Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774.

Bild:
<< vorherige Seite


Stern der dämmernden Nacht, schön funkelst
du in Westen. Hebst dein strahlend Haupt aus
deiner Wolke Wandelst stattlich deinen Hügel
hin. Wornach blikst du auf die Haide? Die
stürmende Winde haben sich gelegt. Von ferne
kommt des Giosbachs Murmeln. Rauschende Wel-
len spielen am Felsen ferne. Das Gesumme der
Abendfliegen schwärmet über's Feld. Wornach
siehst du, schönes Licht? Aber du lächelst und gehst,
freudig umgeben dich die Wellen und baden dein
liebliches Haar. Lebe wohl ruhiger Strahl. Er-
scheine du herrliches Licht von Ossians Seele.

Und es erscheint in seiner Kraft. Jch sehe
meine geschiedene Freunde, sie sammeln sich auf
Lora, wie in den Tagen, die vorüber sind. --
Fingal kommt wie eine feuchte Nebelsäule; um
ihn sind seine Helden. Und sieh die Barden des
Gesangs! grauer Ullin! statlicher Ryno! Alpin
lieblicher Sänger! Und du sanft klagende Mino-
na! -- Wie verändert seyd ihr meine Freunde
seit den festlichen Tagen auf Selma! da wir buhl-
ten um die Ehre des Gesangs, wie Frühlingslüf-

te
N


Stern der daͤmmernden Nacht, ſchoͤn funkelſt
du in Weſten. Hebſt dein ſtrahlend Haupt aus
deiner Wolke Wandelſt ſtattlich deinen Huͤgel
hin. Wornach blikſt du auf die Haide? Die
ſtuͤrmende Winde haben ſich gelegt. Von ferne
kommt des Giosbachs Murmeln. Rauſchende Wel-
len ſpielen am Felſen ferne. Das Geſumme der
Abendfliegen ſchwaͤrmet uͤber’s Feld. Wornach
ſiehſt du, ſchoͤnes Licht? Aber du laͤchelſt und gehſt,
freudig umgeben dich die Wellen und baden dein
liebliches Haar. Lebe wohl ruhiger Strahl. Er-
ſcheine du herrliches Licht von Oſſians Seele.

Und es erſcheint in ſeiner Kraft. Jch ſehe
meine geſchiedene Freunde, ſie ſammeln ſich auf
Lora, wie in den Tagen, die voruͤber ſind. —
Fingal kommt wie eine feuchte Nebelſaͤule; um
ihn ſind ſeine Helden. Und ſieh die Barden des
Geſangs! grauer Ullin! ſtatlicher Ryno! Alpin
lieblicher Saͤnger! Und du ſanft klagende Mino-
na! — Wie veraͤndert ſeyd ihr meine Freunde
ſeit den feſtlichen Tagen auf Selma! da wir buhl-
ten um die Ehre des Geſangs, wie Fruͤhlingsluͤf-

te
N
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="diaryEntry">
        <div>
          <pb facs="#f0081" n="193"/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p>Stern der da&#x0364;mmernden Nacht, &#x017F;cho&#x0364;n funkel&#x017F;t<lb/>
du in We&#x017F;ten. Heb&#x017F;t dein &#x017F;trahlend Haupt aus<lb/>
deiner Wolke Wandel&#x017F;t &#x017F;tattlich deinen Hu&#x0364;gel<lb/>
hin. Wornach blik&#x017F;t du auf die Haide? Die<lb/>
&#x017F;tu&#x0364;rmende Winde haben &#x017F;ich gelegt. Von ferne<lb/>
kommt des Giosbachs Murmeln. Rau&#x017F;chende Wel-<lb/>
len &#x017F;pielen am Fel&#x017F;en ferne. Das Ge&#x017F;umme der<lb/>
Abendfliegen &#x017F;chwa&#x0364;rmet u&#x0364;ber&#x2019;s Feld. Wornach<lb/>
&#x017F;ieh&#x017F;t du, &#x017F;cho&#x0364;nes Licht? Aber du la&#x0364;chel&#x017F;t und geh&#x017F;t,<lb/>
freudig umgeben dich die Wellen und baden dein<lb/>
liebliches Haar. Lebe wohl ruhiger Strahl. Er-<lb/>
&#x017F;cheine du herrliches Licht von O&#x017F;&#x017F;ians Seele.</p><lb/>
          <p>Und es er&#x017F;cheint in &#x017F;einer Kraft. Jch &#x017F;ehe<lb/>
meine ge&#x017F;chiedene Freunde, &#x017F;ie &#x017F;ammeln &#x017F;ich auf<lb/>
Lora, wie in den Tagen, die voru&#x0364;ber &#x017F;ind. &#x2014;<lb/>
Fingal kommt wie eine feuchte Nebel&#x017F;a&#x0364;ule; um<lb/>
ihn &#x017F;ind &#x017F;eine Helden. Und &#x017F;ieh die Barden des<lb/>
Ge&#x017F;angs! grauer Ullin! &#x017F;tatlicher Ryno! Alpin<lb/>
lieblicher Sa&#x0364;nger! Und du &#x017F;anft klagende Mino-<lb/>
na! &#x2014; Wie vera&#x0364;ndert &#x017F;eyd ihr meine Freunde<lb/>
&#x017F;eit den fe&#x017F;tlichen Tagen auf Selma! da wir buhl-<lb/>
ten um die Ehre des Ge&#x017F;angs, wie Fru&#x0364;hlingslu&#x0364;f-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">N</fw><fw place="bottom" type="catch">te</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[193/0081] Stern der daͤmmernden Nacht, ſchoͤn funkelſt du in Weſten. Hebſt dein ſtrahlend Haupt aus deiner Wolke Wandelſt ſtattlich deinen Huͤgel hin. Wornach blikſt du auf die Haide? Die ſtuͤrmende Winde haben ſich gelegt. Von ferne kommt des Giosbachs Murmeln. Rauſchende Wel- len ſpielen am Felſen ferne. Das Geſumme der Abendfliegen ſchwaͤrmet uͤber’s Feld. Wornach ſiehſt du, ſchoͤnes Licht? Aber du laͤchelſt und gehſt, freudig umgeben dich die Wellen und baden dein liebliches Haar. Lebe wohl ruhiger Strahl. Er- ſcheine du herrliches Licht von Oſſians Seele. Und es erſcheint in ſeiner Kraft. Jch ſehe meine geſchiedene Freunde, ſie ſammeln ſich auf Lora, wie in den Tagen, die voruͤber ſind. — Fingal kommt wie eine feuchte Nebelſaͤule; um ihn ſind ſeine Helden. Und ſieh die Barden des Geſangs! grauer Ullin! ſtatlicher Ryno! Alpin lieblicher Saͤnger! Und du ſanft klagende Mino- na! — Wie veraͤndert ſeyd ihr meine Freunde ſeit den feſtlichen Tagen auf Selma! da wir buhl- ten um die Ehre des Geſangs, wie Fruͤhlingsluͤf- te N

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/81
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 193. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/81>, abgerufen am 14.06.2024.