mehr Jnversionen; je mehr sie zur todten Bü- chersprache zurückgesezzt ist; desto mindere. Alles beweiset die Französische Sprache: Diderot klagt, daß ihr die Grammatiker der mittlern Zeiten, die ihre Sprachkunst gebildet, Fesseln angelegt, unter denen sie auch wirklich noch jetzt seufzet. Wegen dieses einförmigen Ganges mag es vielleicht seyn, daß man sie eine Sprache der Vernunft nennet; daß sie eine so schöne Büchersprache zum Lesen ist. Aber für das Poetische Genie ist diese Spra- che der Vernunft ein Fluch, und diese schöne Büchersprache hat, um im Reden nicht zu schleppen, den flüchtigen und ungewissen Tritt annehmen müssen, der für die hohe Deklama- tion diese galante Sprache Nervenlos macht. Wenn es von unsern jetzigen Sprachen gilt, "daß wir eine Menge besonderer Zwecke gar "nicht durch die Wortfügung anzuzeigen ver- "mögend sind: sondern sie nur müssen aus "dem Zusammenhange errathen lassen:" * so ist diese Unvollkommenheit gewiß vorzüglich bei der Französischen Sprache.
Aber
* Litter. Br. Th. 17. p. 186.
mehr Jnverſionen; je mehr ſie zur todten Buͤ- cherſprache zuruͤckgeſezzt iſt; deſto mindere. Alles beweiſet die Franzoͤſiſche Sprache: Diderot klagt, daß ihr die Grammatiker der mittlern Zeiten, die ihre Sprachkunſt gebildet, Feſſeln angelegt, unter denen ſie auch wirklich noch jetzt ſeufzet. Wegen dieſes einfoͤrmigen Ganges mag es vielleicht ſeyn, daß man ſie eine Sprache der Vernunft nennet; daß ſie eine ſo ſchoͤne Buͤcherſprache zum Leſen iſt. Aber fuͤr das Poetiſche Genie iſt dieſe Spra- che der Vernunft ein Fluch, und dieſe ſchoͤne Buͤcherſprache hat, um im Reden nicht zu ſchleppen, den fluͤchtigen und ungewiſſen Tritt annehmen muͤſſen, der fuͤr die hohe Deklama- tion dieſe galante Sprache Nervenlos macht. Wenn es von unſern jetzigen Sprachen gilt, „daß wir eine Menge beſonderer Zwecke gar „nicht durch die Wortfuͤgung anzuzeigen ver- „moͤgend ſind: ſondern ſie nur muͤſſen aus „dem Zuſammenhange errathen laſſen:„ * ſo iſt dieſe Unvollkommenheit gewiß vorzuͤglich bei der Franzoͤſiſchen Sprache.
Aber
* Litter. Br. Th. 17. p. 186.
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mehr Jnverſionen; je mehr ſie zur todten Buͤ-
cherſprache zuruͤckgeſezzt iſt; deſto mindere.
Alles beweiſet die Franzoͤſiſche Sprache:
Diderot klagt, daß ihr die Grammatiker der
mittlern Zeiten, die ihre Sprachkunſt gebildet,
Feſſeln angelegt, unter denen ſie auch wirklich
noch jetzt ſeufzet. Wegen dieſes einfoͤrmigen
Ganges mag es vielleicht ſeyn, daß man ſie
eine Sprache der Vernunft nennet; daß ſie
eine ſo ſchoͤne Buͤcherſprache zum Leſen iſt.
Aber fuͤr das Poetiſche Genie iſt dieſe Spra-
che der Vernunft ein Fluch, und dieſe ſchoͤne
Buͤcherſprache hat, um im Reden nicht zu
ſchleppen, den fluͤchtigen und ungewiſſen Tritt
annehmen muͤſſen, der fuͤr die hohe Deklama-
tion dieſe galante Sprache Nervenlos macht.
Wenn es von unſern jetzigen Sprachen gilt,
„daß wir eine Menge beſonderer Zwecke gar
„nicht durch die Wortfuͤgung anzuzeigen ver-
„moͤgend ſind: ſondern ſie nur muͤſſen aus
„dem Zuſammenhange errathen laſſen:„ * ſo
iſt dieſe Unvollkommenheit gewiß vorzuͤglich
bei der Franzoͤſiſchen Sprache.
Aber
* Litter. Br. Th. 17. p. 186.
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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 1. Riga, 1767, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur01_1767/106>, abgerufen am 14.06.2024.
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