ten. Der gewöhnliche Mensch auf dem Gange seines Le- bens wird von Eindrücken entfernt, deren ein einziger den ganzen Kreis seiner Jdeen zerrütten und ihn für diese Welt unbrauchbar machen würde. Kein nachahmender Affe höhe- rer Wesen sollte der zur Freihet erschaffene Mensch seyn: sondern auch wo er geleitet wird, im glücklichen Wahn ste- hen, daß er selbst handle. Zu seiner Beruhigung und zu dem edlen Stolz, auf dem seine Bestimmung liegt, ward ihm der Anblick edlerer Wesen entzogen: denn wahrschein- lich würden wir uns selbst verachten, wenn wir diese kennten. Der Mensch also soll in seinen künftigen Zustand nicht hin- einschauen, sondern sich hineinglauben.
5. So viel ist gewiß, daß in jeder seiner Kräfte eine Unendlichkeit liegt, die hier nur nicht entwickelt werden kann, weil sie von andern Kräften, von Sinnen und Trieben des Thiers unterdrückt wird und zum Verhältniß des Erdelebens gleichsam in Banden lieget. Einzelne Beispiele des Ge- dächtnisses, der Einbildungskraft, ja gar der Vorhersagung und Ahnung haben Wunderdinge entdeckt, von dem ver- borgenen Schatz, der in menschlichen Seelen ruhet; ja sogar die Sinne sind davon nicht ausgeschlossen. Daß meistens Krankheiten und gegenseitige Mängel diese Schätze zeigten, ändert in der Natur der Sache nichts, da eben diese Dispro-
portion
ten. Der gewoͤhnliche Menſch auf dem Gange ſeines Le- bens wird von Eindruͤcken entfernt, deren ein einziger den ganzen Kreis ſeiner Jdeen zerruͤtten und ihn fuͤr dieſe Welt unbrauchbar machen wuͤrde. Kein nachahmender Affe hoͤhe- rer Weſen ſollte der zur Freihet erſchaffene Menſch ſeyn: ſondern auch wo er geleitet wird, im gluͤcklichen Wahn ſte- hen, daß er ſelbſt handle. Zu ſeiner Beruhigung und zu dem edlen Stolz, auf dem ſeine Beſtimmung liegt, ward ihm der Anblick edlerer Weſen entzogen: denn wahrſchein- lich wuͤrden wir uns ſelbſt verachten, wenn wir dieſe kennten. Der Menſch alſo ſoll in ſeinen kuͤnftigen Zuſtand nicht hin- einſchauen, ſondern ſich hineinglauben.
5. So viel iſt gewiß, daß in jeder ſeiner Kraͤfte eine Unendlichkeit liegt, die hier nur nicht entwickelt werden kann, weil ſie von andern Kraͤften, von Sinnen und Trieben des Thiers unterdruͤckt wird und zum Verhaͤltniß des Erdelebens gleichſam in Banden lieget. Einzelne Beiſpiele des Ge- daͤchtniſſes, der Einbildungskraft, ja gar der Vorherſagung und Ahnung haben Wunderdinge entdeckt, von dem ver- borgenen Schatz, der in menſchlichen Seelen ruhet; ja ſogar die Sinne ſind davon nicht ausgeſchloſſen. Daß meiſtens Krankheiten und gegenſeitige Maͤngel dieſe Schaͤtze zeigten, aͤndert in der Natur der Sache nichts, da eben dieſe Diſpro-
portion
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0317"n="315[295]"/>
ten. Der gewoͤhnliche Menſch auf dem Gange ſeines Le-<lb/>
bens wird von Eindruͤcken entfernt, deren ein einziger den<lb/>
ganzen Kreis ſeiner Jdeen zerruͤtten und ihn fuͤr dieſe Welt<lb/>
unbrauchbar machen wuͤrde. Kein nachahmender Affe hoͤhe-<lb/>
rer Weſen ſollte der zur Freihet erſchaffene Menſch ſeyn:<lb/>ſondern auch wo er geleitet wird, im gluͤcklichen Wahn ſte-<lb/>
hen, daß er ſelbſt handle. Zu ſeiner Beruhigung und zu<lb/>
dem edlen Stolz, auf dem ſeine Beſtimmung liegt, ward<lb/>
ihm der Anblick edlerer Weſen entzogen: denn wahrſchein-<lb/>
lich wuͤrden wir uns ſelbſt verachten, wenn wir dieſe kennten.<lb/>
Der Menſch alſo ſoll in ſeinen kuͤnftigen Zuſtand nicht hin-<lb/>
einſchauen, ſondern ſich hineinglauben.</p><lb/><p>5. So viel iſt gewiß, daß in jeder ſeiner Kraͤfte eine<lb/>
Unendlichkeit liegt, die hier nur nicht entwickelt werden kann,<lb/>
weil ſie von andern Kraͤften, von Sinnen und Trieben des<lb/>
Thiers unterdruͤckt wird und zum Verhaͤltniß des Erdelebens<lb/>
gleichſam in Banden lieget. Einzelne Beiſpiele des Ge-<lb/>
daͤchtniſſes, der Einbildungskraft, ja gar der Vorherſagung<lb/>
und Ahnung haben Wunderdinge entdeckt, von dem ver-<lb/>
borgenen Schatz, der in menſchlichen Seelen ruhet; ja ſogar<lb/>
die Sinne ſind davon nicht ausgeſchloſſen. Daß meiſtens<lb/>
Krankheiten und gegenſeitige Maͤngel dieſe Schaͤtze zeigten,<lb/>
aͤndert in der Natur der Sache nichts, da eben dieſe Diſpro-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">portion</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[315[295]/0317]
ten. Der gewoͤhnliche Menſch auf dem Gange ſeines Le-
bens wird von Eindruͤcken entfernt, deren ein einziger den
ganzen Kreis ſeiner Jdeen zerruͤtten und ihn fuͤr dieſe Welt
unbrauchbar machen wuͤrde. Kein nachahmender Affe hoͤhe-
rer Weſen ſollte der zur Freihet erſchaffene Menſch ſeyn:
ſondern auch wo er geleitet wird, im gluͤcklichen Wahn ſte-
hen, daß er ſelbſt handle. Zu ſeiner Beruhigung und zu
dem edlen Stolz, auf dem ſeine Beſtimmung liegt, ward
ihm der Anblick edlerer Weſen entzogen: denn wahrſchein-
lich wuͤrden wir uns ſelbſt verachten, wenn wir dieſe kennten.
Der Menſch alſo ſoll in ſeinen kuͤnftigen Zuſtand nicht hin-
einſchauen, ſondern ſich hineinglauben.
5. So viel iſt gewiß, daß in jeder ſeiner Kraͤfte eine
Unendlichkeit liegt, die hier nur nicht entwickelt werden kann,
weil ſie von andern Kraͤften, von Sinnen und Trieben des
Thiers unterdruͤckt wird und zum Verhaͤltniß des Erdelebens
gleichſam in Banden lieget. Einzelne Beiſpiele des Ge-
daͤchtniſſes, der Einbildungskraft, ja gar der Vorherſagung
und Ahnung haben Wunderdinge entdeckt, von dem ver-
borgenen Schatz, der in menſchlichen Seelen ruhet; ja ſogar
die Sinne ſind davon nicht ausgeſchloſſen. Daß meiſtens
Krankheiten und gegenſeitige Maͤngel dieſe Schaͤtze zeigten,
aͤndert in der Natur der Sache nichts, da eben dieſe Diſpro-
portion
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 315[295]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/317>, abgerufen am 31.10.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.