schende Baum Früchte -- Jnteresse gnug, die wohlthätigen Wesen zu kennen, Dringniß gnug, ohne Augen und Zunge in seiner Seele sie zu nen- nen. Der Baum wird der Rauscher, der West Säusler, die Quelle Riesler heißen -- Da liegt ein kleines Wörterbuch fertig, und wartet auf das Gepräge der Sprachorgane. Wie arm, und son- derbar aber müßten die Vorstellungen seyn, die dieser Verstümmelte mit solchen Schällen ver- bindet? *)
Nun lasset dem Menschen alle Sinne frei; er sehe und taste und fühle zugleich alle Wesen, die in sein Ohr reden -- Himmel! Welch ein Lehr- saal der Jdeen und der Sprache! Führet keinen Merkur und Apollo, als Opernmaschinen von den Wolken herunter -- Die ganze, vieltönige gött- liche Natur ist Sprachlehrerinn und Muse! Da führet sie alle Geschöpfe bei ihm vorbei; jedes trägt seinen Namen auf der Zunge, und nennet sich, diesem verhülleten sichtbaren Gotte! als Vasall
und
*)Diderot ist in seinem ganzen Briefe sur les sourds & muets kaum auf diese Hauptmaterie gekommen, da er sich nur bei Jnversionen und hundert andern Kleinig- keiten aufhält.
ſchende Baum Fruͤchte — Jntereſſe gnug, die wohlthaͤtigen Weſen zu kennen, Dringniß gnug, ohne Augen und Zunge in ſeiner Seele ſie zu nen- nen. Der Baum wird der Rauſcher, der Weſt Saͤuſler, die Quelle Rieſler heißen — Da liegt ein kleines Woͤrterbuch fertig, und wartet auf das Gepraͤge der Sprachorgane. Wie arm, und ſon- derbar aber muͤßten die Vorſtellungen ſeyn, die dieſer Verſtuͤmmelte mit ſolchen Schaͤllen ver- bindet? *)
Nun laſſet dem Menſchen alle Sinne frei; er ſehe und taſte und fuͤhle zugleich alle Weſen, die in ſein Ohr reden — Himmel! Welch ein Lehr- ſaal der Jdeen und der Sprache! Fuͤhret keinen Merkur und Apollo, als Opernmaſchinen von den Wolken herunter — Die ganze, vieltoͤnige goͤtt- liche Natur iſt Sprachlehrerinn und Muſe! Da fuͤhret ſie alle Geſchoͤpfe bei ihm vorbei; jedes traͤgt ſeinen Namen auf der Zunge, und nennet ſich, dieſem verhuͤlleten ſichtbaren Gotte! als Vaſall
und
*)Diderot iſt in ſeinem ganzen Briefe ſur les ſourds & muets kaum auf dieſe Hauptmaterie gekommen, da er ſich nur bei Jnverſionen und hundert andern Kleinig- keiten aufhält.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0084"n="78"/>ſchende Baum Fruͤchte — Jntereſſe gnug, die<lb/>
wohlthaͤtigen Weſen zu <hirendition="#fr">kennen,</hi> Dringniß gnug,<lb/>
ohne Augen und Zunge in ſeiner Seele ſie zu <hirendition="#fr">nen-<lb/>
nen.</hi> Der Baum wird der Rauſcher, der Weſt<lb/>
Saͤuſler, die Quelle Rieſler heißen — Da liegt<lb/>
ein kleines Woͤrterbuch fertig, und wartet auf das<lb/>
Gepraͤge der Sprachorgane. Wie arm, und ſon-<lb/>
derbar aber muͤßten die Vorſtellungen ſeyn, die<lb/>
dieſer Verſtuͤmmelte mit ſolchen Schaͤllen ver-<lb/>
bindet? <noteplace="foot"n="*)"><hirendition="#fr">Diderot</hi> iſt in ſeinem ganzen Briefe <hirendition="#aq">ſur les ſourds &<lb/>
muets</hi> kaum auf dieſe Hauptmaterie gekommen, da er<lb/>ſich nur bei Jnverſionen und hundert andern Kleinig-<lb/>
keiten aufhält.</note></p><lb/><p>Nun laſſet dem Menſchen alle Sinne frei; er<lb/>ſehe und taſte und fuͤhle zugleich alle Weſen, die<lb/>
in ſein Ohr reden — Himmel! Welch ein Lehr-<lb/>ſaal der Jdeen und der Sprache! Fuͤhret keinen<lb/>
Merkur und Apollo, als Opernmaſchinen von den<lb/>
Wolken herunter — Die ganze, vieltoͤnige goͤtt-<lb/>
liche Natur iſt Sprachlehrerinn und Muſe! Da<lb/>
fuͤhret ſie alle Geſchoͤpfe bei ihm vorbei; jedes traͤgt<lb/>ſeinen Namen auf der Zunge, und nennet ſich,<lb/>
dieſem verhuͤlleten ſichtbaren Gotte! als Vaſall<lb/><fwplace="bottom"type="catch">und</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[78/0084]
ſchende Baum Fruͤchte — Jntereſſe gnug, die
wohlthaͤtigen Weſen zu kennen, Dringniß gnug,
ohne Augen und Zunge in ſeiner Seele ſie zu nen-
nen. Der Baum wird der Rauſcher, der Weſt
Saͤuſler, die Quelle Rieſler heißen — Da liegt
ein kleines Woͤrterbuch fertig, und wartet auf das
Gepraͤge der Sprachorgane. Wie arm, und ſon-
derbar aber muͤßten die Vorſtellungen ſeyn, die
dieſer Verſtuͤmmelte mit ſolchen Schaͤllen ver-
bindet? *)
Nun laſſet dem Menſchen alle Sinne frei; er
ſehe und taſte und fuͤhle zugleich alle Weſen, die
in ſein Ohr reden — Himmel! Welch ein Lehr-
ſaal der Jdeen und der Sprache! Fuͤhret keinen
Merkur und Apollo, als Opernmaſchinen von den
Wolken herunter — Die ganze, vieltoͤnige goͤtt-
liche Natur iſt Sprachlehrerinn und Muſe! Da
fuͤhret ſie alle Geſchoͤpfe bei ihm vorbei; jedes traͤgt
ſeinen Namen auf der Zunge, und nennet ſich,
dieſem verhuͤlleten ſichtbaren Gotte! als Vaſall
und
*) Diderot iſt in ſeinem ganzen Briefe ſur les ſourds &
muets kaum auf dieſe Hauptmaterie gekommen, da er
ſich nur bei Jnverſionen und hundert andern Kleinig-
keiten aufhält.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/84>, abgerufen am 16.06.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.