Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 1. Berlin, 1819.

Bild:
<< vorherige Seite

so schön ausgedrückt, daß vor der Reinheit alle List des Bösen zu Schanden wird, und wie Gott darum die abgehauenen Glieder aufs neue wachsen läßt, so verleiht er dem Frommen, der unter einem Galgen sitzt, aber unter einem Kreuz zu sitzen glaubt, und zu ihm betet, durch einen reinen Thau die Augen wieder. Jn dem Märchen von der Nelke speisen Gottes Thiere, wie jenen Propheten, die unschuldig eingekerkerte Königin, die darum auch, als sie befreit worden, weil sie himmlische genossen, keine irdische Nahrung mehr anrührt und stirbt. Der Knabe, der im Vertrauen auf Gottes Wort immer fort geht, um das Himmelreich zu finden, deutet an, daß der feste Glaube auch bei einem äußern Mißverständniß, zur Seeligkeit führe. Einige märchenhaft ausgebildete Legenden sind am Ende zugefügt.

Der Zusammenhang einer besondern Reihe mit der deutschen Heldensage ist in den Anmerkungen bis ins Einzelne nachgewiesen und hier nur im Allgemeinen etwas darüber zu erinnern. Die Sage pflegt in der Ueberlieferung vorzugsweise entweder ihren geschichtlichen Jnhalt oder die innere Gesinnung der darin handelnden Menschen fest zu halten; jenachdem sie das eine für das wichtigste ansieht, vernachlässigt sie das andere. Jn dem vollkommenen und blühenden Zustand einer epischen Zeit ist freilich beides gleich mächtig und bedingt sich gegenseitig; späterhin aber herrscht eine Richtung vor. Gewöhnlich pflegt die sogenannte Kunstpoesie die Fabel zurückzusetzen, um die Gesinnung auszubilden, während die Volksdichtung jene vor allem zu erhalten sucht. Jn unsern Märchen ist zwar die Uebereinstimmung in der

so schoͤn ausgedruͤckt, daß vor der Reinheit alle List des Boͤsen zu Schanden wird, und wie Gott darum die abgehauenen Glieder aufs neue wachsen laͤßt, so verleiht er dem Frommen, der unter einem Galgen sitzt, aber unter einem Kreuz zu sitzen glaubt, und zu ihm betet, durch einen reinen Thau die Augen wieder. Jn dem Maͤrchen von der Nelke speisen Gottes Thiere, wie jenen Propheten, die unschuldig eingekerkerte Koͤnigin, die darum auch, als sie befreit worden, weil sie himmlische genossen, keine irdische Nahrung mehr anruͤhrt und stirbt. Der Knabe, der im Vertrauen auf Gottes Wort immer fort geht, um das Himmelreich zu finden, deutet an, daß der feste Glaube auch bei einem aͤußern Mißverstaͤndniß, zur Seeligkeit fuͤhre. Einige maͤrchenhaft ausgebildete Legenden sind am Ende zugefuͤgt.

Der Zusammenhang einer besondern Reihe mit der deutschen Heldensage ist in den Anmerkungen bis ins Einzelne nachgewiesen und hier nur im Allgemeinen etwas daruͤber zu erinnern. Die Sage pflegt in der Ueberlieferung vorzugsweise entweder ihren geschichtlichen Jnhalt oder die innere Gesinnung der darin handelnden Menschen fest zu halten; jenachdem sie das eine fuͤr das wichtigste ansieht, vernachlaͤssigt sie das andere. Jn dem vollkommenen und bluͤhenden Zustand einer epischen Zeit ist freilich beides gleich maͤchtig und bedingt sich gegenseitig; spaͤterhin aber herrscht eine Richtung vor. Gewoͤhnlich pflegt die sogenannte Kunstpoesie die Fabel zuruͤckzusetzen, um die Gesinnung auszubilden, waͤhrend die Volksdichtung jene vor allem zu erhalten sucht. Jn unsern Maͤrchen ist zwar die Uebereinstimmung in der

<TEI>
  <text>
    <front>
      <div type="preface">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0055" n="XLVII"/>
so scho&#x0364;n ausgedru&#x0364;ckt, daß vor der Reinheit alle List des Bo&#x0364;sen zu Schanden wird, und wie Gott darum die abgehauenen Glieder aufs neue wachsen la&#x0364;ßt, so verleiht er dem Frommen, der unter einem Galgen sitzt, aber unter einem Kreuz zu sitzen glaubt, und zu ihm betet, durch einen reinen Thau die Augen wieder. Jn dem Ma&#x0364;rchen von der Nelke speisen Gottes Thiere, wie jenen Propheten, die unschuldig eingekerkerte Ko&#x0364;nigin, die darum auch, als sie befreit worden, weil sie himmlische genossen, keine irdische Nahrung mehr anru&#x0364;hrt und stirbt. Der Knabe, der im Vertrauen auf Gottes Wort immer fort geht, um das Himmelreich zu finden, deutet an, daß der feste Glaube auch bei einem a&#x0364;ußern Mißversta&#x0364;ndniß, zur Seeligkeit fu&#x0364;hre. Einige ma&#x0364;rchenhaft ausgebildete Legenden sind am Ende zugefu&#x0364;gt.</p><lb/>
          <p>Der Zusammenhang einer besondern Reihe mit der <hi rendition="#g">deutschen Heldensage</hi> ist in den Anmerkungen bis ins Einzelne nachgewiesen und hier nur im Allgemeinen etwas daru&#x0364;ber zu erinnern. Die Sage pflegt in der Ueberlieferung vorzugsweise entweder ihren geschichtlichen Jnhalt oder die innere Gesinnung der darin handelnden Menschen fest zu halten; jenachdem sie das eine fu&#x0364;r das wichtigste ansieht, vernachla&#x0364;ssigt sie das andere. Jn dem vollkommenen und blu&#x0364;henden Zustand einer epischen Zeit ist freilich beides gleich ma&#x0364;chtig und bedingt sich gegenseitig; spa&#x0364;terhin aber herrscht eine Richtung vor. Gewo&#x0364;hnlich pflegt die sogenannte Kunstpoesie die Fabel zuru&#x0364;ckzusetzen, um die Gesinnung auszubilden, wa&#x0364;hrend die Volksdichtung jene vor allem zu erhalten sucht. Jn unsern Ma&#x0364;rchen ist zwar die Uebereinstimmung in der
</p>
        </div>
      </div>
    </front>
  </text>
</TEI>
[XLVII/0055] so schoͤn ausgedruͤckt, daß vor der Reinheit alle List des Boͤsen zu Schanden wird, und wie Gott darum die abgehauenen Glieder aufs neue wachsen laͤßt, so verleiht er dem Frommen, der unter einem Galgen sitzt, aber unter einem Kreuz zu sitzen glaubt, und zu ihm betet, durch einen reinen Thau die Augen wieder. Jn dem Maͤrchen von der Nelke speisen Gottes Thiere, wie jenen Propheten, die unschuldig eingekerkerte Koͤnigin, die darum auch, als sie befreit worden, weil sie himmlische genossen, keine irdische Nahrung mehr anruͤhrt und stirbt. Der Knabe, der im Vertrauen auf Gottes Wort immer fort geht, um das Himmelreich zu finden, deutet an, daß der feste Glaube auch bei einem aͤußern Mißverstaͤndniß, zur Seeligkeit fuͤhre. Einige maͤrchenhaft ausgebildete Legenden sind am Ende zugefuͤgt. Der Zusammenhang einer besondern Reihe mit der deutschen Heldensage ist in den Anmerkungen bis ins Einzelne nachgewiesen und hier nur im Allgemeinen etwas daruͤber zu erinnern. Die Sage pflegt in der Ueberlieferung vorzugsweise entweder ihren geschichtlichen Jnhalt oder die innere Gesinnung der darin handelnden Menschen fest zu halten; jenachdem sie das eine fuͤr das wichtigste ansieht, vernachlaͤssigt sie das andere. Jn dem vollkommenen und bluͤhenden Zustand einer epischen Zeit ist freilich beides gleich maͤchtig und bedingt sich gegenseitig; spaͤterhin aber herrscht eine Richtung vor. Gewoͤhnlich pflegt die sogenannte Kunstpoesie die Fabel zuruͤckzusetzen, um die Gesinnung auszubilden, waͤhrend die Volksdichtung jene vor allem zu erhalten sucht. Jn unsern Maͤrchen ist zwar die Uebereinstimmung in der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2015-05-11T18:40:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Bayerische Staatsbibliothek: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-05-11T18:40:00Z)
Sandra Balck, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2015-06-15T16:12:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

Zusätzlich zu dieser historischen Ausgabe gibt es in der 2004 von Prof. Hans-Jörg Uther herausgegebenen und im Olms-Verlag erschienenen Ausgabe (ISBN 978-3-487-12545-9) in Bd. 1, S. 7–27 ein aussagekräftiges Vorwort.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1819
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1819/55
Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 1. Berlin, 1819, S. XLVII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1819/55>, abgerufen am 02.06.2024.