Gabelentz, Georg von der: Die ostasiatischen Studien und die Sprachwissenschaft. In: Unsere Zeit, Jg. 1881, Bd. 1, S. 279-291.Unsere Zeit. und Vettern, mit denen man sich nicht schnell genug auf Du und Du stellen kannund deren Geschichten man lauscht wie Märchen aus der eigenen Kinderzeit. Was zu uns aus der chinesischen Culturwelt herübertönt, gemahnt freilich nicht an heimische Klänge. Die Dinge haben sich hüben und drüben so ganz vonein¬ ander unabhängig gestaltet, daß das beiden Theilen Gemeinsame kaum viel mehr sein kann als das allgemein Menschliche. Und doch, wie viel ist dies! Man durchbreche die fremdartige Hülle, man dringe ein in den Sinn jener reichen Poesie, in ihre Leidenschaften, ihre Andacht, ihre Sehnsucht, ihren Humor, so wird man bald vergessen, daß man um fast zwei Drittheile unserer Halbkugel ostwärts gewandert ist. Gar bald lernt unsere Phantasie in die glatten, gelben, schlitzäugigen Chinesengesichter sympathische Züge zeichnen, und was von fern einer hölzernen Puppe glich, entpuppt sich nun als ein warm fühlender Mensch. Oder versuchen wir es, uns in die Geheimnisse der chinesischen Philosophie zu Wenn wir die Größe einer geschichtlichen Persönlichkeit nach der Mächtigkeit, Es ist bekannt, daß kein Reich der Erde besser als das chinesische für Voll¬ Unſere Zeit. und Vettern, mit denen man ſich nicht ſchnell genug auf Du und Du ſtellen kannund deren Geſchichten man lauſcht wie Märchen aus der eigenen Kinderzeit. Was zu uns aus der chineſiſchen Culturwelt herübertönt, gemahnt freilich nicht an heimiſche Klänge. Die Dinge haben ſich hüben und drüben ſo ganz vonein¬ ander unabhängig geſtaltet, daß das beiden Theilen Gemeinſame kaum viel mehr ſein kann als das allgemein Menſchliche. Und doch, wie viel iſt dies! Man durchbreche die fremdartige Hülle, man dringe ein in den Sinn jener reichen Poeſie, in ihre Leidenſchaften, ihre Andacht, ihre Sehnſucht, ihren Humor, ſo wird man bald vergeſſen, daß man um faſt zwei Drittheile unſerer Halbkugel oſtwärts gewandert iſt. Gar bald lernt unſere Phantaſie in die glatten, gelben, ſchlitzäugigen Chineſengeſichter ſympathiſche Züge zeichnen, und was von fern einer hölzernen Puppe glich, entpuppt ſich nun als ein warm fühlender Menſch. Oder verſuchen wir es, uns in die Geheimniſſe der chineſiſchen Philoſophie zu Wenn wir die Größe einer geſchichtlichen Perſönlichkeit nach der Mächtigkeit, Es iſt bekannt, daß kein Reich der Erde beſſer als das chineſiſche für Voll¬ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0011" n="282"/><fw place="top" type="header">Unſere Zeit.<lb/></fw>und Vettern, mit denen man ſich nicht ſchnell genug auf Du und Du ſtellen kann<lb/> und deren Geſchichten man lauſcht wie Märchen aus der eigenen Kinderzeit.<lb/> Was zu uns aus der chineſiſchen Culturwelt herübertönt, gemahnt freilich nicht<lb/> an heimiſche Klänge. Die Dinge haben ſich hüben und drüben ſo ganz vonein¬<lb/> ander unabhängig geſtaltet, daß das beiden Theilen Gemeinſame kaum viel mehr<lb/> ſein kann als das allgemein Menſchliche. Und doch, wie viel iſt dies! Man<lb/> durchbreche die fremdartige Hülle, man dringe ein in den Sinn jener reichen<lb/> Poeſie, in ihre Leidenſchaften, ihre Andacht, ihre Sehnſucht, ihren Humor, ſo<lb/> wird man bald vergeſſen, daß man um faſt zwei Drittheile unſerer Halbkugel<lb/> oſtwärts gewandert iſt. Gar bald lernt unſere Phantaſie in die glatten, gelben,<lb/> ſchlitzäugigen Chineſengeſichter ſympathiſche Züge zeichnen, und was von fern einer<lb/> hölzernen Puppe glich, entpuppt ſich nun als ein warm fühlender Menſch.</p><lb/> <p>Oder verſuchen wir es, uns in die Geheimniſſe der chineſiſchen Philoſophie zu<lb/> verſenken, in ihre tiefſinnige Myſtik, ihre optimiſtiſchen und peſſimiſtiſchen, ihre<lb/> realiſtiſchen und idealiſtiſchen Strömungen, in die Kämpfe ihrer Syſteme, in die<lb/> Geſchichte ihrer ſtetigen Entwickelung — ſchließen wir aus dem Wenigen, was<lb/> uns heute zugänglich iſt, auf die Bedeutung jenes rieſenhaften Bücherſchatzes, von<lb/> welchem uns die einheimiſchen Kataloge melden: ſo werden wir ſtaunend an Stelle<lb/> jenes Bildes geiſtiger Uniformität, welches man uns vorgemalt hat, ein Schauſpiel<lb/> gewaltigen geiſtigen Ringens erblicken und auf der gelben Chineſenſtirn die tiefen<lb/> Furchen des Denkers gewahren. Jener wunderlich trockene Weltweiſe, deſſen Geiſt<lb/> ſeit mehr als zwei Jahrtauſenden ein Drittheil der Menſchheit beherrſcht, war ein<lb/> Chineſe; und des Confucius Lehre ſollte man kennen, ehe man über das Mittel¬<lb/> reich und ſeine Bewohner urtheilt.</p><lb/> <p>Wenn wir die Größe einer geſchichtlichen Perſönlichkeit nach der Mächtigkeit,<lb/> dem räumlichen und zeitlichen Umfange ihres Wirkens und Nachwirkens bemeſſen,<lb/> ſo iſt Confucius unter den großen Männern aller Zeiten einer der größten. Ich<lb/> finde aber, daß er noch vielfach arg verkannt wird. Man will ihn immer und<lb/> immer wieder in die Reihe der Religionsſtifter ſtellen: kein Wunder, daß er dabei<lb/> zu kurz kommt. Er war gewiß nicht irreligiös, wie er etwa dem oberfläch¬<lb/> lichen Betrachter erſcheinen könnte; er glaubte an die Heiligkeit der menſchlichen<lb/> Pflichten und an die Gerechtigkeit der himmliſchen Vorſehung, welche ſtraft<lb/> und belohnt nach Verdienſt. Aber es fehlte ſeinem Geiſte die Anlage und Neigung<lb/> zur Myſtik — er kannte, wenn ich den modernen Ausdruck anwenden darf, nur<lb/> „Gott in der Geſchichte“. Sein Sinn war überwiegend praktiſch, darum hiſtoriſch.<lb/> „Ich ſchaffe nichts Neues“, ſo ſagte er von ſich, „ich überliefere; ich glaube an<lb/> die Alten und liebe ſie.“ Allein er überlieferte nur das Bewährte; er kannte, wie<lb/> nicht leicht ein zweiter, ſein Volk und erkannte, was ihm in alle Ewigkeit from¬<lb/> men würde. Hierin erblicke ich ſeine Größe: es iſt die Größe des Staatsmannes<lb/> und des praktiſchen Philoſophen.</p><lb/> <p>Es iſt bekannt, daß kein Reich der Erde beſſer als das chineſiſche für Voll¬<lb/> ſtändigkeit und Zuverläſſigkeit ſeiner Geſchichtſchreibung geſorgt hat. Seit dem<lb/> früheſten Alterthum beſoldeten die Regierungen gelehrte Staatsmänner, deren<lb/> Aufgabe es war und noch iſt, jedes denkwürdigere Ereigniß ſelbſtändig zu ver¬<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [282/0011]
Unſere Zeit.
und Vettern, mit denen man ſich nicht ſchnell genug auf Du und Du ſtellen kann
und deren Geſchichten man lauſcht wie Märchen aus der eigenen Kinderzeit.
Was zu uns aus der chineſiſchen Culturwelt herübertönt, gemahnt freilich nicht
an heimiſche Klänge. Die Dinge haben ſich hüben und drüben ſo ganz vonein¬
ander unabhängig geſtaltet, daß das beiden Theilen Gemeinſame kaum viel mehr
ſein kann als das allgemein Menſchliche. Und doch, wie viel iſt dies! Man
durchbreche die fremdartige Hülle, man dringe ein in den Sinn jener reichen
Poeſie, in ihre Leidenſchaften, ihre Andacht, ihre Sehnſucht, ihren Humor, ſo
wird man bald vergeſſen, daß man um faſt zwei Drittheile unſerer Halbkugel
oſtwärts gewandert iſt. Gar bald lernt unſere Phantaſie in die glatten, gelben,
ſchlitzäugigen Chineſengeſichter ſympathiſche Züge zeichnen, und was von fern einer
hölzernen Puppe glich, entpuppt ſich nun als ein warm fühlender Menſch.
Oder verſuchen wir es, uns in die Geheimniſſe der chineſiſchen Philoſophie zu
verſenken, in ihre tiefſinnige Myſtik, ihre optimiſtiſchen und peſſimiſtiſchen, ihre
realiſtiſchen und idealiſtiſchen Strömungen, in die Kämpfe ihrer Syſteme, in die
Geſchichte ihrer ſtetigen Entwickelung — ſchließen wir aus dem Wenigen, was
uns heute zugänglich iſt, auf die Bedeutung jenes rieſenhaften Bücherſchatzes, von
welchem uns die einheimiſchen Kataloge melden: ſo werden wir ſtaunend an Stelle
jenes Bildes geiſtiger Uniformität, welches man uns vorgemalt hat, ein Schauſpiel
gewaltigen geiſtigen Ringens erblicken und auf der gelben Chineſenſtirn die tiefen
Furchen des Denkers gewahren. Jener wunderlich trockene Weltweiſe, deſſen Geiſt
ſeit mehr als zwei Jahrtauſenden ein Drittheil der Menſchheit beherrſcht, war ein
Chineſe; und des Confucius Lehre ſollte man kennen, ehe man über das Mittel¬
reich und ſeine Bewohner urtheilt.
Wenn wir die Größe einer geſchichtlichen Perſönlichkeit nach der Mächtigkeit,
dem räumlichen und zeitlichen Umfange ihres Wirkens und Nachwirkens bemeſſen,
ſo iſt Confucius unter den großen Männern aller Zeiten einer der größten. Ich
finde aber, daß er noch vielfach arg verkannt wird. Man will ihn immer und
immer wieder in die Reihe der Religionsſtifter ſtellen: kein Wunder, daß er dabei
zu kurz kommt. Er war gewiß nicht irreligiös, wie er etwa dem oberfläch¬
lichen Betrachter erſcheinen könnte; er glaubte an die Heiligkeit der menſchlichen
Pflichten und an die Gerechtigkeit der himmliſchen Vorſehung, welche ſtraft
und belohnt nach Verdienſt. Aber es fehlte ſeinem Geiſte die Anlage und Neigung
zur Myſtik — er kannte, wenn ich den modernen Ausdruck anwenden darf, nur
„Gott in der Geſchichte“. Sein Sinn war überwiegend praktiſch, darum hiſtoriſch.
„Ich ſchaffe nichts Neues“, ſo ſagte er von ſich, „ich überliefere; ich glaube an
die Alten und liebe ſie.“ Allein er überlieferte nur das Bewährte; er kannte, wie
nicht leicht ein zweiter, ſein Volk und erkannte, was ihm in alle Ewigkeit from¬
men würde. Hierin erblicke ich ſeine Größe: es iſt die Größe des Staatsmannes
und des praktiſchen Philoſophen.
Es iſt bekannt, daß kein Reich der Erde beſſer als das chineſiſche für Voll¬
ſtändigkeit und Zuverläſſigkeit ſeiner Geſchichtſchreibung geſorgt hat. Seit dem
früheſten Alterthum beſoldeten die Regierungen gelehrte Staatsmänner, deren
Aufgabe es war und noch iſt, jedes denkwürdigere Ereigniß ſelbſtändig zu ver¬
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