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Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834.

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des entsteht. Folglich ist die Vorstellung des Bewegten in
dem Zustande der Begierde (36). Diese Begierde aber
wird befriedigt, denn das Bewegte ist nicht aus dein Ge-
sichtsfelde (oder dem Wahrnehmungskreise) entwichen, son-
dern nur etwa aus dem Mittelpunkte des Gesichtsfeldes;
und die volle Befriedigung wird durch eine kaum merkliche
Drehung des Auges erreicht. So geht nun die Auffassung
des Bewegten (von der wir hier das Differential beschrieben
haben) immer fort.

Daß nun das Bewegte nicht bloß mehr beschäfftigt,
sondern sich auch tiefer einprägt, als das Ruhende,
liegt in der Menge von kleinen Hülfen, welche von jeder
Umgebung, in der es sich gezeigt hat, übrig bleibt.

198. Da das Lebendige, vorzüglich das Empfindende,
in ungleich mehreren und mannigfaltigeren Bewegungen ge-
sehen wird als das Todte, so läßt sich schon hieraus begrei-
fen, weshalb schon in der frühesten Periode des Daseyns
nicht bloß der Mensch, sondern auch das Thier sich um das
Todte viel weniger bekümmert als um jenes Erstere. Hie-
bey ist aber zu bemerken, daß ursprünglich die Dinge nicht
für todt, sondern für empfindend gehalten werden. Denn
auf den Anblick eines Körpers, der gestoßen oder geschlagen
wird, überträgt sich die Erinnerung an eignes Gefühl bey
ähnlichem Leiden des eignen Leibes. Wo dies ausbleibt,
da ists ein Zeichen von Stumpfsinn; je lebendiger der
Mensch, desto mehr Leben setzt er vor näherer Prüfung
überall voraus.

Anmerkung. Es war ein gewaltsam erzeugter, und
eben so gewaltsam vestgehaltener Jrrthum des Jdealismus,
das Jch setze sich ein Nicht-Jch entgegen, -- als ob die
Dinge ursprünglich mit der Negation des Jch behaftet wä-
ren. Auf die Weise würde nimmer ein Du und ein Er
entstehn, -- nimmer eine andre Persönlichkeit, außer der eig-

des entsteht. Folglich ist die Vorstellung des Bewegten in
dem Zustande der Begierde (36). Diese Begierde aber
wird befriedigt, denn das Bewegte ist nicht aus dein Ge-
sichtsfelde (oder dem Wahrnehmungskreise) entwichen, son-
dern nur etwa aus dem Mittelpunkte des Gesichtsfeldes;
und die volle Befriedigung wird durch eine kaum merkliche
Drehung des Auges erreicht. So geht nun die Auffassung
des Bewegten (von der wir hier das Differential beschrieben
haben) immer fort.

Daß nun das Bewegte nicht bloß mehr beschäfftigt,
sondern sich auch tiefer einprägt, als das Ruhende,
liegt in der Menge von kleinen Hülfen, welche von jeder
Umgebung, in der es sich gezeigt hat, übrig bleibt.

198. Da das Lebendige, vorzüglich das Empfindende,
in ungleich mehreren und mannigfaltigeren Bewegungen ge-
sehen wird als das Todte, so läßt sich schon hieraus begrei-
fen, weshalb schon in der frühesten Periode des Daseyns
nicht bloß der Mensch, sondern auch das Thier sich um das
Todte viel weniger bekümmert als um jenes Erstere. Hie-
bey ist aber zu bemerken, daß ursprünglich die Dinge nicht
für todt, sondern für empfindend gehalten werden. Denn
auf den Anblick eines Körpers, der gestoßen oder geschlagen
wird, überträgt sich die Erinnerung an eignes Gefühl bey
ähnlichem Leiden des eignen Leibes. Wo dies ausbleibt,
da ists ein Zeichen von Stumpfsinn; je lebendiger der
Mensch, desto mehr Leben setzt er vor näherer Prüfung
überall voraus.

Anmerkung. Es war ein gewaltsam erzeugter, und
eben so gewaltsam vestgehaltener Jrrthum des Jdealismus,
das Jch setze sich ein Nicht-Jch entgegen, — als ob die
Dinge ursprünglich mit der Negation des Jch behaftet wä-
ren. Auf die Weise würde nimmer ein Du und ein Er
entstehn, — nimmer eine andre Persönlichkeit, außer der eig-

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[157/0165] des entsteht. Folglich ist die Vorstellung des Bewegten in dem Zustande der Begierde (36). Diese Begierde aber wird befriedigt, denn das Bewegte ist nicht aus dein Ge- sichtsfelde (oder dem Wahrnehmungskreise) entwichen, son- dern nur etwa aus dem Mittelpunkte des Gesichtsfeldes; und die volle Befriedigung wird durch eine kaum merkliche Drehung des Auges erreicht. So geht nun die Auffassung des Bewegten (von der wir hier das Differential beschrieben haben) immer fort. Daß nun das Bewegte nicht bloß mehr beschäfftigt, sondern sich auch tiefer einprägt, als das Ruhende, liegt in der Menge von kleinen Hülfen, welche von jeder Umgebung, in der es sich gezeigt hat, übrig bleibt. 198. Da das Lebendige, vorzüglich das Empfindende, in ungleich mehreren und mannigfaltigeren Bewegungen ge- sehen wird als das Todte, so läßt sich schon hieraus begrei- fen, weshalb schon in der frühesten Periode des Daseyns nicht bloß der Mensch, sondern auch das Thier sich um das Todte viel weniger bekümmert als um jenes Erstere. Hie- bey ist aber zu bemerken, daß ursprünglich die Dinge nicht für todt, sondern für empfindend gehalten werden. Denn auf den Anblick eines Körpers, der gestoßen oder geschlagen wird, überträgt sich die Erinnerung an eignes Gefühl bey ähnlichem Leiden des eignen Leibes. Wo dies ausbleibt, da ists ein Zeichen von Stumpfsinn; je lebendiger der Mensch, desto mehr Leben setzt er vor näherer Prüfung überall voraus. Anmerkung. Es war ein gewaltsam erzeugter, und eben so gewaltsam vestgehaltener Jrrthum des Jdealismus, das Jch setze sich ein Nicht-Jch entgegen, — als ob die Dinge ursprünglich mit der Negation des Jch behaftet wä- ren. Auf die Weise würde nimmer ein Du und ein Er entstehn, — nimmer eine andre Persönlichkeit, außer der eig-

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/165>, abgerufen am 18.05.2024.