Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

könnte alsdann nur blindlings sich da oder dorthin neigen,
aber nicht wählen.

Nun ist aber die Vernunft, welcher er Gehör giebt,
und die Begierde, die ihn reizt und lockt, nicht wirklich
außer ihm, sondern in ihm, und Er selbst ist kein Drit-
ter neben jenen beyden, sondern sein eignes geistiges Leben
liegt und wirkt in beyden. Wenn er nun endlich wählt, so
ist diese Wahl nichts anderes, als eine Zusammenwirkung
eben jener Vernunft und Begierde, zwischen denen er sich
frey in der Mitte stehend dachte.

Jndem nun der Mensch findet, daß Vernunft und Be-
gierde in ihrem Zusammenwirken über ihn entschieden haben;
scheint er sich unfrey, und fremden Kräften unterworfen.

Offenbar ist dies wieder eine Täuschung, und gerade
aus der nämlichen Quelle, wie die erstere. Eben darum,
weil Vernunft und Begierde nichts außer ihm sind,,und
Er nichts außer ihnen, so ist auch die Entscheidung, welche
aus jenen entspringt, keine fremde, sondern seine eigene.
Nur mit Selbstthätigkeit hat er gewählt, jedoch nicht mit
einer Kraft, die von seiner Vernunft und seiner Begierde
noch verschieden wäre, und die ein anderes Resultat, als
jene beyden, ergeben könnte.

Anmerkung. Hiemit ist der Hauptgrund der psy-
chologischen Täuschungen angegeben, welche in Hinsicht der
Freyheit Statt sinden; auf die tieferliegenden metaphysischen
und moralischen Misverständnisse, die sich dabey einmischen,
können wir hier nicht Rücksicht nehmen. Nur ganz kurz
mag erwähnt werden, daß die Schwierigkeiten, die man in
der Zurechnung findet, von allen am leichtesten zu heben
sind. Zugerechnet wird eine Handlung, so fern man sie
als Zeichen eines Wollens betrachten darf; mehr oder
minder zugerechnet, je mehr oder weniger, je schwächeren
oder vesteren Willen sie verräth. So weit ist alles klar

könnte alsdann nur blindlings sich da oder dorthin neigen,
aber nicht wählen.

Nun ist aber die Vernunft, welcher er Gehör giebt,
und die Begierde, die ihn reizt und lockt, nicht wirklich
außer ihm, sondern in ihm, und Er selbst ist kein Drit-
ter neben jenen beyden, sondern sein eignes geistiges Leben
liegt und wirkt in beyden. Wenn er nun endlich wählt, so
ist diese Wahl nichts anderes, als eine Zusammenwirkung
eben jener Vernunft und Begierde, zwischen denen er sich
frey in der Mitte stehend dachte.

Jndem nun der Mensch findet, daß Vernunft und Be-
gierde in ihrem Zusammenwirken über ihn entschieden haben;
scheint er sich unfrey, und fremden Kräften unterworfen.

Offenbar ist dies wieder eine Täuschung, und gerade
aus der nämlichen Quelle, wie die erstere. Eben darum,
weil Vernunft und Begierde nichts außer ihm sind,,und
Er nichts außer ihnen, so ist auch die Entscheidung, welche
aus jenen entspringt, keine fremde, sondern seine eigene.
Nur mit Selbstthätigkeit hat er gewählt, jedoch nicht mit
einer Kraft, die von seiner Vernunft und seiner Begierde
noch verschieden wäre, und die ein anderes Resultat, als
jene beyden, ergeben könnte.

Anmerkung. Hiemit ist der Hauptgrund der psy-
chologischen Täuschungen angegeben, welche in Hinsicht der
Freyheit Statt sinden; auf die tieferliegenden metaphysischen
und moralischen Misverständnisse, die sich dabey einmischen,
können wir hier nicht Rücksicht nehmen. Nur ganz kurz
mag erwähnt werden, daß die Schwierigkeiten, die man in
der Zurechnung findet, von allen am leichtesten zu heben
sind. Zugerechnet wird eine Handlung, so fern man sie
als Zeichen eines Wollens betrachten darf; mehr oder
minder zugerechnet, je mehr oder weniger, je schwächeren
oder vesteren Willen sie verräth. So weit ist alles klar

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0100" n="92"/>
könnte alsdann nur blindlings sich da oder dorthin neigen,<lb/>
aber nicht wählen.</p><lb/>
            <p>Nun ist aber die Vernunft, welcher er Gehör giebt,<lb/>
und die Begierde, die ihn
               reizt und lockt, nicht wirklich<lb/><hi rendition="#g">außer ihm</hi>, sondern <hi rendition="#g">in ihm</hi>, und Er
               selbst ist kein Drit-<lb/>
ter neben jenen beyden, sondern sein eignes geistiges Leben<lb/>
liegt und wirkt in beyden. Wenn er nun endlich wählt, so<lb/>
ist diese Wahl
               nichts anderes, als eine Zusammenwirkung<lb/>
eben jener Vernunft und Begierde,
               zwischen denen er sich<lb/>
frey in der Mitte stehend dachte.</p><lb/>
            <p>Jndem nun der Mensch findet, daß Vernunft und Be-<lb/>
gierde in ihrem Zusammenwirken
               über ihn entschieden haben;<lb/>
scheint er sich <hi rendition="#g">unfrey</hi>, und
               fremden Kräften unterworfen.</p><lb/>
            <p>Offenbar ist dies wieder eine Täuschung, und gerade<lb/>
aus der nämlichen Quelle,
               wie die erstere. Eben darum,<lb/>
weil Vernunft und Begierde nichts außer ihm
               sind,,und<lb/>
Er nichts außer ihnen, so ist auch die Entscheidung, welche<lb/>
aus
               jenen entspringt, keine fremde, sondern seine eigene.<lb/>
Nur mit Selbstthätigkeit
               hat er gewählt, jedoch nicht mit<lb/>
einer Kraft, die von seiner Vernunft und seiner
               Begierde<lb/>
noch verschieden wäre, und die ein anderes Resultat, als<lb/>
jene
               beyden, ergeben könnte.</p><lb/>
            <p><hi rendition="#g">Anmerkung</hi>. Hiemit ist der Hauptgrund der psy-<lb/>
chologischen Täuschungen angegeben, welche in Hinsicht der<lb/>
Freyheit Statt
               sinden; auf die tieferliegenden metaphysischen<lb/>
und moralischen Misverständnisse,
               die sich dabey einmischen,<lb/>
können wir hier nicht Rücksicht nehmen. Nur ganz kurz<lb/>
mag erwähnt werden, daß die Schwierigkeiten, die man in<lb/>
der <hi rendition="#g">Zurechnung</hi> findet, von allen am leichtesten zu heben<lb/>
sind.
               Zugerechnet wird eine <hi rendition="#g">Handlung</hi>, so fern man sie<lb/><hi rendition="#g">als Zeichen eines Wollens</hi> betrachten darf; mehr oder<lb/>
minder zugerechnet, je mehr oder weniger, je schwächeren<lb/>
oder vesteren Willen
               sie verräth. So weit ist alles klar<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[92/0100] könnte alsdann nur blindlings sich da oder dorthin neigen, aber nicht wählen. Nun ist aber die Vernunft, welcher er Gehör giebt, und die Begierde, die ihn reizt und lockt, nicht wirklich außer ihm, sondern in ihm, und Er selbst ist kein Drit- ter neben jenen beyden, sondern sein eignes geistiges Leben liegt und wirkt in beyden. Wenn er nun endlich wählt, so ist diese Wahl nichts anderes, als eine Zusammenwirkung eben jener Vernunft und Begierde, zwischen denen er sich frey in der Mitte stehend dachte. Jndem nun der Mensch findet, daß Vernunft und Be- gierde in ihrem Zusammenwirken über ihn entschieden haben; scheint er sich unfrey, und fremden Kräften unterworfen. Offenbar ist dies wieder eine Täuschung, und gerade aus der nämlichen Quelle, wie die erstere. Eben darum, weil Vernunft und Begierde nichts außer ihm sind,,und Er nichts außer ihnen, so ist auch die Entscheidung, welche aus jenen entspringt, keine fremde, sondern seine eigene. Nur mit Selbstthätigkeit hat er gewählt, jedoch nicht mit einer Kraft, die von seiner Vernunft und seiner Begierde noch verschieden wäre, und die ein anderes Resultat, als jene beyden, ergeben könnte. Anmerkung. Hiemit ist der Hauptgrund der psy- chologischen Täuschungen angegeben, welche in Hinsicht der Freyheit Statt sinden; auf die tieferliegenden metaphysischen und moralischen Misverständnisse, die sich dabey einmischen, können wir hier nicht Rücksicht nehmen. Nur ganz kurz mag erwähnt werden, daß die Schwierigkeiten, die man in der Zurechnung findet, von allen am leichtesten zu heben sind. Zugerechnet wird eine Handlung, so fern man sie als Zeichen eines Wollens betrachten darf; mehr oder minder zugerechnet, je mehr oder weniger, je schwächeren oder vesteren Willen sie verräth. So weit ist alles klar

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Google Books: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2013-07-05T12:13:38Z)
Thomas Gloning: Bereitstellung der Texttranskription. (2013-07-05T12:13:38Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Hannah Sophia Glaum: Umwandlung in DTABf-konformes Markup. (2013-07-05T12:13:38Z)
Stefanie Seim: Nachkorrekturen. (2013-07-05T12:13:38Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Bogensignaturen: nicht übernommen
  • fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet
  • langes s (ſ): als s transkribiert
  • rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert
  • Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/100
Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/100>, abgerufen am 18.05.2024.