3. Wenn höhere Geschöpfe also auf uns blicken: so mögen sie uns wie wir die Mittelgattungen betrachten, mit denen die Natur aus Einem Element ins andre übergehet. Der Straus schwingt matt seine Flügel nur zum Lauf, nicht zum Fluge: sein schwerer Körper zieht ihn zum Boden. Jndessen auch für ihn und für jedes Mittelgeschöpf hat die organisirende Mutter gesorget: auch sie sind in sich vollkom- men und scheinen nur unserm Auge unförmlich. So ists auch mit der Menschennatur hienieden: ihr Unförmliches fällt ei- nem Erdengeist schwer auf; ein höherer Geist aber, der in das Jnwendige blickt und schon mehrere Glieder der Kette siehet, die für einander gemacht sind, kann uns zwar bemit- leiden aber nicht verachten. Er siehet, warum Menschen in so vielerlei Zuständen aus der Welt gehen müssen, jung und alt, thöricht und weise, als Greise die zum zweitenmal Kin- der wurden, oder gar als Ungebohrne. Wahnsinn und Misge- stalten, alle Stufen der Cultur, alle Verirrungen der Menschheit umfaßte die allmächtige Güte und hat Balsam gnug in ihren Schätzen, auch die Wunden, die nur der Tod lindern konnte, zu heilen. Da wahrscheinlich der künftige Zustand so aus dem jetzigen hervorsproßt, wie der unsre aus dem Zustande niedrigerer Organisationen: so ist ohne Zweifel auch das Geschäft desselben näher mit unserm jetzigen Daseyn verknüpft, als wir denken. Der höhere Garte blühet nur
durch
3. Wenn hoͤhere Geſchoͤpfe alſo auf uns blicken: ſo moͤgen ſie uns wie wir die Mittelgattungen betrachten, mit denen die Natur aus Einem Element ins andre uͤbergehet. Der Straus ſchwingt matt ſeine Fluͤgel nur zum Lauf, nicht zum Fluge: ſein ſchwerer Koͤrper zieht ihn zum Boden. Jndeſſen auch fuͤr ihn und fuͤr jedes Mittelgeſchoͤpf hat die organiſirende Mutter geſorget: auch ſie ſind in ſich vollkom- men und ſcheinen nur unſerm Auge unfoͤrmlich. So iſts auch mit der Menſchennatur hienieden: ihr Unfoͤrmliches faͤllt ei- nem Erdengeiſt ſchwer auf; ein hoͤherer Geiſt aber, der in das Jnwendige blickt und ſchon mehrere Glieder der Kette ſiehet, die fuͤr einander gemacht ſind, kann uns zwar bemit- leiden aber nicht verachten. Er ſiehet, warum Menſchen in ſo vielerlei Zuſtaͤnden aus der Welt gehen muͤſſen, jung und alt, thoͤricht und weiſe, als Greiſe die zum zweitenmal Kin- der wurden, oder gar als Ungebohrne. Wahnſinn und Misge- ſtalten, alle Stufen der Cultur, alle Verirrungen der Menſchheit umfaßte die allmaͤchtige Guͤte und hat Balſam gnug in ihren Schaͤtzen, auch die Wunden, die nur der Tod lindern konnte, zu heilen. Da wahrſcheinlich der kuͤnftige Zuſtand ſo aus dem jetzigen hervorſproßt, wie der unſre aus dem Zuſtande niedrigerer Organiſationen: ſo iſt ohne Zweifel auch das Geſchaͤft deſſelben naͤher mit unſerm jetzigen Daſeyn verknuͤpft, als wir denken. Der hoͤhere Garte bluͤhet nur
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[312[292]/0314]
3. Wenn hoͤhere Geſchoͤpfe alſo auf uns blicken: ſo
moͤgen ſie uns wie wir die Mittelgattungen betrachten, mit
denen die Natur aus Einem Element ins andre uͤbergehet.
Der Straus ſchwingt matt ſeine Fluͤgel nur zum Lauf, nicht
zum Fluge: ſein ſchwerer Koͤrper zieht ihn zum Boden.
Jndeſſen auch fuͤr ihn und fuͤr jedes Mittelgeſchoͤpf hat die
organiſirende Mutter geſorget: auch ſie ſind in ſich vollkom-
men und ſcheinen nur unſerm Auge unfoͤrmlich. So iſts auch
mit der Menſchennatur hienieden: ihr Unfoͤrmliches faͤllt ei-
nem Erdengeiſt ſchwer auf; ein hoͤherer Geiſt aber, der in
das Jnwendige blickt und ſchon mehrere Glieder der Kette
ſiehet, die fuͤr einander gemacht ſind, kann uns zwar bemit-
leiden aber nicht verachten. Er ſiehet, warum Menſchen in
ſo vielerlei Zuſtaͤnden aus der Welt gehen muͤſſen, jung und
alt, thoͤricht und weiſe, als Greiſe die zum zweitenmal Kin-
der wurden, oder gar als Ungebohrne. Wahnſinn und Misge-
ſtalten, alle Stufen der Cultur, alle Verirrungen der
Menſchheit umfaßte die allmaͤchtige Guͤte und hat Balſam
gnug in ihren Schaͤtzen, auch die Wunden, die nur der Tod
lindern konnte, zu heilen. Da wahrſcheinlich der kuͤnftige
Zuſtand ſo aus dem jetzigen hervorſproßt, wie der unſre aus dem
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 312[292]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/314>, abgerufen am 31.10.2024.
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