Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Hering, Ewald: Zur Lehre vom Lichtsinne. Zweiter, unveränderter Abdruck. Wien, 1878.

Bild:
<< vorherige Seite

Damit das zunächst in neutraler Stimmung gedachte Seh-
organ ein gemischtes Licht als farblos empfinde, ist nöthig, daß
dieses Licht sowohl für die rothgrüne als für die blaugelbe Sub-
stanz ein annähernd gleich großes Assimilirungs- wie Dissimi-
lirungsmoment setze, wobei ich das Moment dem Product aus
Reiz und Erregbarkeit gleichsetze.

Solches gemischtes Licht nun, welches dem neutral ge-
stimmten Sehorgane farblos erscheint, will ich objectiv farb-
los
oder kurz farbloses Licht nennen.

Eben dasselbe Licht aber wird z. B. grünlich erscheinen
können, wenn die rothgrüne Substanz nicht mehr neutral ge-
stimmt, sondern ihre grüne Erregbarkeit größer ist als die rothe.
Denn in Folge dessen würden Assimilirungs- und Dissimilirungs-
moment nicht mehr gleich groß sein, und ein kleines Moment,
welches gleich der Differenz beider Momente ist, wird nun zu
Gunsten des Grün zur Wirkung kommen.

Wenn irgend ein Theil des zuvor neutral gestimmten Seh-
organs durch farbig erscheinendes Licht nicht übermäßig gereizt
wird, so wird die Stimmung dieses Theiles immer derart ge-
ändert, daß die Erregbarkeit für die eben empfundene Farbe
abnimmt und nach Schluß der Reizung kleiner ist, als die Er-
regbarkeit für die Gegenfarbe. Jedes gemischte Licht, welches
vorher farblos empfunden worden wäre, wird jetzt mit einer
Beimischung dieser Gegenfarbe, oder, wenn zuvor ein Gemisch
zweier Grundfarben gesehen wurde, mit einer Beimischung beider
Gegenfarben gesehen. Hiebei aber ist keineswegs nöthig, daß
diese beiden subjectiven Gegenfarben jetzt in demselben Verhält-
nisse gemischt erscheinen, wie in der zuvor gesehenen Misch-
farbe die beiden objectiven Farben. Denn jenes Verhältniß der
subjectiven Gegenfarben hängt ganz von den eingetretenen Er-
regbarkeitsänderungen der beiden farbigen Substanzen ab, welche
nur zufällig genau in einem solchen Verhältnisse stattfinden
könnten, daß die subjectiven Gegenfarben wieder dasselbe Mi-
schungsverhältniß hätten.

Schon aus diesem Grunde ist die Farbe, welche das objective Weiß
und Grau im successiven Contraste zu einer zuvor gesehenen Farbe an-
nimmt, nicht immer genau das, was man die Complementärfarbe der
letzteren zu nennen pflegt. Größere Abweichungen treten nothwendig dann

Damit das zunächst in neutraler Stimmung gedachte Seh-
organ ein gemischtes Licht als farblos empfinde, ist nöthig, daß
dieses Licht sowohl für die rothgrüne als für die blaugelbe Sub-
stanz ein annähernd gleich großes Assimilirungs- wie Dissimi-
lirungsmoment setze, wobei ich das Moment dem Product aus
Reiz und Erregbarkeit gleichsetze.

Solches gemischtes Licht nun, welches dem neutral ge-
stimmten Sehorgane farblos erscheint, will ich objectiv farb-
los
oder kurz farbloses Licht nennen.

Eben dasselbe Licht aber wird z. B. grünlich erscheinen
können, wenn die rothgrüne Substanz nicht mehr neutral ge-
stimmt, sondern ihre grüne Erregbarkeit größer ist als die rothe.
Denn in Folge dessen würden Assimilirungs- und Dissimilirungs-
moment nicht mehr gleich groß sein, und ein kleines Moment,
welches gleich der Differenz beider Momente ist, wird nun zu
Gunsten des Grün zur Wirkung kommen.

Wenn irgend ein Theil des zuvor neutral gestimmten Seh-
organs durch farbig erscheinendes Licht nicht übermäßig gereizt
wird, so wird die Stimmung dieses Theiles immer derart ge-
ändert, daß die Erregbarkeit für die eben empfundene Farbe
abnimmt und nach Schluß der Reizung kleiner ist, als die Er-
regbarkeit für die Gegenfarbe. Jedes gemischte Licht, welches
vorher farblos empfunden worden wäre, wird jetzt mit einer
Beimischung dieser Gegenfarbe, oder, wenn zuvor ein Gemisch
zweier Grundfarben gesehen wurde, mit einer Beimischung beider
Gegenfarben gesehen. Hiebei aber ist keineswegs nöthig, daß
diese beiden subjectiven Gegenfarben jetzt in demselben Verhält-
nisse gemischt erscheinen, wie in der zuvor gesehenen Misch-
farbe die beiden objectiven Farben. Denn jenes Verhältniß der
subjectiven Gegenfarben hängt ganz von den eingetretenen Er-
regbarkeitsänderungen der beiden farbigen Substanzen ab, welche
nur zufällig genau in einem solchen Verhältnisse stattfinden
könnten, daß die subjectiven Gegenfarben wieder dasselbe Mi-
schungsverhältniß hätten.

Schon aus diesem Grunde ist die Farbe, welche das objective Weiß
und Grau im successiven Contraste zu einer zuvor gesehenen Farbe an-
nimmt, nicht immer genau das, was man die Complementärfarbe der
letzteren zu nennen pflegt. Größere Abweichungen treten nothwendig dann

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0135" n="127"/>
          <p>Damit das zunächst in neutraler Stimmung gedachte Seh-<lb/>
organ ein gemischtes Licht als farblos empfinde, ist nöthig, daß<lb/>
dieses Licht sowohl für die rothgrüne als für die blaugelbe Sub-<lb/>
stanz ein annähernd gleich großes Assimilirungs- wie Dissimi-<lb/>
lirungsmoment setze, wobei ich das Moment dem Product aus<lb/>
Reiz und Erregbarkeit gleichsetze.</p><lb/>
          <p>Solches gemischtes Licht nun, welches dem neutral ge-<lb/>
stimmten Sehorgane farblos erscheint, will ich <hi rendition="#g">objectiv farb-<lb/>
los</hi> oder kurz <hi rendition="#g">farbloses Licht</hi> nennen.</p><lb/>
          <p>Eben dasselbe Licht aber wird z. B. grünlich erscheinen<lb/>
können, wenn die rothgrüne Substanz nicht mehr neutral ge-<lb/>
stimmt, sondern ihre grüne Erregbarkeit größer ist als die rothe.<lb/>
Denn in Folge dessen würden Assimilirungs- und Dissimilirungs-<lb/>
moment nicht mehr gleich groß sein, und ein kleines Moment,<lb/>
welches gleich der Differenz beider Momente ist, wird nun zu<lb/>
Gunsten des Grün zur Wirkung kommen.</p><lb/>
          <p>Wenn irgend ein Theil des zuvor neutral gestimmten Seh-<lb/>
organs durch farbig erscheinendes Licht nicht übermäßig gereizt<lb/>
wird, so wird die Stimmung dieses Theiles immer derart ge-<lb/>
ändert, daß die Erregbarkeit für die eben empfundene Farbe<lb/>
abnimmt und nach Schluß der Reizung kleiner ist, als die Er-<lb/>
regbarkeit für die Gegenfarbe. Jedes gemischte Licht, welches<lb/>
vorher farblos empfunden worden wäre, wird jetzt mit einer<lb/>
Beimischung dieser Gegenfarbe, oder, wenn zuvor ein Gemisch<lb/>
zweier Grundfarben gesehen wurde, mit einer Beimischung beider<lb/>
Gegenfarben gesehen. Hiebei aber ist keineswegs nöthig, daß<lb/>
diese beiden subjectiven Gegenfarben jetzt in demselben Verhält-<lb/>
nisse gemischt erscheinen, wie in der zuvor gesehenen Misch-<lb/>
farbe die beiden objectiven Farben. Denn jenes Verhältniß der<lb/>
subjectiven Gegenfarben hängt ganz von den eingetretenen Er-<lb/>
regbarkeitsänderungen der beiden farbigen Substanzen ab, welche<lb/>
nur zufällig genau in einem solchen Verhältnisse stattfinden<lb/>
könnten, daß die subjectiven Gegenfarben wieder dasselbe Mi-<lb/>
schungsverhältniß hätten.</p><lb/>
          <p>Schon aus diesem Grunde ist die Farbe, welche das objective Weiß<lb/>
und Grau im successiven Contraste zu einer zuvor gesehenen Farbe an-<lb/>
nimmt, nicht immer genau das, was man die Complementärfarbe der<lb/>
letzteren zu nennen pflegt. Größere Abweichungen treten nothwendig dann<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[127/0135] Damit das zunächst in neutraler Stimmung gedachte Seh- organ ein gemischtes Licht als farblos empfinde, ist nöthig, daß dieses Licht sowohl für die rothgrüne als für die blaugelbe Sub- stanz ein annähernd gleich großes Assimilirungs- wie Dissimi- lirungsmoment setze, wobei ich das Moment dem Product aus Reiz und Erregbarkeit gleichsetze. Solches gemischtes Licht nun, welches dem neutral ge- stimmten Sehorgane farblos erscheint, will ich objectiv farb- los oder kurz farbloses Licht nennen. Eben dasselbe Licht aber wird z. B. grünlich erscheinen können, wenn die rothgrüne Substanz nicht mehr neutral ge- stimmt, sondern ihre grüne Erregbarkeit größer ist als die rothe. Denn in Folge dessen würden Assimilirungs- und Dissimilirungs- moment nicht mehr gleich groß sein, und ein kleines Moment, welches gleich der Differenz beider Momente ist, wird nun zu Gunsten des Grün zur Wirkung kommen. Wenn irgend ein Theil des zuvor neutral gestimmten Seh- organs durch farbig erscheinendes Licht nicht übermäßig gereizt wird, so wird die Stimmung dieses Theiles immer derart ge- ändert, daß die Erregbarkeit für die eben empfundene Farbe abnimmt und nach Schluß der Reizung kleiner ist, als die Er- regbarkeit für die Gegenfarbe. Jedes gemischte Licht, welches vorher farblos empfunden worden wäre, wird jetzt mit einer Beimischung dieser Gegenfarbe, oder, wenn zuvor ein Gemisch zweier Grundfarben gesehen wurde, mit einer Beimischung beider Gegenfarben gesehen. Hiebei aber ist keineswegs nöthig, daß diese beiden subjectiven Gegenfarben jetzt in demselben Verhält- nisse gemischt erscheinen, wie in der zuvor gesehenen Misch- farbe die beiden objectiven Farben. Denn jenes Verhältniß der subjectiven Gegenfarben hängt ganz von den eingetretenen Er- regbarkeitsänderungen der beiden farbigen Substanzen ab, welche nur zufällig genau in einem solchen Verhältnisse stattfinden könnten, daß die subjectiven Gegenfarben wieder dasselbe Mi- schungsverhältniß hätten. Schon aus diesem Grunde ist die Farbe, welche das objective Weiß und Grau im successiven Contraste zu einer zuvor gesehenen Farbe an- nimmt, nicht immer genau das, was man die Complementärfarbe der letzteren zu nennen pflegt. Größere Abweichungen treten nothwendig dann

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Aus pragmatischen Gründen wurde für das DTA die z… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/hering_lichtsinn_1878
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/hering_lichtsinn_1878/135
Zitationshilfe: Hering, Ewald: Zur Lehre vom Lichtsinne. Zweiter, unveränderter Abdruck. Wien, 1878, S. 127. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hering_lichtsinn_1878/135>, abgerufen am 01.11.2024.