mehr noch als an sich selber, an dem gesammten Wesen seiner vaterländischen Zeit. Mit dem geschärften Sinn eines unbeschäftigten Gemüths sah es, über die eigne Leere hinaus, die schwankenden Bewegungen von Schwäche zu Schuld, sah die Kraft seines Volkes, hier überschraubt, dort versumpfend, einer Katastrophe ent¬ gegenschleichen, die es zerreiben, oder aufrütteln mußte zu einer erneuernden That.
Ich weiß, was Ihr sagen wollt, meine Freunde, oder mindestens was Ihr sagen dürftet: Sei's um das lauernde Siechthum der deutschen Welt, wenngleich du auch darin vielleicht die nachträgliche Erfahrung, oder etwa den Contrast deines rohen Reckenburger Völkchens mit dem zarten Literaturfreunde im Kloster als Zeichen der Zeit deinem Spürsinne zu Gute geschrieben hast. Nun sei's darum. Was aber das Pathos deiner persönlichen Latenz betrifft, Fräulein Ehrenhardine, das war wohl nichts an¬ deres als der unbehagliche Zustand jedweden Jüngferchens, das allmälig aus den Zwanzigern in die Dreißig hin¬ überschreitet. Warum heirathetest du nicht? Du warst nicht schön und lieblich, wie wir dir glauben wollen; aber du warst tüchtig und respectabel und was mehr be¬ deutet, du warst voraussichtlich die Erbin des "grünen
Louise v. Francois, Die letzte Reckenburgerin. II. 8
mehr noch als an ſich ſelber, an dem geſammten Weſen ſeiner vaterländiſchen Zeit. Mit dem geſchärften Sinn eines unbeſchäftigten Gemüths ſah es, über die eigne Leere hinaus, die ſchwankenden Bewegungen von Schwäche zu Schuld, ſah die Kraft ſeines Volkes, hier überſchraubt, dort verſumpfend, einer Kataſtrophe ent¬ gegenſchleichen, die es zerreiben, oder aufrütteln mußte zu einer erneuernden That.
Ich weiß, was Ihr ſagen wollt, meine Freunde, oder mindeſtens was Ihr ſagen dürftet: Sei's um das lauernde Siechthum der deutſchen Welt, wenngleich du auch darin vielleicht die nachträgliche Erfahrung, oder etwa den Contraſt deines rohen Reckenburger Völkchens mit dem zarten Literaturfreunde im Kloſter als Zeichen der Zeit deinem Spürſinne zu Gute geſchrieben haſt. Nun ſei's darum. Was aber das Pathos deiner perſönlichen Latenz betrifft, Fräulein Ehrenhardine, das war wohl nichts an¬ deres als der unbehagliche Zuſtand jedweden Jüngferchens, das allmälig aus den Zwanzigern in die Dreißig hin¬ überſchreitet. Warum heiratheteſt du nicht? Du warſt nicht ſchön und lieblich, wie wir dir glauben wollen; aber du warſt tüchtig und reſpectabel und was mehr be¬ deutet, du warſt vorausſichtlich die Erbin des „grünen
Louiſe v. François, Die letzte Reckenburgerin. II. 8
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mehr noch als an ſich ſelber, an dem geſammten Weſen
ſeiner vaterländiſchen Zeit. Mit dem geſchärften Sinn
eines unbeſchäftigten Gemüths ſah es, über die eigne
Leere hinaus, die ſchwankenden Bewegungen von
Schwäche zu Schuld, ſah die Kraft ſeines Volkes, hier
überſchraubt, dort verſumpfend, einer Kataſtrophe ent¬
gegenſchleichen, die es zerreiben, oder aufrütteln mußte
zu einer erneuernden That.
Ich weiß, was Ihr ſagen wollt, meine Freunde,
oder mindeſtens was Ihr ſagen dürftet: Sei's um das
lauernde Siechthum der deutſchen Welt, wenngleich du
auch darin vielleicht die nachträgliche Erfahrung, oder
etwa den Contraſt deines rohen Reckenburger Völkchens
mit dem zarten Literaturfreunde im Kloſter als Zeichen der
Zeit deinem Spürſinne zu Gute geſchrieben haſt. Nun ſei's
darum. Was aber das Pathos deiner perſönlichen Latenz
betrifft, Fräulein Ehrenhardine, das war wohl nichts an¬
deres als der unbehagliche Zuſtand jedweden Jüngferchens,
das allmälig aus den Zwanzigern in die Dreißig hin¬
überſchreitet. Warum heiratheteſt du nicht? Du warſt
nicht ſchön und lieblich, wie wir dir glauben wollen; aber
du warſt tüchtig und reſpectabel und was mehr be¬
deutet, du warſt vorausſichtlich die Erbin des „grünen
Louiſe v. François, Die letzte Reckenburgerin. II. 8
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François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 2. Berlin, 1871, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin02_1871/117>, abgerufen am 17.06.2024.
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