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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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I. Empirie und Philosophie.
Wege gelangte, zeigt die classische Philosophie zoologique von Lamarck
(1809) und die bewunderungswürdige Metamorphose der Pflanzen von
Goethe (1790). Doch war die empirische Basis, auf welcher diese Heroen
der Naturforschung ihre genialen Gedankengebäude errichteten, noch zu
schmal und unvollkommen, die ganze damalige Kenntniss der Organismen
noch zu sehr bloss auf die äusseren Form-Verhältnisse beschränkt, als dass
ihre denkende Naturbetrachtung die festesten Anhaltspunkte hätte gewinnen
und die darauf gegründeten allgemeinen Gesetze schon damals eine weitere
Geltung hätten erringen können. Entwickelungsgeschichte und Palaeonto-
logie existirten noch nicht, und die vergleichende Anatomie hatte kaum
noch Wurzeln geschlagen. Wie weit aber diese Genien trotzdem ihrer Zeit
vorauseilten, bezeugt vor Allem die (in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts
fast allgemein ignorirte) Thatsache, dass Beide, sowohl Lamarck, als
Goethe, die wichtigsten Sätze der Descendenz-Theorie bereits mit voller
Klarheit und Bestimmtheit aussprachen. Erst ein volles halbes Jahrhundert
später sollte Darwin dafür die Beweise liefern.

Die eigentliche Blüthezeit der älteren Naturphilosophie fällt in die er-
sten Decennien unseres Jahrhunderts. Aber schon im zweiten und noch
schneller im dritten näherte sie sich ihrem jähen Untergange, theils durch
eigene Verblendung und Ausartung, theils durch Mangel an Verständniss
bei der Mehrzahl der Zeitgenossen, theils durch das rasche und glänzende
Emporblühen der empirischen Richtung, welche in Cuvier einen neuen und
gewaltigen Reformator fand. Gegenüber der willkührlichen und verkehrten
Phantasterei, in welche die Naturphilosophie bald sowohl in Frankreich als
in Deutschland damals ausartete, war es dem exacten, strengen und auf
der breitesten empirischen Basis stehenden Cuvier ein Leichtes, die ver-
wilderten und undisciplinirten Gegner aus dem Felde zu schlagen. Bekannt-
lich war es der 22. Februar 1830, an welchem der Conflict zwischen den
beiden entgegengesetzten Richtungen in der Pariser Akademie zum öffent-
lichen Austrage kam, und damit definitiv geendigt zu sein schien, dass
Cuvier seinen Hauptgegner E. Geoffroy S. Hilaire mit Hülfe seiner
überwiegenden empirischen Beweismittel in den Augen der grossen Mehr-
heit vollständig besiegte. Dieser merkwürdige öffentliche Conflict, durch
welchen die Niederlage der älteren Naturphilosophie besiegelt wurde, ist
in mehrfacher Beziehung vom höchsten Interesse, vorzüglich auch desshalb,
weil er von Goethe in der meisterhaftesten Form in einem kritischen Auf-
satze dargestellt wurde, welchen derselbe wenige Tage vor seinem Tode
(im März 1832) vollendete. Dieser höchst lesenswerthe Aufsatz, das letzte
schriftliche Vermächtniss, welches der deutsche Dichterfürst uns hinterlassen,
enthält nicht allein eine vortreffliche Characteristik von Cuvier und
Geoffroy S. Hilaire, sondern auch eine ausgezeichnete Darstellung der
beiden entgegengesetzten von ihnen vertretenen Richtungen, "des immer-
währenden Conflictes zwischen den Denkweisen, in die sich die wissen-
schaftliche Welt schon lange trennt; zwei Denkweisen, welche sich in dem
menschlichen Geschlechte meistens getrennt und dergestalt vertheilt finden,
dass sie, wie überall, so auch im Wissenschaftlichen, schwer zusammen ver-
bunden angetroffen werden, und wie sie getrennt sind, sich nicht wohl

I. Empirie und Philosophie.
Wege gelangte, zeigt die classische Philosophie zoologique von Lamarck
(1809) und die bewunderungswürdige Metamorphose der Pflanzen von
Goethe (1790). Doch war die empirische Basis, auf welcher diese Heroen
der Naturforschung ihre genialen Gedankengebäude errichteten, noch zu
schmal und unvollkommen, die ganze damalige Kenntniss der Organismen
noch zu sehr bloss auf die äusseren Form-Verhältnisse beschränkt, als dass
ihre denkende Naturbetrachtung die festesten Anhaltspunkte hätte gewinnen
und die darauf gegründeten allgemeinen Gesetze schon damals eine weitere
Geltung hätten erringen können. Entwickelungsgeschichte und Palaeonto-
logie existirten noch nicht, und die vergleichende Anatomie hatte kaum
noch Wurzeln geschlagen. Wie weit aber diese Genien trotzdem ihrer Zeit
vorauseilten, bezeugt vor Allem die (in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts
fast allgemein ignorirte) Thatsache, dass Beide, sowohl Lamarck, als
Goethe, die wichtigsten Sätze der Descendenz-Theorie bereits mit voller
Klarheit und Bestimmtheit aussprachen. Erst ein volles halbes Jahrhundert
später sollte Darwin dafür die Beweise liefern.

Die eigentliche Blüthezeit der älteren Naturphilosophie fällt in die er-
sten Decennien unseres Jahrhunderts. Aber schon im zweiten und noch
schneller im dritten näherte sie sich ihrem jähen Untergange, theils durch
eigene Verblendung und Ausartung, theils durch Mangel an Verständniss
bei der Mehrzahl der Zeitgenossen, theils durch das rasche und glänzende
Emporblühen der empirischen Richtung, welche in Cuvier einen neuen und
gewaltigen Reformator fand. Gegenüber der willkührlichen und verkehrten
Phantasterei, in welche die Naturphilosophie bald sowohl in Frankreich als
in Deutschland damals ausartete, war es dem exacten, strengen und auf
der breitesten empirischen Basis stehenden Cuvier ein Leichtes, die ver-
wilderten und undisciplinirten Gegner aus dem Felde zu schlagen. Bekannt-
lich war es der 22. Februar 1830, an welchem der Conflict zwischen den
beiden entgegengesetzten Richtungen in der Pariser Akademie zum öffent-
lichen Austrage kam, und damit definitiv geendigt zu sein schien, dass
Cuvier seinen Hauptgegner E. Geoffroy S. Hilaire mit Hülfe seiner
überwiegenden empirischen Beweismittel in den Augen der grossen Mehr-
heit vollständig besiegte. Dieser merkwürdige öffentliche Conflict, durch
welchen die Niederlage der älteren Naturphilosophie besiegelt wurde, ist
in mehrfacher Beziehung vom höchsten Interesse, vorzüglich auch desshalb,
weil er von Goethe in der meisterhaftesten Form in einem kritischen Auf-
satze dargestellt wurde, welchen derselbe wenige Tage vor seinem Tode
(im März 1832) vollendete. Dieser höchst lesenswerthe Aufsatz, das letzte
schriftliche Vermächtniss, welches der deutsche Dichterfürst uns hinterlassen,
enthält nicht allein eine vortreffliche Characteristik von Cuvier und
Geoffroy S. Hilaire, sondern auch eine ausgezeichnete Darstellung der
beiden entgegengesetzten von ihnen vertretenen Richtungen, „des immer-
währenden Conflictes zwischen den Denkweisen, in die sich die wissen-
schaftliche Welt schon lange trennt; zwei Denkweisen, welche sich in dem
menschlichen Geschlechte meistens getrennt und dergestalt vertheilt finden,
dass sie, wie überall, so auch im Wissenschaftlichen, schwer zusammen ver-
bunden angetroffen werden, und wie sie getrennt sind, sich nicht wohl

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[69/0108] I. Empirie und Philosophie. Wege gelangte, zeigt die classische Philosophie zoologique von Lamarck (1809) und die bewunderungswürdige Metamorphose der Pflanzen von Goethe (1790). Doch war die empirische Basis, auf welcher diese Heroen der Naturforschung ihre genialen Gedankengebäude errichteten, noch zu schmal und unvollkommen, die ganze damalige Kenntniss der Organismen noch zu sehr bloss auf die äusseren Form-Verhältnisse beschränkt, als dass ihre denkende Naturbetrachtung die festesten Anhaltspunkte hätte gewinnen und die darauf gegründeten allgemeinen Gesetze schon damals eine weitere Geltung hätten erringen können. Entwickelungsgeschichte und Palaeonto- logie existirten noch nicht, und die vergleichende Anatomie hatte kaum noch Wurzeln geschlagen. Wie weit aber diese Genien trotzdem ihrer Zeit vorauseilten, bezeugt vor Allem die (in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts fast allgemein ignorirte) Thatsache, dass Beide, sowohl Lamarck, als Goethe, die wichtigsten Sätze der Descendenz-Theorie bereits mit voller Klarheit und Bestimmtheit aussprachen. Erst ein volles halbes Jahrhundert später sollte Darwin dafür die Beweise liefern. Die eigentliche Blüthezeit der älteren Naturphilosophie fällt in die er- sten Decennien unseres Jahrhunderts. Aber schon im zweiten und noch schneller im dritten näherte sie sich ihrem jähen Untergange, theils durch eigene Verblendung und Ausartung, theils durch Mangel an Verständniss bei der Mehrzahl der Zeitgenossen, theils durch das rasche und glänzende Emporblühen der empirischen Richtung, welche in Cuvier einen neuen und gewaltigen Reformator fand. Gegenüber der willkührlichen und verkehrten Phantasterei, in welche die Naturphilosophie bald sowohl in Frankreich als in Deutschland damals ausartete, war es dem exacten, strengen und auf der breitesten empirischen Basis stehenden Cuvier ein Leichtes, die ver- wilderten und undisciplinirten Gegner aus dem Felde zu schlagen. Bekannt- lich war es der 22. Februar 1830, an welchem der Conflict zwischen den beiden entgegengesetzten Richtungen in der Pariser Akademie zum öffent- lichen Austrage kam, und damit definitiv geendigt zu sein schien, dass Cuvier seinen Hauptgegner E. Geoffroy S. Hilaire mit Hülfe seiner überwiegenden empirischen Beweismittel in den Augen der grossen Mehr- heit vollständig besiegte. Dieser merkwürdige öffentliche Conflict, durch welchen die Niederlage der älteren Naturphilosophie besiegelt wurde, ist in mehrfacher Beziehung vom höchsten Interesse, vorzüglich auch desshalb, weil er von Goethe in der meisterhaftesten Form in einem kritischen Auf- satze dargestellt wurde, welchen derselbe wenige Tage vor seinem Tode (im März 1832) vollendete. Dieser höchst lesenswerthe Aufsatz, das letzte schriftliche Vermächtniss, welches der deutsche Dichterfürst uns hinterlassen, enthält nicht allein eine vortreffliche Characteristik von Cuvier und Geoffroy S. Hilaire, sondern auch eine ausgezeichnete Darstellung der beiden entgegengesetzten von ihnen vertretenen Richtungen, „des immer- währenden Conflictes zwischen den Denkweisen, in die sich die wissen- schaftliche Welt schon lange trennt; zwei Denkweisen, welche sich in dem menschlichen Geschlechte meistens getrennt und dergestalt vertheilt finden, dass sie, wie überall, so auch im Wissenschaftlichen, schwer zusammen ver- bunden angetroffen werden, und wie sie getrennt sind, sich nicht wohl

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/108>, abgerufen am 10.11.2024.