Verschiedenheit ist unser kunstreiche Bau fähig! Seine ve- sten Theile lösen sich in so feine, vielfach verschlungene Fi- bern auf, daß sie kein Auge verfolgen mag: diese werden von einem Leim gebunden, dessen zarte Mischung aller be- rechnenden Kunst entweichet; und noch sind diese Theile das wenigste, was wir an uns haben; sie sind nichts als Gefäs- se, Hüllen und Träger des in viel größerer Menge vorhan- denen vielartigen, vielbegeisterten Safts, durch den wir ge- nießen und leben. "Kein Mensch, sagt Hallera), ist im innern Bau dem andern ganz ähnlich: er unterscheidet sich im Lauf seiner Nerven und Adern in Millionen von Millionen Fäl- len, daß man fast nicht im Stande ist, aus den Verschiedenheiten dieser feinen Theile das auszufinden, worinn sie übereinkom- men." Findet nun schon das Auge des Zergliederers diese zahllose Verschiedenheit; welche größere muß in den unsicht- baren Kräften einer so künstlichen Organisation wohnen! so daß jeder Mensch zuletzt eine Welt wird, zwar eine ähnliche Erscheinung von aussen; im Jnnern aber ein eignes Wesen, mit jedem andern unausmeßbar.
Und da der Mensch keine unabhängige Substanz ist, sondern mit allen Elementen der Natur in Verbindung ste- het; er lebt vom Hauch der Luft, wie von den verschieden- sten Kindern der Erde, den Speisen und Getränken: er
verar-
a) Vorrede zu Buffons Allgem. Nat. Gesch. Th. 3.
Verſchiedenheit iſt unſer kunſtreiche Bau faͤhig! Seine ve- ſten Theile loͤſen ſich in ſo feine, vielfach verſchlungene Fi- bern auf, daß ſie kein Auge verfolgen mag: dieſe werden von einem Leim gebunden, deſſen zarte Miſchung aller be- rechnenden Kunſt entweichet; und noch ſind dieſe Theile das wenigſte, was wir an uns haben; ſie ſind nichts als Gefaͤſ- ſe, Huͤllen und Traͤger des in viel groͤßerer Menge vorhan- denen vielartigen, vielbegeiſterten Safts, durch den wir ge- nießen und leben. „Kein Menſch, ſagt Hallera), iſt im innern Bau dem andern ganz aͤhnlich: er unterſcheidet ſich im Lauf ſeiner Nerven und Adern in Millionen von Millionen Faͤl- len, daß man faſt nicht im Stande iſt, aus den Verſchiedenheiten dieſer feinen Theile das auszufinden, worinn ſie uͤbereinkom- men.“ Findet nun ſchon das Auge des Zergliederers dieſe zahlloſe Verſchiedenheit; welche groͤßere muß in den unſicht- baren Kraͤften einer ſo kuͤnſtlichen Organiſation wohnen! ſo daß jeder Menſch zuletzt eine Welt wird, zwar eine aͤhnliche Erſcheinung von auſſen; im Jnnern aber ein eignes Weſen, mit jedem andern unausmeßbar.
Und da der Menſch keine unabhaͤngige Subſtanz iſt, ſondern mit allen Elementen der Natur in Verbindung ſte- het; er lebt vom Hauch der Luft, wie von den verſchieden- ſten Kindern der Erde, den Speiſen und Getraͤnken: er
verar-
a) Vorrede zu Buffons Allgem. Nat. Geſch. Th. 3.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0086"n="74"/>
Verſchiedenheit iſt unſer kunſtreiche Bau faͤhig! Seine ve-<lb/>ſten Theile loͤſen ſich in ſo feine, vielfach verſchlungene Fi-<lb/>
bern auf, daß ſie kein Auge verfolgen mag: dieſe werden<lb/>
von einem Leim gebunden, deſſen zarte Miſchung aller be-<lb/>
rechnenden Kunſt entweichet; und noch ſind dieſe Theile das<lb/>
wenigſte, was wir an uns haben; ſie ſind nichts als Gefaͤſ-<lb/>ſe, Huͤllen und Traͤger des in viel groͤßerer Menge vorhan-<lb/>
denen vielartigen, vielbegeiſterten Safts, durch den wir ge-<lb/>
nießen und leben. „Kein Menſch, ſagt <hirendition="#fr">Haller</hi><noteplace="foot"n="a)">Vorrede zu Buffons Allgem. Nat. Geſch. Th. 3.</note>, iſt im<lb/>
innern Bau dem andern ganz aͤhnlich: er unterſcheidet ſich im<lb/>
Lauf ſeiner Nerven und Adern in Millionen von Millionen Faͤl-<lb/>
len, daß man faſt nicht im Stande iſt, aus den Verſchiedenheiten<lb/>
dieſer feinen Theile das auszufinden, worinn ſie uͤbereinkom-<lb/>
men.“ Findet nun ſchon das Auge des Zergliederers dieſe<lb/>
zahlloſe Verſchiedenheit; welche groͤßere muß in den unſicht-<lb/>
baren Kraͤften einer ſo kuͤnſtlichen Organiſation wohnen! ſo<lb/>
daß jeder Menſch zuletzt eine Welt wird, zwar eine aͤhnliche<lb/>
Erſcheinung von auſſen; im Jnnern aber ein eignes Weſen,<lb/>
mit jedem andern unausmeßbar.</p><lb/><p>Und da der Menſch keine unabhaͤngige Subſtanz iſt,<lb/>ſondern mit allen Elementen der Natur in Verbindung ſte-<lb/>
het; er lebt vom Hauch der Luft, wie von den verſchieden-<lb/>ſten Kindern der Erde, den Speiſen und Getraͤnken: er<lb/><fwplace="bottom"type="catch">verar-</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[74/0086]
Verſchiedenheit iſt unſer kunſtreiche Bau faͤhig! Seine ve-
ſten Theile loͤſen ſich in ſo feine, vielfach verſchlungene Fi-
bern auf, daß ſie kein Auge verfolgen mag: dieſe werden
von einem Leim gebunden, deſſen zarte Miſchung aller be-
rechnenden Kunſt entweichet; und noch ſind dieſe Theile das
wenigſte, was wir an uns haben; ſie ſind nichts als Gefaͤſ-
ſe, Huͤllen und Traͤger des in viel groͤßerer Menge vorhan-
denen vielartigen, vielbegeiſterten Safts, durch den wir ge-
nießen und leben. „Kein Menſch, ſagt Haller a), iſt im
innern Bau dem andern ganz aͤhnlich: er unterſcheidet ſich im
Lauf ſeiner Nerven und Adern in Millionen von Millionen Faͤl-
len, daß man faſt nicht im Stande iſt, aus den Verſchiedenheiten
dieſer feinen Theile das auszufinden, worinn ſie uͤbereinkom-
men.“ Findet nun ſchon das Auge des Zergliederers dieſe
zahlloſe Verſchiedenheit; welche groͤßere muß in den unſicht-
baren Kraͤften einer ſo kuͤnſtlichen Organiſation wohnen! ſo
daß jeder Menſch zuletzt eine Welt wird, zwar eine aͤhnliche
Erſcheinung von auſſen; im Jnnern aber ein eignes Weſen,
mit jedem andern unausmeßbar.
Und da der Menſch keine unabhaͤngige Subſtanz iſt,
ſondern mit allen Elementen der Natur in Verbindung ſte-
het; er lebt vom Hauch der Luft, wie von den verſchieden-
ſten Kindern der Erde, den Speiſen und Getraͤnken: er
verar-
a) Vorrede zu Buffons Allgem. Nat. Geſch. Th. 3.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/86>, abgerufen am 17.06.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.