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Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.

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vom Dualismus. Welchen meine ich? Jch meine den Dualismus unserer Bildung und unseres Lebens; den Zwiespalt dessen, was wir sind, und dessen, was wir wissen; die Entgegensetzung unseres künstlichen, höchst gesteigerten Jdealismus und der Materie, deren Wegleugnung sie zum Trotz und zur Rache entflammen wird. Wissen und Leben ist nicht ausgeglichen. Selbst die Moral und die Religion verlieren ihre unmittelbare Berührung mit dem, was wir eigentlich sind, mit der Art, wie wir hienieden gehen und stehen. Denn wo ist wohl jene Pforte, wo all unser Wissen hinausströmen könnte, im freien Zuge, über das Feld des Lebens und der Geschichte, wie es vom Augenblick bepflügt und besäet wird? Unsre Erziehung und unsre Wissenschaft gleicht einem chinesischen Gebäude, wo sich ein Stockwerk über das andre erhebt, wo unten die Bauern, etwas höher die Handwerker, im dritten Stock die Kaufleute, im vierten die Gelehrten, im fünften die Staatsmänner, im sechsten die Könige wohnen; statt daß sie ein freier luftiger Tempel seyn sollte, zugänglich von allen Seiten, und Jedem offen, der auf dem Altare opfern will. Jch lerne Herrliches und Treffliches aus dem Alterthume, aber ich brauch' es nicht auf der Stufe, welche ich in der bürgerlichen Gesellschaft einmal einnehmen werde. Jch höre, daß der Tod des Cato eine große That gewesen seyn soll, und erfahre bald, daß man ihm bei uns das ehrliche Begräbniß würde versagt haben. Was der Stolz meines Herzens ist, das demüthigt die Religion.

vom Dualismus. Welchen meine ich? Jch meine den Dualismus unserer Bildung und unseres Lebens; den Zwiespalt dessen, was wir sind, und dessen, was wir wissen; die Entgegensetzung unseres künstlichen, höchst gesteigerten Jdealismus und der Materie, deren Wegleugnung sie zum Trotz und zur Rache entflammen wird. Wissen und Leben ist nicht ausgeglichen. Selbst die Moral und die Religion verlieren ihre unmittelbare Berührung mit dem, was wir eigentlich sind, mit der Art, wie wir hienieden gehen und stehen. Denn wo ist wohl jene Pforte, wo all unser Wissen hinausströmen könnte, im freien Zuge, über das Feld des Lebens und der Geschichte, wie es vom Augenblick bepflügt und besäet wird? Unsre Erziehung und unsre Wissenschaft gleicht einem chinesischen Gebäude, wo sich ein Stockwerk über das andre erhebt, wo unten die Bauern, etwas höher die Handwerker, im dritten Stock die Kaufleute, im vierten die Gelehrten, im fünften die Staatsmänner, im sechsten die Könige wohnen; statt daß sie ein freier luftiger Tempel seyn sollte, zugänglich von allen Seiten, und Jedem offen, der auf dem Altare opfern will. Jch lerne Herrliches und Treffliches aus dem Alterthume, aber ich brauch’ es nicht auf der Stufe, welche ich in der bürgerlichen Gesellschaft einmal einnehmen werde. Jch höre, daß der Tod des Cato eine große That gewesen seyn soll, und erfahre bald, daß man ihm bei uns das ehrliche Begräbniß würde versagt haben. Was der Stolz meines Herzens ist, das demüthigt die Religion.

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vom Dualismus. Welchen meine ich? Jch meine den Dualismus unserer Bildung und unseres Lebens; den Zwiespalt dessen, was wir sind, und dessen, was wir wissen; die Entgegensetzung unseres künstlichen, höchst gesteigerten Jdealismus und der Materie, deren Wegleugnung sie zum Trotz und zur Rache entflammen wird. Wissen und Leben ist nicht ausgeglichen. Selbst die Moral und die Religion verlieren ihre unmittelbare Berührung mit dem, was wir eigentlich sind, mit der Art, wie wir hienieden gehen und stehen. Denn wo ist wohl jene Pforte, wo all unser Wissen hinausströmen könnte, im freien Zuge, über das Feld des Lebens und der Geschichte, wie es vom Augenblick bepflügt und besäet wird? Unsre Erziehung und unsre Wissenschaft gleicht einem chinesischen Gebäude, wo sich ein Stockwerk über das andre erhebt, wo unten die Bauern, etwas höher die Handwerker, im dritten Stock die Kaufleute, im vierten die Gelehrten, im fünften die Staatsmänner, im sechsten die Könige wohnen; statt daß sie ein freier luftiger Tempel seyn sollte, zugänglich von allen Seiten, und Jedem offen, der auf dem Altare opfern will. Jch lerne Herrliches und Treffliches aus dem Alterthume, aber ich brauch&#x2019; es nicht auf der Stufe, welche ich in der bürgerlichen Gesellschaft einmal einnehmen werde. Jch höre, daß der Tod des Cato eine große That gewesen seyn soll, und erfahre bald, daß man ihm bei uns das ehrliche Begräbniß würde versagt haben. Was der Stolz meines Herzens ist, das demüthigt die Religion.
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[70/0098] vom Dualismus. Welchen meine ich? Jch meine den Dualismus unserer Bildung und unseres Lebens; den Zwiespalt dessen, was wir sind, und dessen, was wir wissen; die Entgegensetzung unseres künstlichen, höchst gesteigerten Jdealismus und der Materie, deren Wegleugnung sie zum Trotz und zur Rache entflammen wird. Wissen und Leben ist nicht ausgeglichen. Selbst die Moral und die Religion verlieren ihre unmittelbare Berührung mit dem, was wir eigentlich sind, mit der Art, wie wir hienieden gehen und stehen. Denn wo ist wohl jene Pforte, wo all unser Wissen hinausströmen könnte, im freien Zuge, über das Feld des Lebens und der Geschichte, wie es vom Augenblick bepflügt und besäet wird? Unsre Erziehung und unsre Wissenschaft gleicht einem chinesischen Gebäude, wo sich ein Stockwerk über das andre erhebt, wo unten die Bauern, etwas höher die Handwerker, im dritten Stock die Kaufleute, im vierten die Gelehrten, im fünften die Staatsmänner, im sechsten die Könige wohnen; statt daß sie ein freier luftiger Tempel seyn sollte, zugänglich von allen Seiten, und Jedem offen, der auf dem Altare opfern will. Jch lerne Herrliches und Treffliches aus dem Alterthume, aber ich brauch’ es nicht auf der Stufe, welche ich in der bürgerlichen Gesellschaft einmal einnehmen werde. Jch höre, daß der Tod des Cato eine große That gewesen seyn soll, und erfahre bald, daß man ihm bei uns das ehrliche Begräbniß würde versagt haben. Was der Stolz meines Herzens ist, das demüthigt die Religion.

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Gutzkow Editionsprojekt: Bereitstellung der Texttranskription. (2013-09-13T12:39:16Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
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Zitationshilfe: Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842/98>, abgerufen am 13.05.2024.