wohl hüten müssen, den Erschleichungen Thür und Thor zu öffnen!
§. 5.
Ueber Beobachtung Anderer, als ein Mittel zur Auf- findung psychologischer Thatsachen, lässt sich wohl kaum etwas sagen, das nicht in die vorstehenden Erörterungen zurückliefe. Denn, abgesehen von der Frage nach der Glaubwürdigkeit der Zeugnisse, wird alles darauf ankom- men, wieviel und wie genau jene Anderen von sich selbst auffassen und erzählen, und wie richtig wir theils ihre Erzählungen verstehen, theils die äussern Zeichen ihrer inneren Zustände auslegen. Mit ihren eignen Auffassun- gen nun sind jene in eben der Lage, wie wir mit den unsrigen: um aber ihre Beschreibungen zu verstehen, können wir nur unsre eignen innern Wahrnehmungen zu Hülfe rufen. Daher beurtheilt denn auch Jeder die Andern nach sich selbst; und die seltnern Zustände der Leidenschaft oder Begeisterung, die zarteren Regungen empfindlicher Gemüther, werden von der bey weitem grö- sseren Menge der Menschen nicht verstanden.
Die erste Bemerkung, die sich hier aufdringt, ist wohl diese, dass die Unsicherheit in den, auf dem Wege der Ueberlieferung erworbenen psychologischen Kennt- nissen, in einem zusammengesetzten Verhältnisse stehe, und deshalb grösser sey, als bey der Selbstbeobachtung. Denn hier vereinigen sich die Mängel und die Erschlei- chungen in der überlieferten Nachricht mit denen in un- serer Auslegung, und so laufen wir die Gefahr einer dop- pelten Täuschung. Sie kann auch noch grösser werden, wenn die Ueberlieferung durch eine ganze Reihe von Menschen fortläuft, deren Jeder das Seinige hinzuthut. Sollte wohl dieser Fall da statt finden, wo Einer von sei- ner intellectualen Anschauung redet, und die Tradition davon ihren Weg durch Kopf und Mund verschiedent- lich gestimmter Schwärmer nimmt, die Alle in sich selbst das wiederfinden wollen, was sie vernahmen?
Zu einer zweyten Bemerkung veranlasst die Neigung
wohl hüten müssen, den Erschleichungen Thür und Thor zu öffnen!
§. 5.
Ueber Beobachtung Anderer, als ein Mittel zur Auf- findung psychologischer Thatsachen, läſst sich wohl kaum etwas sagen, das nicht in die vorstehenden Erörterungen zurückliefe. Denn, abgesehen von der Frage nach der Glaubwürdigkeit der Zeugnisse, wird alles darauf ankom- men, wieviel und wie genau jene Anderen von sich selbst auffassen und erzählen, und wie richtig wir theils ihre Erzählungen verstehen, theils die äuſsern Zeichen ihrer inneren Zustände auslegen. Mit ihren eignen Auffassun- gen nun sind jene in eben der Lage, wie wir mit den unsrigen: um aber ihre Beschreibungen zu verstehen, können wir nur unsre eignen innern Wahrnehmungen zu Hülfe rufen. Daher beurtheilt denn auch Jeder die Andern nach sich selbst; und die seltnern Zustände der Leidenschaft oder Begeisterung, die zarteren Regungen empfindlicher Gemüther, werden von der bey weitem grö- ſseren Menge der Menschen nicht verstanden.
Die erste Bemerkung, die sich hier aufdringt, ist wohl diese, daſs die Unsicherheit in den, auf dem Wege der Ueberlieferung erworbenen psychologischen Kennt- nissen, in einem zusammengesetzten Verhältnisse stehe, und deshalb gröſser sey, als bey der Selbstbeobachtung. Denn hier vereinigen sich die Mängel und die Erschlei- chungen in der überlieferten Nachricht mit denen in un- serer Auslegung, und so laufen wir die Gefahr einer dop- pelten Täuschung. Sie kann auch noch gröſser werden, wenn die Ueberlieferung durch eine ganze Reihe von Menschen fortläuft, deren Jeder das Seinige hinzuthut. Sollte wohl dieser Fall da statt finden, wo Einer von sei- ner intellectualen Anschauung redet, und die Tradition davon ihren Weg durch Kopf und Mund verschiedent- lich gestimmter Schwärmer nimmt, die Alle in sich selbst das wiederfinden wollen, was sie vernahmen?
Zu einer zweyten Bemerkung veranlaſst die Neigung
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wohl hüten müssen, den Erschleichungen Thür
und Thor zu öffnen!
§. 5.
Ueber Beobachtung Anderer, als ein Mittel zur Auf-
findung psychologischer Thatsachen, läſst sich wohl kaum
etwas sagen, das nicht in die vorstehenden Erörterungen
zurückliefe. Denn, abgesehen von der Frage nach der
Glaubwürdigkeit der Zeugnisse, wird alles darauf ankom-
men, wieviel und wie genau jene Anderen von sich selbst
auffassen und erzählen, und wie richtig wir theils ihre
Erzählungen verstehen, theils die äuſsern Zeichen ihrer
inneren Zustände auslegen. Mit ihren eignen Auffassun-
gen nun sind jene in eben der Lage, wie wir mit den
unsrigen: um aber ihre Beschreibungen zu verstehen,
können wir nur unsre eignen innern Wahrnehmungen
zu Hülfe rufen. Daher beurtheilt denn auch Jeder die
Andern nach sich selbst; und die seltnern Zustände der
Leidenschaft oder Begeisterung, die zarteren Regungen
empfindlicher Gemüther, werden von der bey weitem grö-
ſseren Menge der Menschen nicht verstanden.
Die erste Bemerkung, die sich hier aufdringt, ist
wohl diese, daſs die Unsicherheit in den, auf dem Wege
der Ueberlieferung erworbenen psychologischen Kennt-
nissen, in einem zusammengesetzten Verhältnisse stehe,
und deshalb gröſser sey, als bey der Selbstbeobachtung.
Denn hier vereinigen sich die Mängel und die Erschlei-
chungen in der überlieferten Nachricht mit denen in un-
serer Auslegung, und so laufen wir die Gefahr einer dop-
pelten Täuschung. Sie kann auch noch gröſser werden,
wenn die Ueberlieferung durch eine ganze Reihe von
Menschen fortläuft, deren Jeder das Seinige hinzuthut.
Sollte wohl dieser Fall da statt finden, wo Einer von sei-
ner intellectualen Anschauung redet, und die Tradition
davon ihren Weg durch Kopf und Mund verschiedent-
lich gestimmter Schwärmer nimmt, die Alle in sich selbst
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/35>, abgerufen am 10.11.2024.
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