und begreifen lernt. Und
dann hat Jeder ſeine individuellen Forderungen und
ſeine perſoͤnlichen Wuͤnſche, mit denen er ſich wieder
nach der Stelle wendet, wo er ſie realiſirt fand. An
demſelbigen Baum, wo er heute Feigen gepfluͤckt, will
er ſie morgen wieder pfluͤcken, und er wuͤrde ein ſehr
verdrießliches Geſicht machen, wenn etwa uͤber Nacht
Schlehen gewachſen waͤren. Iſt aber jemand Freund
von Schlehen, der wendet ſich an die Dornen.“

„Schiller hatte den guten Gedanken, ein eigenes
Haus fuͤr die Tragoͤdie zu bauen, auch jede Woche ein
Stuͤck bloß fuͤr Maͤnner zu geben. Allein dieß ſetzte
eine ſehr große Reſidenz voraus und war in unſern
kleinen Verhaͤltniſſen nicht zu realiſiren.“

Wir ſprachen uͤber die Stuͤcke von Iffland und
Kotzebue, die Goethe in ihrer Art ſehr hoch ſchaͤtzte.
„Eben aus dem gedachten Fehler, ſagte er, daß niemand
die Gattungen gehoͤrig unterſcheidet, ſind die Stuͤcke
jener Maͤnner oft ſehr ungerechter Weiſe getadelt wor¬
den. Man kann aber lange warten, ehe ein paar ſo
populare Talente wieder kommen.“

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0160" n="140"/>
der&#x017F;elbigen Stelle, wo wir ge&#x017F;tern den Hamlet &#x017F;ahen,<lb/>
&#x017F;ehen wir heute den Staberle, und wo uns morgen<lb/>
die Zauberflo&#x0364;te entzu&#x0364;ckt, &#x017F;ollen wir u&#x0364;bermorgen an den<lb/>
Spa&#x0364;ßen des neuen Sonntagskindes Gefallen finden.<lb/>
Dadurch ent&#x017F;teht beym Publicum eine Confu&#x017F;ion im<lb/>
Urtheil, eine Vermengung der ver&#x017F;chiedenen Gattungen,<lb/>
die es nie geho&#x0364;rig &#x017F;cha&#x0364;tzen und begreifen lernt. Und<lb/>
dann hat Jeder &#x017F;eine individuellen Forderungen und<lb/>
&#x017F;eine per&#x017F;o&#x0364;nlichen Wu&#x0364;n&#x017F;che, mit denen er &#x017F;ich wieder<lb/>
nach der Stelle wendet, wo er &#x017F;ie reali&#x017F;irt fand. An<lb/>
dem&#x017F;elbigen Baum, wo er heute Feigen gepflu&#x0364;ckt, will<lb/>
er &#x017F;ie morgen wieder pflu&#x0364;cken, und er wu&#x0364;rde ein &#x017F;ehr<lb/>
verdrießliches Ge&#x017F;icht machen, wenn etwa u&#x0364;ber Nacht<lb/>
Schlehen gewach&#x017F;en wa&#x0364;ren. I&#x017F;t aber jemand Freund<lb/>
von Schlehen, der wendet &#x017F;ich an die Dornen.&#x201C;</p><lb/>
          <p>&#x201E;Schiller hatte den guten Gedanken, ein eigenes<lb/>
Haus fu&#x0364;r die Trago&#x0364;die zu bauen, auch jede Woche ein<lb/>
Stu&#x0364;ck bloß fu&#x0364;r Ma&#x0364;nner zu geben. Allein dieß &#x017F;etzte<lb/>
eine &#x017F;ehr große Re&#x017F;idenz voraus und war in un&#x017F;ern<lb/>
kleinen Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;en nicht zu reali&#x017F;iren.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Wir &#x017F;prachen u&#x0364;ber die Stu&#x0364;cke von <hi rendition="#g">Iffland</hi> und<lb/><hi rendition="#g">Kotzebue</hi>, die Goethe in ihrer Art &#x017F;ehr hoch &#x017F;cha&#x0364;tzte.<lb/>
&#x201E;Eben aus dem gedachten Fehler, &#x017F;agte er, daß niemand<lb/>
die Gattungen geho&#x0364;rig unter&#x017F;cheidet, &#x017F;ind die Stu&#x0364;cke<lb/>
jener Ma&#x0364;nner oft &#x017F;ehr ungerechter Wei&#x017F;e getadelt wor¬<lb/>
den. Man kann aber lange warten, ehe ein paar &#x017F;o<lb/>
populare Talente wieder kommen.&#x201C;<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[140/0160] derſelbigen Stelle, wo wir geſtern den Hamlet ſahen, ſehen wir heute den Staberle, und wo uns morgen die Zauberfloͤte entzuͤckt, ſollen wir uͤbermorgen an den Spaͤßen des neuen Sonntagskindes Gefallen finden. Dadurch entſteht beym Publicum eine Confuſion im Urtheil, eine Vermengung der verſchiedenen Gattungen, die es nie gehoͤrig ſchaͤtzen und begreifen lernt. Und dann hat Jeder ſeine individuellen Forderungen und ſeine perſoͤnlichen Wuͤnſche, mit denen er ſich wieder nach der Stelle wendet, wo er ſie realiſirt fand. An demſelbigen Baum, wo er heute Feigen gepfluͤckt, will er ſie morgen wieder pfluͤcken, und er wuͤrde ein ſehr verdrießliches Geſicht machen, wenn etwa uͤber Nacht Schlehen gewachſen waͤren. Iſt aber jemand Freund von Schlehen, der wendet ſich an die Dornen.“ „Schiller hatte den guten Gedanken, ein eigenes Haus fuͤr die Tragoͤdie zu bauen, auch jede Woche ein Stuͤck bloß fuͤr Maͤnner zu geben. Allein dieß ſetzte eine ſehr große Reſidenz voraus und war in unſern kleinen Verhaͤltniſſen nicht zu realiſiren.“ Wir ſprachen uͤber die Stuͤcke von Iffland und Kotzebue, die Goethe in ihrer Art ſehr hoch ſchaͤtzte. „Eben aus dem gedachten Fehler, ſagte er, daß niemand die Gattungen gehoͤrig unterſcheidet, ſind die Stuͤcke jener Maͤnner oft ſehr ungerechter Weiſe getadelt wor¬ den. Man kann aber lange warten, ehe ein paar ſo populare Talente wieder kommen.“

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/160
Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/160>, abgerufen am 31.10.2024.