Hebbel, Friedrich: Maria Magdalene. Hamburg, 1844.
nicht was, wenn die Welt mich in meinem Elend mit Füßen träte, statt mir beizustehen, ich wollte mein Kind, und wenn's auch die Züge dieses Menschen trüge, lieben, ach, und ich wollte vor der armen Unschuld so viel weinen, daß es, wenn's älter und klüger würde, seine Mutter gewiß nicht verachten, noch ihr fluchen sollte. Aber ich bin's nicht allein, und leichter find' ich am jüngsten Tag noch eine Antwort auf des Rich- ters Frage: warum hast Du Dich Selbst umgebracht? als auf die: warum hast Du Deinen Vater so weit getrieben? Leonhard. Du sprichst, als ob Du die Erste und Letzte wärst! Tausende haben das vor Dir durchgemacht, und sie ergaben sich darein, Tausende werden nach Dir in den Fall kommen und sich in ihr Schicksal finden: sind die alle Nickel, daß Du Dich für Dich allein in die Ecke stellen willst? Die hatten auch Väter, die ein Schock neue Flüche erfanden, als sie's zuerst hörten, und von Mord und Todtschlag sprachen; nachher schämten sie sich, und thaten Buße für ihre Schwüre und Gotteslästerungen, sie setzten sich hin
nicht was, wenn die Welt mich in meinem Elend mit Füßen träte, ſtatt mir beizuſtehen, ich wollte mein Kind, und wenn’s auch die Züge dieſes Menſchen trüge, lieben, ach, und ich wollte vor der armen Unſchuld ſo viel weinen, daß es, wenn’s älter und klüger würde, ſeine Mutter gewiß nicht verachten, noch ihr fluchen ſollte. Aber ich bin’s nicht allein, und leichter find’ ich am jüngſten Tag noch eine Antwort auf des Rich- ters Frage: warum haſt Du Dich Selbſt umgebracht? als auf die: warum haſt Du Deinen Vater ſo weit getrieben? Leonhard. Du ſprichſt, als ob Du die Erſte und Letzte wärſt! Tauſende haben das vor Dir durchgemacht, und ſie ergaben ſich darein, Tauſende werden nach Dir in den Fall kommen und ſich in ihr Schickſal finden: ſind die alle Nickel, daß Du Dich für Dich allein in die Ecke ſtellen willſt? Die hatten auch Väter, die ein Schock neue Flüche erfanden, als ſie’s zuerſt hörten, und von Mord und Todtſchlag ſprachen; nachher ſchämten ſie ſich, und thaten Buße für ihre Schwüre und Gottesläſterungen, ſie ſetzten ſich hin <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <sp who="#KLARA"> <p><pb facs="#f0164" n="96"/> nicht was, wenn die Welt mich in meinem Elend mit<lb/> Füßen träte, ſtatt mir beizuſtehen, ich wollte mein<lb/> Kind, und wenn’s auch die Züge dieſes Menſchen<lb/> trüge, lieben, ach, und ich wollte vor der armen Unſchuld<lb/> ſo viel weinen, daß es, wenn’s älter und klüger würde,<lb/> ſeine Mutter gewiß nicht verachten, noch ihr fluchen<lb/> ſollte. Aber ich bin’s nicht allein, und leichter find’<lb/> ich am jüngſten Tag noch eine Antwort auf des Rich-<lb/> ters Frage: warum haſt Du Dich Selbſt umgebracht?<lb/> als auf die: warum haſt Du Deinen Vater ſo weit<lb/> getrieben?</p> </sp><lb/> <sp who="#LEO"> <speaker><hi rendition="#g">Leonhard</hi>.</speaker><lb/> <p>Du ſprichſt, als ob Du die Erſte und Letzte<lb/> wärſt! Tauſende haben das vor Dir durchgemacht,<lb/> und ſie ergaben ſich darein, Tauſende werden nach<lb/> Dir in den Fall kommen und ſich in ihr Schickſal<lb/> finden: ſind die alle Nickel, daß Du Dich für Dich<lb/> allein in die Ecke ſtellen willſt? Die hatten auch<lb/> Väter, die ein Schock neue Flüche erfanden, als ſie’s<lb/> zuerſt hörten, und von Mord und Todtſchlag ſprachen;<lb/> nachher ſchämten ſie ſich, und thaten Buße für ihre<lb/> Schwüre und Gottesläſterungen, ſie ſetzten ſich hin<lb/></p> </sp> </div> </div> </body> </text> </TEI> [96/0164]
nicht was, wenn die Welt mich in meinem Elend mit
Füßen träte, ſtatt mir beizuſtehen, ich wollte mein
Kind, und wenn’s auch die Züge dieſes Menſchen
trüge, lieben, ach, und ich wollte vor der armen Unſchuld
ſo viel weinen, daß es, wenn’s älter und klüger würde,
ſeine Mutter gewiß nicht verachten, noch ihr fluchen
ſollte. Aber ich bin’s nicht allein, und leichter find’
ich am jüngſten Tag noch eine Antwort auf des Rich-
ters Frage: warum haſt Du Dich Selbſt umgebracht?
als auf die: warum haſt Du Deinen Vater ſo weit
getrieben?
Leonhard.
Du ſprichſt, als ob Du die Erſte und Letzte
wärſt! Tauſende haben das vor Dir durchgemacht,
und ſie ergaben ſich darein, Tauſende werden nach
Dir in den Fall kommen und ſich in ihr Schickſal
finden: ſind die alle Nickel, daß Du Dich für Dich
allein in die Ecke ſtellen willſt? Die hatten auch
Väter, die ein Schock neue Flüche erfanden, als ſie’s
zuerſt hörten, und von Mord und Todtſchlag ſprachen;
nachher ſchämten ſie ſich, und thaten Buße für ihre
Schwüre und Gottesläſterungen, ſie ſetzten ſich hin
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Zitationshilfe: | Hebbel, Friedrich: Maria Magdalene. Hamburg, 1844, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hebbel_magdalene_1844/164>, abgerufen am 18.06.2024. |