Ohne alle Verschwärzung und Verketzerung der menschlichen Natur können zween oder meh- rere nahe Stämme, wenn wir uns in ihre Fami- liendenkart setzen, nicht anders, als bald Gegen- stände des Zwistes finden. Nicht blos, daß ähn- liche Bedürfnisse sie bald in einen Streit, wenn ich so sagen darf, des Hungers und Durstes ver- wickeln, wie sich z. E. zwo Rotten von Hirten über Brunnen und Weide zanken, und nach Be- schaffenheit der Weltgegenden oft sehr natürlich zanken dörfen; ein viel heißerer Funke glimmt ihr Feuer an -- Eifersucht, Gefühl der Ehre, Stolz auf ihr Geschlecht und ihren Vorzug. Dieselbe Familienneigung, die in sich selbst ge- kehret, Stärke der Eintracht Eines Stammes gab, macht außer sich gekehrt, gegen ein an- dres Geschlecht, Stärke der Zwietracht, Fami- lienhaß! dort zogs viele zu Einem desto vester zusammen; hier machts aus zwei Partheien gleich Feinde. Der Grund dieser Feindschaft und ewi- gen Kriege ist in solchem Falle mehr edle mensch- liche Schwachheit, als niederträchtiges Laster.
Da
Ohne alle Verſchwaͤrzung und Verketzerung der menſchlichen Natur koͤnnen zween oder meh- rere nahe Staͤmme, wenn wir uns in ihre Fami- liendenkart ſetzen, nicht anders, als bald Gegen- ſtaͤnde des Zwiſtes finden. Nicht blos, daß aͤhn- liche Beduͤrfniſſe ſie bald in einen Streit, wenn ich ſo ſagen darf, des Hungers und Durſtes ver- wickeln, wie ſich z. E. zwo Rotten von Hirten uͤber Brunnen und Weide zanken, und nach Be- ſchaffenheit der Weltgegenden oft ſehr natuͤrlich zanken doͤrfen; ein viel heißerer Funke glimmt ihr Feuer an — Eiferſucht, Gefuͤhl der Ehre, Stolz auf ihr Geſchlecht und ihren Vorzug. Dieſelbe Familienneigung, die in ſich ſelbſt ge- kehret, Staͤrke der Eintracht Eines Stammes gab, macht außer ſich gekehrt, gegen ein an- dres Geſchlecht, Staͤrke der Zwietracht, Fami- lienhaß! dort zogs viele zu Einem deſto veſter zuſammen; hier machts aus zwei Partheien gleich Feinde. Der Grund dieſer Feindſchaft und ewi- gen Kriege iſt in ſolchem Falle mehr edle menſch- liche Schwachheit, als niedertraͤchtiges Laſter.
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Ohne alle Verſchwaͤrzung und Verketzerung
der menſchlichen Natur koͤnnen zween oder meh-
rere nahe Staͤmme, wenn wir uns in ihre Fami-
liendenkart ſetzen, nicht anders, als bald Gegen-
ſtaͤnde des Zwiſtes finden. Nicht blos, daß aͤhn-
liche Beduͤrfniſſe ſie bald in einen Streit, wenn
ich ſo ſagen darf, des Hungers und Durſtes ver-
wickeln, wie ſich z. E. zwo Rotten von Hirten
uͤber Brunnen und Weide zanken, und nach Be-
ſchaffenheit der Weltgegenden oft ſehr natuͤrlich
zanken doͤrfen; ein viel heißerer Funke glimmt
ihr Feuer an — Eiferſucht, Gefuͤhl der Ehre,
Stolz auf ihr Geſchlecht und ihren Vorzug.
Dieſelbe Familienneigung, die in ſich ſelbſt ge-
kehret, Staͤrke der Eintracht Eines Stammes
gab, macht außer ſich gekehrt, gegen ein an-
dres Geſchlecht, Staͤrke der Zwietracht, Fami-
lienhaß! dort zogs viele zu Einem deſto veſter
zuſammen; hier machts aus zwei Partheien gleich
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Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/202>, abgerufen am 17.06.2024.
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