Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836.

Bild:
<< vorherige Seite

men genug, und ich hätte mich nicht neuen Bekannt¬
schaften und anderem Umgange hingeben können, ohne
mich im Innersten zu zerstören.

"Ihr seyd ein wunderlicher Christ, sagte Goethe
lachend; thut, was Ihr wollt, ich will Euch gewähren
lassen."

Und dann, fuhr ich fort, trage ich in die Gesell¬
schaft gewöhnlich meine persönlichen Neigungen und
Abneigungen, und ein gewisses Bedürfniß zu lieben und
geliebt zu werden. Ich suche eine Persönlichkeit, die
meiner eigenen Natur gemäß sey; dieser möchte ich mich
gerne hingeben und mit den Andern nichts zu thun
haben.

"Diese Ihre Natur-Tendenz, erwiederte Goethe, ist
freylich nicht geselliger Art; allein was wäre alle Bil¬
dung, wenn wir unsere natürlichen Richtungen nicht
wollten zu überwinden suchen. Es ist eine große Thor¬
heit, zu verlangen, daß die Menschen zu uns harmo¬
niren sollen. Ich habe es nie gethan. Ich habe einen
Menschen immer nur als ein für sich bestehendes Indi¬
viduum angesehen, das ich zu erforschen und das ich in
seiner Eigenthümlichkeit kennen zu lernen trachtete, wo¬
von ich aber durchaus keine weitere Sympathie ver¬
langte. Dadurch habe ich es nun dahin gebracht, mit
jedem Menschen umgehen zu können, und dadurch allein
entsteht die Kenntniß mannigfaltiger Charactere, so wie
die nöthige Gewandtheit im Leben. Denn gerade bey

men genug, und ich haͤtte mich nicht neuen Bekannt¬
ſchaften und anderem Umgange hingeben koͤnnen, ohne
mich im Innerſten zu zerſtoͤren.

„Ihr ſeyd ein wunderlicher Chriſt, ſagte Goethe
lachend; thut, was Ihr wollt, ich will Euch gewaͤhren
laſſen.“

Und dann, fuhr ich fort, trage ich in die Geſell¬
ſchaft gewoͤhnlich meine perſoͤnlichen Neigungen und
Abneigungen, und ein gewiſſes Beduͤrfniß zu lieben und
geliebt zu werden. Ich ſuche eine Perſoͤnlichkeit, die
meiner eigenen Natur gemaͤß ſey; dieſer moͤchte ich mich
gerne hingeben und mit den Andern nichts zu thun
haben.

„Dieſe Ihre Natur-Tendenz, erwiederte Goethe, iſt
freylich nicht geſelliger Art; allein was waͤre alle Bil¬
dung, wenn wir unſere natuͤrlichen Richtungen nicht
wollten zu uͤberwinden ſuchen. Es iſt eine große Thor¬
heit, zu verlangen, daß die Menſchen zu uns harmo¬
niren ſollen. Ich habe es nie gethan. Ich habe einen
Menſchen immer nur als ein fuͤr ſich beſtehendes Indi¬
viduum angeſehen, das ich zu erforſchen und das ich in
ſeiner Eigenthuͤmlichkeit kennen zu lernen trachtete, wo¬
von ich aber durchaus keine weitere Sympathie ver¬
langte. Dadurch habe ich es nun dahin gebracht, mit
jedem Menſchen umgehen zu koͤnnen, und dadurch allein
entſteht die Kenntniß mannigfaltiger Charactere, ſo wie
die noͤthige Gewandtheit im Leben. Denn gerade bey

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0171" n="151"/>
men genug, und ich ha&#x0364;tte mich nicht neuen Bekannt¬<lb/>
&#x017F;chaften und anderem Umgange hingeben ko&#x0364;nnen, ohne<lb/>
mich im Inner&#x017F;ten zu zer&#x017F;to&#x0364;ren.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Ihr &#x017F;eyd ein wunderlicher Chri&#x017F;t, &#x017F;agte Goethe<lb/>
lachend; thut, was Ihr wollt, ich will Euch gewa&#x0364;hren<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Und dann, fuhr ich fort, trage ich in die Ge&#x017F;ell¬<lb/>
&#x017F;chaft gewo&#x0364;hnlich meine per&#x017F;o&#x0364;nlichen Neigungen und<lb/>
Abneigungen, und ein gewi&#x017F;&#x017F;es Bedu&#x0364;rfniß zu lieben und<lb/>
geliebt zu werden. Ich &#x017F;uche eine Per&#x017F;o&#x0364;nlichkeit, die<lb/>
meiner eigenen Natur gema&#x0364;ß &#x017F;ey; die&#x017F;er mo&#x0364;chte ich mich<lb/>
gerne hingeben und mit den Andern nichts zu thun<lb/>
haben.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Die&#x017F;e Ihre Natur-Tendenz, erwiederte Goethe, i&#x017F;t<lb/>
freylich nicht ge&#x017F;elliger Art; allein was wa&#x0364;re alle Bil¬<lb/>
dung, wenn wir un&#x017F;ere natu&#x0364;rlichen Richtungen nicht<lb/>
wollten zu u&#x0364;berwinden &#x017F;uchen. Es i&#x017F;t eine große Thor¬<lb/>
heit, zu verlangen, daß die Men&#x017F;chen zu uns harmo¬<lb/>
niren &#x017F;ollen. Ich habe es nie gethan. Ich habe einen<lb/>
Men&#x017F;chen immer nur als ein fu&#x0364;r &#x017F;ich be&#x017F;tehendes Indi¬<lb/>
viduum ange&#x017F;ehen, das ich zu erfor&#x017F;chen und das ich in<lb/>
&#x017F;einer Eigenthu&#x0364;mlichkeit kennen zu lernen trachtete, wo¬<lb/>
von ich aber durchaus keine weitere Sympathie ver¬<lb/>
langte. Dadurch habe ich es nun dahin gebracht, mit<lb/>
jedem Men&#x017F;chen umgehen zu ko&#x0364;nnen, und dadurch allein<lb/>
ent&#x017F;teht die Kenntniß mannigfaltiger Charactere, &#x017F;o wie<lb/>
die no&#x0364;thige Gewandtheit im Leben. Denn gerade bey<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[151/0171] men genug, und ich haͤtte mich nicht neuen Bekannt¬ ſchaften und anderem Umgange hingeben koͤnnen, ohne mich im Innerſten zu zerſtoͤren. „Ihr ſeyd ein wunderlicher Chriſt, ſagte Goethe lachend; thut, was Ihr wollt, ich will Euch gewaͤhren laſſen.“ Und dann, fuhr ich fort, trage ich in die Geſell¬ ſchaft gewoͤhnlich meine perſoͤnlichen Neigungen und Abneigungen, und ein gewiſſes Beduͤrfniß zu lieben und geliebt zu werden. Ich ſuche eine Perſoͤnlichkeit, die meiner eigenen Natur gemaͤß ſey; dieſer moͤchte ich mich gerne hingeben und mit den Andern nichts zu thun haben. „Dieſe Ihre Natur-Tendenz, erwiederte Goethe, iſt freylich nicht geſelliger Art; allein was waͤre alle Bil¬ dung, wenn wir unſere natuͤrlichen Richtungen nicht wollten zu uͤberwinden ſuchen. Es iſt eine große Thor¬ heit, zu verlangen, daß die Menſchen zu uns harmo¬ niren ſollen. Ich habe es nie gethan. Ich habe einen Menſchen immer nur als ein fuͤr ſich beſtehendes Indi¬ viduum angeſehen, das ich zu erforſchen und das ich in ſeiner Eigenthuͤmlichkeit kennen zu lernen trachtete, wo¬ von ich aber durchaus keine weitere Sympathie ver¬ langte. Dadurch habe ich es nun dahin gebracht, mit jedem Menſchen umgehen zu koͤnnen, und dadurch allein entſteht die Kenntniß mannigfaltiger Charactere, ſo wie die noͤthige Gewandtheit im Leben. Denn gerade bey

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/171
Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 151. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/171>, abgerufen am 01.11.2024.