Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784.

Bild:
<< vorherige Seite

er, da er schon alles kann, ehe ers lernte, nichts menschliches
lernen. Entweder mußte ihm also die Vernunft, als Jn-
stinkt angebohren werden, welches sogleich als Widerspruch
erhellen wird, oder er mußte, wie es jetzt ist, schwach auf
die Welt kommen, um Vernunft zu lernen.

Von Kindheit auf lernet er diese und wird wie zum
künstlichen Gange, so auch zu ihr, zur Freiheit und menschli-
chen Sprache durch Kunst gebildet. Der Säugling wird
an die Brust der Mutter über ihrem Herzen gelegt: die
Frucht ihres Leibes wird der Zögling ihrer Arme. Seine
feinsten Sinne, Auge und Ohr, erwachen zuerst und werden
durch Gestalten und Töne geleitet; wohl ihm, wenn sie
glücklich geleitet werden. Allmälich entfaltet sich sein Gesicht
und hangt am Auge der Menschen um ihn her, wie sein
Ohr an der Sprache der Menschen hangt und durch ihre
Hülfe die ersten Begriffe unterscheiden lernet. Und so lernt
seine Hand allmälich greifen; nun erst streben seine Glieder
nach eigner Uebung. Er war zuerst ein Lehrling der zwei
feinsten Sinne: denn der künstliche Jnstinkt, der ihm an-
gebildet werden soll, ist Vernunft, Humanität, menschli-
che Lebensweise
, die kein Thier hat und lernet. Auch
die gezähmten Thiere nehmen nur thierisch einiges von Men-
schen an, aber sie werden nicht Menschen.


Hieraus

er, da er ſchon alles kann, ehe ers lernte, nichts menſchliches
lernen. Entweder mußte ihm alſo die Vernunft, als Jn-
ſtinkt angebohren werden, welches ſogleich als Widerſpruch
erhellen wird, oder er mußte, wie es jetzt iſt, ſchwach auf
die Welt kommen, um Vernunft zu lernen.

Von Kindheit auf lernet er dieſe und wird wie zum
kuͤnſtlichen Gange, ſo auch zu ihr, zur Freiheit und menſchli-
chen Sprache durch Kunſt gebildet. Der Saͤugling wird
an die Bruſt der Mutter uͤber ihrem Herzen gelegt: die
Frucht ihres Leibes wird der Zoͤgling ihrer Arme. Seine
feinſten Sinne, Auge und Ohr, erwachen zuerſt und werden
durch Geſtalten und Toͤne geleitet; wohl ihm, wenn ſie
gluͤcklich geleitet werden. Allmaͤlich entfaltet ſich ſein Geſicht
und hangt am Auge der Menſchen um ihn her, wie ſein
Ohr an der Sprache der Menſchen hangt und durch ihre
Huͤlfe die erſten Begriffe unterſcheiden lernet. Und ſo lernt
ſeine Hand allmaͤlich greifen; nun erſt ſtreben ſeine Glieder
nach eigner Uebung. Er war zuerſt ein Lehrling der zwei
feinſten Sinne: denn der kuͤnſtliche Jnſtinkt, der ihm an-
gebildet werden ſoll, iſt Vernunft, Humanitaͤt, menſchli-
che Lebensweiſe
, die kein Thier hat und lernet. Auch
die gezaͤhmten Thiere nehmen nur thieriſch einiges von Men-
ſchen an, aber ſie werden nicht Menſchen.


Hieraus
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0230" n="228[208]"/>
er, da er &#x017F;chon alles kann, ehe ers lernte, nichts men&#x017F;chliches<lb/>
lernen. Entweder mußte ihm al&#x017F;o die Vernunft, als Jn-<lb/>
&#x017F;tinkt angebohren werden, welches &#x017F;ogleich als Wider&#x017F;pruch<lb/>
erhellen wird, oder er mußte, wie es jetzt i&#x017F;t, &#x017F;chwach auf<lb/>
die Welt kommen, um <hi rendition="#fr">Vernunft zu lernen</hi>.</p><lb/>
          <p>Von Kindheit auf lernet er die&#x017F;e und wird wie zum<lb/>
ku&#x0364;n&#x017F;tlichen Gange, &#x017F;o auch zu ihr, zur Freiheit und men&#x017F;chli-<lb/>
chen Sprache durch Kun&#x017F;t gebildet. Der Sa&#x0364;ugling wird<lb/>
an die Bru&#x017F;t der Mutter u&#x0364;ber ihrem Herzen gelegt: die<lb/>
Frucht ihres Leibes wird der Zo&#x0364;gling ihrer Arme. Seine<lb/>
fein&#x017F;ten Sinne, Auge und Ohr, erwachen zuer&#x017F;t und werden<lb/>
durch Ge&#x017F;talten und To&#x0364;ne geleitet; wohl ihm, wenn &#x017F;ie<lb/>
glu&#x0364;cklich geleitet werden. Allma&#x0364;lich entfaltet &#x017F;ich &#x017F;ein Ge&#x017F;icht<lb/>
und hangt am Auge der Men&#x017F;chen um ihn her, wie &#x017F;ein<lb/>
Ohr an der Sprache der Men&#x017F;chen hangt und durch ihre<lb/>
Hu&#x0364;lfe die er&#x017F;ten Begriffe unter&#x017F;cheiden lernet. Und &#x017F;o lernt<lb/>
&#x017F;eine Hand allma&#x0364;lich greifen; nun er&#x017F;t &#x017F;treben &#x017F;eine Glieder<lb/>
nach eigner Uebung. Er war zuer&#x017F;t ein Lehrling der zwei<lb/>
fein&#x017F;ten Sinne: denn der ku&#x0364;n&#x017F;tliche Jn&#x017F;tinkt, der ihm an-<lb/>
gebildet werden &#x017F;oll, i&#x017F;t <hi rendition="#fr">Vernunft, Humanita&#x0364;t, men&#x017F;chli-<lb/>
che Lebenswei&#x017F;e</hi>, die kein Thier hat und lernet. Auch<lb/>
die geza&#x0364;hmten Thiere nehmen nur thieri&#x017F;ch einiges von Men-<lb/>
&#x017F;chen an, aber &#x017F;ie werden nicht Men&#x017F;chen.</p><lb/>
          <fw place="bottom" type="catch">Hieraus</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[228[208]/0230] er, da er ſchon alles kann, ehe ers lernte, nichts menſchliches lernen. Entweder mußte ihm alſo die Vernunft, als Jn- ſtinkt angebohren werden, welches ſogleich als Widerſpruch erhellen wird, oder er mußte, wie es jetzt iſt, ſchwach auf die Welt kommen, um Vernunft zu lernen. Von Kindheit auf lernet er dieſe und wird wie zum kuͤnſtlichen Gange, ſo auch zu ihr, zur Freiheit und menſchli- chen Sprache durch Kunſt gebildet. Der Saͤugling wird an die Bruſt der Mutter uͤber ihrem Herzen gelegt: die Frucht ihres Leibes wird der Zoͤgling ihrer Arme. Seine feinſten Sinne, Auge und Ohr, erwachen zuerſt und werden durch Geſtalten und Toͤne geleitet; wohl ihm, wenn ſie gluͤcklich geleitet werden. Allmaͤlich entfaltet ſich ſein Geſicht und hangt am Auge der Menſchen um ihn her, wie ſein Ohr an der Sprache der Menſchen hangt und durch ihre Huͤlfe die erſten Begriffe unterſcheiden lernet. Und ſo lernt ſeine Hand allmaͤlich greifen; nun erſt ſtreben ſeine Glieder nach eigner Uebung. Er war zuerſt ein Lehrling der zwei feinſten Sinne: denn der kuͤnſtliche Jnſtinkt, der ihm an- gebildet werden ſoll, iſt Vernunft, Humanitaͤt, menſchli- che Lebensweiſe, die kein Thier hat und lernet. Auch die gezaͤhmten Thiere nehmen nur thieriſch einiges von Men- ſchen an, aber ſie werden nicht Menſchen. Hieraus

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/230
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 228[208]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/230>, abgerufen am 01.11.2024.