"Zeiten fuhr die Demonstrirsucht in die seich- "ten Köpfe, bis sie träumten, sie wären Me- "taphysiker; jetzt führet sie der Schwindel- "geist der Empfindungen so lange im Zirkel "herum, bis sie hinfallen, und sich begeistert "glauben. Aber es gilt hier, was die Alten "von ihren Begeisterten zu sagen pflegten: "[fremdsprachliches Material - Zeichen fehlt]isi gar de narthekophoroi polloi, bak- "khoi de ge pauroi, welches Plato schon "zu seiner Zeit auch auf die Weltweisen an- "gewendet haben wollte *." Und noch eher auf unsre Zeit, da selbst unter den Deutschen ihre Mutter, die Philosophie, so fremde gewor- den, daß man höchstens einige akademische Thyrsusträger sieht, die sich Bacchus zu seyn glauben. Sie lernen Worte und glau- ben: "mit ihnen haben sie Gedanken."
Gnug! in der Weltweisheit Ausdruck statt Gedanken nehmen, ist verderblich; den Gedanken blos im Vehikulum des Aus- drucks verschlingen, ist unnützlich; aber Be- griffe aus den gegebenen Worten entwickeln, und deutlich machen: das ist Philosophie. -- Nun sollte ich mein Fragment mit den wah-
ren
* Litt. Br. Th. 13. p. 18.
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„Zeiten fuhr die Demonſtrirſucht in die ſeich- „ten Koͤpfe, bis ſie traͤumten, ſie waͤren Me- „taphyſiker; jetzt fuͤhret ſie der Schwindel- „geiſt der Empfindungen ſo lange im Zirkel „herum, bis ſie hinfallen, und ſich begeiſtert „glauben. Aber es gilt hier, was die Alten „von ihren Begeiſterten zu ſagen pflegten: „[fremdsprachliches Material – Zeichen fehlt]ισι γαρ δη ναρϑηκοφοροι πολλοι, βακ- „χοι δε γε παυροι, welches Plato ſchon „zu ſeiner Zeit auch auf die Weltweiſen an- „gewendet haben wollte *.„ Und noch eher auf unſre Zeit, da ſelbſt unter den Deutſchen ihre Mutter, die Philoſophie, ſo fremde gewor- den, daß man hoͤchſtens einige akademiſche Thyrſustraͤger ſieht, die ſich Bacchus zu ſeyn glauben. Sie lernen Worte und glau- ben: „mit ihnen haben ſie Gedanken.„
Gnug! in der Weltweisheit Ausdruck ſtatt Gedanken nehmen, iſt verderblich; den Gedanken blos im Vehikulum des Aus- drucks verſchlingen, iſt unnuͤtzlich; aber Be- griffe aus den gegebenen Worten entwickeln, und deutlich machen: das iſt Philoſophie. — Nun ſollte ich mein Fragment mit den wah-
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* Litt. Br. Th. 13. p. 18.
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„Zeiten fuhr die Demonſtrirſucht in die ſeich-
„ten Koͤpfe, bis ſie traͤumten, ſie waͤren Me-
„taphyſiker; jetzt fuͤhret ſie der Schwindel-
„geiſt der Empfindungen ſo lange im Zirkel
„herum, bis ſie hinfallen, und ſich begeiſtert
„glauben. Aber es gilt hier, was die Alten
„von ihren Begeiſterten zu ſagen pflegten:
„_ ισι γαρ δη ναρϑηκοφοροι πολλοι, βακ-
„χοι δε γε παυροι, welches Plato ſchon
„zu ſeiner Zeit auch auf die Weltweiſen an-
„gewendet haben wollte *.„ Und noch eher
auf unſre Zeit, da ſelbſt unter den Deutſchen
ihre Mutter, die Philoſophie, ſo fremde gewor-
den, daß man hoͤchſtens einige akademiſche
Thyrſustraͤger ſieht, die ſich Bacchus zu
ſeyn glauben. Sie lernen Worte und glau-
ben: „mit ihnen haben ſie Gedanken.„
Gnug! in der Weltweisheit Ausdruck
ſtatt Gedanken nehmen, iſt verderblich; den
Gedanken blos im Vehikulum des Aus-
drucks verſchlingen, iſt unnuͤtzlich; aber Be-
griffe aus den gegebenen Worten entwickeln,
und deutlich machen: das iſt Philoſophie. —
Nun ſollte ich mein Fragment mit den wah-
ren
* Litt. Br. Th. 13. p. 18.
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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/123>, abgerufen am 17.06.2024.
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