Gatten frohen Muths zum gewohnten Frühgruß in das Zimmer ihrer mütterlichen Freundin traten, fan¬ den sie dieselbe nicht wie alle Tage für ihren Ge¬ schäftsbetrieb gerüstet. Das Bett war unberührt, sie selber aber saß im Nachtkleide zurückgesunken in dem Lehnstuhle, der schon in ihrem Vaterhause gestanden hatte. Auf dem Schreibtische vor ihr lag die alte Erbbibel aufgeschlagen bei dem achten Capitel des Römerbriefes und die Worte des vierzehnten Verses, "denn welche der Geist Gottes treibt, die werden Gottes Kinder heißen," waren sichtbarlich frisch unterstrichen. Neben der Bibel aber fanden sie ein Manuscript, dessen Aufschrift mit den gewohnten kräftigen Handzügen lautete:
"Mein Geheimniß. Ohne Zeugen zu lesen von Ludwig und Hardine Nordheim am Abend vor der Eröffnung meines letzten Willens."
Erst spät in der Nacht schien das Siegel auf diese Mittheilung gedrückt worden zu sein, denn die Lackstange wie das Reckenburg'sche Wappen zeigten Spuren des kürzlichen Gebrauchs und die einzige Kerze, welche dem scharfen Auge und der schlichten Gewöhnung der Matrone noch immer genügte, war tief herabgebrannt. Noch hatte sie die Flamme sorg¬
Gatten frohen Muths zum gewohnten Frühgruß in das Zimmer ihrer mütterlichen Freundin traten, fan¬ den ſie dieſelbe nicht wie alle Tage für ihren Ge¬ ſchäftsbetrieb gerüſtet. Das Bett war unberührt, ſie ſelber aber ſaß im Nachtkleide zurückgeſunken in dem Lehnſtuhle, der ſchon in ihrem Vaterhauſe geſtanden hatte. Auf dem Schreibtiſche vor ihr lag die alte Erbbibel aufgeſchlagen bei dem achten Capitel des Römerbriefes und die Worte des vierzehnten Verſes, „denn welche der Geiſt Gottes treibt, die werden Gottes Kinder heißen,“ waren ſichtbarlich friſch unterſtrichen. Neben der Bibel aber fanden ſie ein Manuſcript, deſſen Aufſchrift mit den gewohnten kräftigen Handzügen lautete:
„Mein Geheimniß. Ohne Zeugen zu leſen von Ludwig und Hardine Nordheim am Abend vor der Eröffnung meines letzten Willens.“
Erſt ſpät in der Nacht ſchien das Siegel auf dieſe Mittheilung gedrückt worden zu ſein, denn die Lackſtange wie das Reckenburg’ſche Wappen zeigten Spuren des kürzlichen Gebrauchs und die einzige Kerze, welche dem ſcharfen Auge und der ſchlichten Gewöhnung der Matrone noch immer genügte, war tief herabgebrannt. Noch hatte ſie die Flamme ſorg¬
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Gatten frohen Muths zum gewohnten Frühgruß in
das Zimmer ihrer mütterlichen Freundin traten, fan¬
den ſie dieſelbe nicht wie alle Tage für ihren Ge¬
ſchäftsbetrieb gerüſtet. Das Bett war unberührt, ſie
ſelber aber ſaß im Nachtkleide zurückgeſunken in dem
Lehnſtuhle, der ſchon in ihrem Vaterhauſe geſtanden hatte.
Auf dem Schreibtiſche vor ihr lag die alte Erbbibel
aufgeſchlagen bei dem achten Capitel des Römerbriefes
und die Worte des vierzehnten Verſes, „denn welche
der Geiſt Gottes treibt, die werden Gottes Kinder
heißen,“ waren ſichtbarlich friſch unterſtrichen. Neben
der Bibel aber fanden ſie ein Manuſcript, deſſen
Aufſchrift mit den gewohnten kräftigen Handzügen
lautete:
„Mein Geheimniß. Ohne Zeugen zu leſen von
Ludwig und Hardine Nordheim am Abend vor der
Eröffnung meines letzten Willens.“
Erſt ſpät in der Nacht ſchien das Siegel auf
dieſe Mittheilung gedrückt worden zu ſein, denn die
Lackſtange wie das Reckenburg’ſche Wappen zeigten
Spuren des kürzlichen Gebrauchs und die einzige
Kerze, welche dem ſcharfen Auge und der ſchlichten
Gewöhnung der Matrone noch immer genügte, war
tief herabgebrannt. Noch hatte ſie die Flamme ſorg¬
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François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 2. Berlin, 1871, S. 229. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin02_1871/233>, abgerufen am 17.06.2024.
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