dem Horeda und dem Paruasi mit dem üppigsten Pflan- zenwuchse bedeckt ist, konnte er der Lust nicht widerstehen, große botanische Exkursionen zu machen, und wurde den Tag über mehrere Male durchnäßt. Im Hause des Missionärs wurde für alle unsere Bedürfnisse zuvorkommend gesorgt; man verschaffte uns Maismehl, sogar Milch. Die Kühe geben in den Niederungen der heißen Zone reichlich Milch, und es fehlt nirgends daran, wo es gute Weiden gibt. Ich erwähne dies ausdrücklich, weil infolge örtlicher Verhältnisse im Indi- schen Archipelagus das Vorurteil verbreitet ist, als ob ein heißes Klima auf die Milchabsonderung ungünstig wirkte. Es begreift sich, daß die Eingeborenen des neuen Kontinents sich aus der Milch nicht viel machen, da das Land ursprünglich keine Tiere hatte, welche Milch geben; aber billig wundert man sich, daß die ungeheure chinesische Bevölkerung, die doch großen- teils außerhalb der Tropen unter denselben Breiten wie die nomadischen Stämme in Centralasien lebt, ebenso gleichgültig ist. Wenn die Chinesen einmal ein Hirtenvolk waren, wie geht es zu, daß sie Sitten und einem Geschmack, die ihrem früheren Zustande so ganz angemessen sind, ungetreu gewor- den? Diese Fragen scheinen mir von großer Bedeutung so- wohl für die Geschichte der Völker von Ostasien als hinsicht- lich der alten Verbindungen, die, wie man glaubt, zwischen diesem Weltteil und dem nördlichen Mexiko stattgefunden haben können.
Wir fuhren in zwei Tagen den Orinoko von Carichana zur Mission Uruana hinab, nachdem wir wieder durch den vielberufenen Engpaß beim Baraguan gegangen. Wir hielten öfters an, um die Geschwindigkeit des Stromes und seine Temperatur an der Oberfläche zu messen. Letztere betrug 27° 4', die Geschwindigkeit 65 cm in der Sekunde (102,8 m in 3 Minuten 6 Sekunden), an Stellen, wo das Bett des Orinoko über 3900 m breit und 19,5 bis 23 m tief war. Der Fall des Flusses ist allerdings von den Katarakten bis Angostura höchst unbedeutend,1 und ohne barometrische Mes- sung ließe sich der Höhenunterschied ungefähr schätzen, wenn man von Zeit zu Zeit die Geschwindigkeit und Breite und Tiefe des Stromstückes mäße. In Uruana konnten wir einige Sternbeobachtungen machen. Ich fand die Breite der Mission
1 Der Nil hat von Kairo bis Rosette auf einer Strecke von 265 km nur 2,2 m Fall auf den Kilometer.
dem Horeda und dem Paruaſi mit dem üppigſten Pflan- zenwuchſe bedeckt iſt, konnte er der Luſt nicht widerſtehen, große botaniſche Exkurſionen zu machen, und wurde den Tag über mehrere Male durchnäßt. Im Hauſe des Miſſionärs wurde für alle unſere Bedürfniſſe zuvorkommend geſorgt; man verſchaffte uns Maismehl, ſogar Milch. Die Kühe geben in den Niederungen der heißen Zone reichlich Milch, und es fehlt nirgends daran, wo es gute Weiden gibt. Ich erwähne dies ausdrücklich, weil infolge örtlicher Verhältniſſe im Indi- ſchen Archipelagus das Vorurteil verbreitet iſt, als ob ein heißes Klima auf die Milchabſonderung ungünſtig wirkte. Es begreift ſich, daß die Eingeborenen des neuen Kontinents ſich aus der Milch nicht viel machen, da das Land urſprünglich keine Tiere hatte, welche Milch geben; aber billig wundert man ſich, daß die ungeheure chineſiſche Bevölkerung, die doch großen- teils außerhalb der Tropen unter denſelben Breiten wie die nomadiſchen Stämme in Centralaſien lebt, ebenſo gleichgültig iſt. Wenn die Chineſen einmal ein Hirtenvolk waren, wie geht es zu, daß ſie Sitten und einem Geſchmack, die ihrem früheren Zuſtande ſo ganz angemeſſen ſind, ungetreu gewor- den? Dieſe Fragen ſcheinen mir von großer Bedeutung ſo- wohl für die Geſchichte der Völker von Oſtaſien als hinſicht- lich der alten Verbindungen, die, wie man glaubt, zwiſchen dieſem Weltteil und dem nördlichen Mexiko ſtattgefunden haben können.
Wir fuhren in zwei Tagen den Orinoko von Carichana zur Miſſion Uruana hinab, nachdem wir wieder durch den vielberufenen Engpaß beim Baraguan gegangen. Wir hielten öfters an, um die Geſchwindigkeit des Stromes und ſeine Temperatur an der Oberfläche zu meſſen. Letztere betrug 27° 4′, die Geſchwindigkeit 65 cm in der Sekunde (102,8 m in 3 Minuten 6 Sekunden), an Stellen, wo das Bett des Orinoko über 3900 m breit und 19,5 bis 23 m tief war. Der Fall des Fluſſes iſt allerdings von den Katarakten bis Angoſtura höchſt unbedeutend,1 und ohne barometriſche Meſ- ſung ließe ſich der Höhenunterſchied ungefähr ſchätzen, wenn man von Zeit zu Zeit die Geſchwindigkeit und Breite und Tiefe des Stromſtückes mäße. In Uruana konnten wir einige Sternbeobachtungen machen. Ich fand die Breite der Miſſion
1 Der Nil hat von Kairo bis Roſette auf einer Strecke von 265 km nur 2,2 m Fall auf den Kilometer.
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dem Horeda und dem Paruaſi mit dem üppigſten Pflan-
zenwuchſe bedeckt iſt, konnte er der Luſt nicht widerſtehen,
große botaniſche Exkurſionen zu machen, und wurde den Tag
über mehrere Male durchnäßt. Im Hauſe des Miſſionärs
wurde für alle unſere Bedürfniſſe zuvorkommend geſorgt; man
verſchaffte uns Maismehl, ſogar Milch. Die Kühe geben in
den Niederungen der heißen Zone reichlich Milch, und es
fehlt nirgends daran, wo es gute Weiden gibt. Ich erwähne
dies ausdrücklich, weil infolge örtlicher Verhältniſſe im Indi-
ſchen Archipelagus das Vorurteil verbreitet iſt, als ob ein
heißes Klima auf die Milchabſonderung ungünſtig wirkte. Es
begreift ſich, daß die Eingeborenen des neuen Kontinents ſich aus
der Milch nicht viel machen, da das Land urſprünglich keine
Tiere hatte, welche Milch geben; aber billig wundert man ſich,
daß die ungeheure chineſiſche Bevölkerung, die doch großen-
teils außerhalb der Tropen unter denſelben Breiten wie die
nomadiſchen Stämme in Centralaſien lebt, ebenſo gleichgültig
iſt. Wenn die Chineſen einmal ein Hirtenvolk waren, wie
geht es zu, daß ſie Sitten und einem Geſchmack, die ihrem
früheren Zuſtande ſo ganz angemeſſen ſind, ungetreu gewor-
den? Dieſe Fragen ſcheinen mir von großer Bedeutung ſo-
wohl für die Geſchichte der Völker von Oſtaſien als hinſicht-
lich der alten Verbindungen, die, wie man glaubt, zwiſchen
dieſem Weltteil und dem nördlichen Mexiko ſtattgefunden
haben können.
Wir fuhren in zwei Tagen den Orinoko von Carichana
zur Miſſion Uruana hinab, nachdem wir wieder durch den
vielberufenen Engpaß beim Baraguan gegangen. Wir hielten
öfters an, um die Geſchwindigkeit des Stromes und ſeine
Temperatur an der Oberfläche zu meſſen. Letztere betrug
27° 4′, die Geſchwindigkeit 65 cm in der Sekunde (102,8 m
in 3 Minuten 6 Sekunden), an Stellen, wo das Bett des
Orinoko über 3900 m breit und 19,5 bis 23 m tief war.
Der Fall des Fluſſes iſt allerdings von den Katarakten bis
Angoſtura höchſt unbedeutend, 1 und ohne barometriſche Meſ-
ſung ließe ſich der Höhenunterſchied ungefähr ſchätzen, wenn
man von Zeit zu Zeit die Geſchwindigkeit und Breite und
Tiefe des Stromſtückes mäße. In Uruana konnten wir einige
Sternbeobachtungen machen. Ich fand die Breite der Miſſion
1 Der Nil hat von Kairo bis Roſette auf einer Strecke von
265 km nur 2,2 m Fall auf den Kilometer.
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/129>, abgerufen am 14.06.2024.
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