Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 1. Berlin, 1819.

Bild:
<< vorherige Seite

Reise zurück rief das Mädchen und sprach: "gieb mir die Himmelsschlüssel wieder." Jndem es den Bund hinreichte, sah es die Jungfrau an und sprach: "hast du auch nicht die dreizehnte Thüre geöffnet?" -- "Nein," antwortete es. Da legte sie ihre Hand auf sein Herz, fühlte wie es klopfte und klopfte, und sah, daß es ihr Gebot übertreten und die Thüre aufgeschlossen hatte: "Da sprach sie noch einmal: hast du es gewiß nicht gethan?" Nein," sagte das Mädchen zum zweitenmal. Da erblickte sie den goldnen Finger, womit es das himmlische Feuer angerührt hatte, und wußte nun gewiß, daß es schuldig war und sprach zum drittenmal: "hast du es nicht gethan" "Nein" sagte das Mädchen zum drittenmal. Da sprach die Jungfrau Maria: "du hast mir nicht gehorcht und hast gelogen, du bist nicht mehr würdig im Himmel zu seyn."

Da versank das Mädchen in einen tiefen tiefen Schlaf, und als es erwachte, lag es unten auf der Erde bei einem hohen Baum, der rings mit dichten Gebüschen umzäunt war, durch welche es nicht dringen konnte. Der Mund war ihm auch verschlossen und es konnte kein Wort reden. Jn den Baum war eine Höhle, darin schlief es in der Nacht und darin saß es bei Regen und Gewitter; Wurzeln und Waldbeeren waren seine Nahrung, die suchte es sich, so weit es kommen konnte. Jm Herbst sammelte es die Blätter des Baumes und trug sie in die Höhle, und wenn es dann schneite und fror, barg es sich darin. Auch verdarben seine Kleider und fielen ihm ab, da mußte es sich in die Blätter einhüllen. Sobald dann die Sonne wieder warm schien, ging es

Reise zuruͤck rief das Maͤdchen und sprach: „gieb mir die Himmelsschluͤssel wieder.“ Jndem es den Bund hinreichte, sah es die Jungfrau an und sprach: „hast du auch nicht die dreizehnte Thuͤre geoͤffnet?“ — „Nein,“ antwortete es. Da legte sie ihre Hand auf sein Herz, fuͤhlte wie es klopfte und klopfte, und sah, daß es ihr Gebot uͤbertreten und die Thuͤre aufgeschlossen hatte: „Da sprach sie noch einmal: hast du es gewiß nicht gethan?“ Nein,“ sagte das Maͤdchen zum zweitenmal. Da erblickte sie den goldnen Finger, womit es das himmlische Feuer angeruͤhrt hatte, und wußte nun gewiß, daß es schuldig war und sprach zum drittenmal: „hast du es nicht gethan“ „Nein“ sagte das Maͤdchen zum drittenmal. Da sprach die Jungfrau Maria: „du hast mir nicht gehorcht und hast gelogen, du bist nicht mehr wuͤrdig im Himmel zu seyn.“

Da versank das Maͤdchen in einen tiefen tiefen Schlaf, und als es erwachte, lag es unten auf der Erde bei einem hohen Baum, der rings mit dichten Gebuͤschen umzaͤunt war, durch welche es nicht dringen konnte. Der Mund war ihm auch verschlossen und es konnte kein Wort reden. Jn den Baum war eine Hoͤhle, darin schlief es in der Nacht und darin saß es bei Regen und Gewitter; Wurzeln und Waldbeeren waren seine Nahrung, die suchte es sich, so weit es kommen konnte. Jm Herbst sammelte es die Blaͤtter des Baumes und trug sie in die Hoͤhle, und wenn es dann schneite und fror, barg es sich darin. Auch verdarben seine Kleider und fielen ihm ab, da mußte es sich in die Blaͤtter einhuͤllen. Sobald dann die Sonne wieder warm schien, ging es

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0074" n="10"/>
Reise zuru&#x0364;ck rief das Ma&#x0364;dchen und sprach: &#x201E;gieb mir die Himmelsschlu&#x0364;ssel wieder.&#x201C; Jndem es den Bund hinreichte, sah es die Jungfrau an und sprach: &#x201E;hast du auch nicht die dreizehnte Thu&#x0364;re geo&#x0364;ffnet?&#x201C; &#x2014; &#x201E;Nein,&#x201C; antwortete es. Da legte sie ihre Hand auf sein Herz, fu&#x0364;hlte wie es klopfte und klopfte, und sah, daß es ihr Gebot u&#x0364;bertreten und die Thu&#x0364;re aufgeschlossen hatte: &#x201E;Da sprach sie noch einmal: hast du es gewiß nicht gethan?&#x201C; Nein,&#x201C; sagte das Ma&#x0364;dchen zum zweitenmal. Da erblickte sie den goldnen Finger, womit es das himmlische Feuer angeru&#x0364;hrt hatte, und wußte nun gewiß, daß es schuldig war und sprach zum drittenmal: &#x201E;hast du es nicht gethan&#x201C; &#x201E;Nein&#x201C; sagte das Ma&#x0364;dchen zum drittenmal. Da sprach die Jungfrau Maria: &#x201E;du hast mir nicht gehorcht und hast gelogen, du bist nicht mehr wu&#x0364;rdig im Himmel zu seyn.&#x201C;</p><lb/>
        <p>Da versank das Ma&#x0364;dchen in einen tiefen tiefen Schlaf, und als es erwachte, lag es unten auf der Erde bei einem hohen Baum, der rings mit dichten Gebu&#x0364;schen umza&#x0364;unt war, durch welche es nicht dringen konnte. Der Mund war ihm auch verschlossen und es konnte kein Wort reden. Jn den Baum war eine Ho&#x0364;hle, darin schlief es in der Nacht und darin saß es bei Regen und Gewitter; Wurzeln und Waldbeeren waren seine Nahrung, die suchte es sich, so weit es kommen konnte. Jm Herbst sammelte es die Bla&#x0364;tter des Baumes und trug sie in die Ho&#x0364;hle, und wenn es dann schneite und fror, barg es sich darin. Auch verdarben seine Kleider und fielen ihm ab, da mußte es sich in die Bla&#x0364;tter einhu&#x0364;llen. Sobald dann die Sonne wieder warm schien, ging es
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[10/0074] Reise zuruͤck rief das Maͤdchen und sprach: „gieb mir die Himmelsschluͤssel wieder.“ Jndem es den Bund hinreichte, sah es die Jungfrau an und sprach: „hast du auch nicht die dreizehnte Thuͤre geoͤffnet?“ — „Nein,“ antwortete es. Da legte sie ihre Hand auf sein Herz, fuͤhlte wie es klopfte und klopfte, und sah, daß es ihr Gebot uͤbertreten und die Thuͤre aufgeschlossen hatte: „Da sprach sie noch einmal: hast du es gewiß nicht gethan?“ Nein,“ sagte das Maͤdchen zum zweitenmal. Da erblickte sie den goldnen Finger, womit es das himmlische Feuer angeruͤhrt hatte, und wußte nun gewiß, daß es schuldig war und sprach zum drittenmal: „hast du es nicht gethan“ „Nein“ sagte das Maͤdchen zum drittenmal. Da sprach die Jungfrau Maria: „du hast mir nicht gehorcht und hast gelogen, du bist nicht mehr wuͤrdig im Himmel zu seyn.“ Da versank das Maͤdchen in einen tiefen tiefen Schlaf, und als es erwachte, lag es unten auf der Erde bei einem hohen Baum, der rings mit dichten Gebuͤschen umzaͤunt war, durch welche es nicht dringen konnte. Der Mund war ihm auch verschlossen und es konnte kein Wort reden. Jn den Baum war eine Hoͤhle, darin schlief es in der Nacht und darin saß es bei Regen und Gewitter; Wurzeln und Waldbeeren waren seine Nahrung, die suchte es sich, so weit es kommen konnte. Jm Herbst sammelte es die Blaͤtter des Baumes und trug sie in die Hoͤhle, und wenn es dann schneite und fror, barg es sich darin. Auch verdarben seine Kleider und fielen ihm ab, da mußte es sich in die Blaͤtter einhuͤllen. Sobald dann die Sonne wieder warm schien, ging es

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2015-05-11T18:40:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Bayerische Staatsbibliothek: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-05-11T18:40:00Z)
Sandra Balck, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2015-06-15T16:12:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

Zusätzlich zu dieser historischen Ausgabe gibt es in der 2004 von Prof. Hans-Jörg Uther herausgegebenen und im Olms-Verlag erschienenen Ausgabe (ISBN 978-3-487-12545-9) in Bd. 1, S. 7–27 ein aussagekräftiges Vorwort.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1819
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1819/74
Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 1. Berlin, 1819, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1819/74>, abgerufen am 02.06.2024.