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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

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bei Kredit." -- Auch die barbarischen Bewohner von Neu-
kaledonien essen zur Zeit der Not, um den Hunger zu
beschwichtigen, mächtige Stücke eines weißen, zerreiblichen
Topfsteins. Vauquelin fand darin bei der Analyse, neben
Magnesia und Kieselerde zu gleichen Teilen, eine kleine Menge
Kupferoxyd. Eine Erde, welche Golberry die Neger in Afrika
auf den Inseln Bunck und Los Idolos essen sah und von der
er ohne Beschwerde selbst gegessen, ist gleichfalls ein weißer,
zerreiblicher Speckstein. Alle diese Fälle gehören der heißen
Zone an; überblickt man sie, so muß es auffallen, daß ein
Trieb, von dem man glauben sollte, die Natur werde ihn
nur den Bewohnern der unfruchtbarsten Landstriche eingepflanzt
haben, bei verwilderten, trägen Völkern vorkommt, die gerade
die herrlichsten, fruchtbarsten Länder bewohnen. In Popayan
und mehreren Gebirgsstrichen von Peru sahen wir auf offenem
Markte an die Eingeborenen unter anderen Waren auch sehr
fein gepulverten Kalk verkaufen. Man mengt dieses Pulver
mit Coca, das heißt mit den Blättern des Erythroxylon
peruvianum.
Bekanntlich nehmen die indianischen Boten-
läufer mehrere Tage lang keine andere Nahrung zu sich als
Kalk und Coca; beide befördern die Absonderung des Speichels
und des Magensaftes; sie benehmen die Eßlust, ohne dem
Körper Nahrungsstoff zuzuführen. Anderswo in Südamerika,
am Rio de la Hacha, verschlucken die Guajiro nur den Kalk
ohne Zusatz von Pflanzenstoff. Sie führen beständig eine
kleine Büchse mit Kalk bei sich, wie wir die Tabaksdose und
die Asiaten die Betelbüchse. Diese amerikanische Sitte war
schon den ersten spanischen Seefahrern auffallend erschienen.
Der Kalk schwärzt die Zähne, und im Ostindischen Archipel,
wie bei manchen amerikanischen Horden, gelten schwarze Zähne
für schön. Im kalten Landstrich des Königreichs Quito essen
in Tiaua die Eingeborenen täglich aus Leckerei und ohne Be-
schwerde einen sehr feinen, mit Quarzsand gemengten Thon.
Dieser Thon macht das Wasser, in dem er suspendiert ist,
milchig. Man sieht in ihren Hütten große Gefäße mit diesem
Wasser, das als Getränk dient und bei den Indianern Agua
oder Leche de Llanka (Thonmilch) heißt.

Ueberblickt man alle diese Fälle, so zeigt sich, daß dieser
abnorme Trieb zum Genuß von Thonerde, Talkerde und Kalk
am häufigsten bei Bewohnern der heißen Zone vorkommt,
daß er nicht immer Krankheit zur Folge hat, und daß manche
Stämme Erde aus Leckerei essen, während andere (die Oto-

bei Kredit.“ — Auch die barbariſchen Bewohner von Neu-
kaledonien eſſen zur Zeit der Not, um den Hunger zu
beſchwichtigen, mächtige Stücke eines weißen, zerreiblichen
Topfſteins. Vauquelin fand darin bei der Analyſe, neben
Magneſia und Kieſelerde zu gleichen Teilen, eine kleine Menge
Kupferoxyd. Eine Erde, welche Golberry die Neger in Afrika
auf den Inſeln Bunck und Los Idolos eſſen ſah und von der
er ohne Beſchwerde ſelbſt gegeſſen, iſt gleichfalls ein weißer,
zerreiblicher Speckſtein. Alle dieſe Fälle gehören der heißen
Zone an; überblickt man ſie, ſo muß es auffallen, daß ein
Trieb, von dem man glauben ſollte, die Natur werde ihn
nur den Bewohnern der unfruchtbarſten Landſtriche eingepflanzt
haben, bei verwilderten, trägen Völkern vorkommt, die gerade
die herrlichſten, fruchtbarſten Länder bewohnen. In Popayan
und mehreren Gebirgsſtrichen von Peru ſahen wir auf offenem
Markte an die Eingeborenen unter anderen Waren auch ſehr
fein gepulverten Kalk verkaufen. Man mengt dieſes Pulver
mit Coca, das heißt mit den Blättern des Erythroxylon
peruvianum.
Bekanntlich nehmen die indianiſchen Boten-
läufer mehrere Tage lang keine andere Nahrung zu ſich als
Kalk und Coca; beide befördern die Abſonderung des Speichels
und des Magenſaftes; ſie benehmen die Eßluſt, ohne dem
Körper Nahrungsſtoff zuzuführen. Anderswo in Südamerika,
am Rio de la Hacha, verſchlucken die Guajiro nur den Kalk
ohne Zuſatz von Pflanzenſtoff. Sie führen beſtändig eine
kleine Büchſe mit Kalk bei ſich, wie wir die Tabaksdoſe und
die Aſiaten die Betelbüchſe. Dieſe amerikaniſche Sitte war
ſchon den erſten ſpaniſchen Seefahrern auffallend erſchienen.
Der Kalk ſchwärzt die Zähne, und im Oſtindiſchen Archipel,
wie bei manchen amerikaniſchen Horden, gelten ſchwarze Zähne
für ſchön. Im kalten Landſtrich des Königreichs Quito eſſen
in Tiaua die Eingeborenen täglich aus Leckerei und ohne Be-
ſchwerde einen ſehr feinen, mit Quarzſand gemengten Thon.
Dieſer Thon macht das Waſſer, in dem er ſuſpendiert iſt,
milchig. Man ſieht in ihren Hütten große Gefäße mit dieſem
Waſſer, das als Getränk dient und bei den Indianern Agua
oder Leche de Llanka (Thonmilch) heißt.

Ueberblickt man alle dieſe Fälle, ſo zeigt ſich, daß dieſer
abnorme Trieb zum Genuß von Thonerde, Talkerde und Kalk
am häufigſten bei Bewohnern der heißen Zone vorkommt,
daß er nicht immer Krankheit zur Folge hat, und daß manche
Stämme Erde aus Leckerei eſſen, während andere (die Oto-

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[127/0135] bei Kredit.“ — Auch die barbariſchen Bewohner von Neu- kaledonien eſſen zur Zeit der Not, um den Hunger zu beſchwichtigen, mächtige Stücke eines weißen, zerreiblichen Topfſteins. Vauquelin fand darin bei der Analyſe, neben Magneſia und Kieſelerde zu gleichen Teilen, eine kleine Menge Kupferoxyd. Eine Erde, welche Golberry die Neger in Afrika auf den Inſeln Bunck und Los Idolos eſſen ſah und von der er ohne Beſchwerde ſelbſt gegeſſen, iſt gleichfalls ein weißer, zerreiblicher Speckſtein. Alle dieſe Fälle gehören der heißen Zone an; überblickt man ſie, ſo muß es auffallen, daß ein Trieb, von dem man glauben ſollte, die Natur werde ihn nur den Bewohnern der unfruchtbarſten Landſtriche eingepflanzt haben, bei verwilderten, trägen Völkern vorkommt, die gerade die herrlichſten, fruchtbarſten Länder bewohnen. In Popayan und mehreren Gebirgsſtrichen von Peru ſahen wir auf offenem Markte an die Eingeborenen unter anderen Waren auch ſehr fein gepulverten Kalk verkaufen. Man mengt dieſes Pulver mit Coca, das heißt mit den Blättern des Erythroxylon peruvianum. Bekanntlich nehmen die indianiſchen Boten- läufer mehrere Tage lang keine andere Nahrung zu ſich als Kalk und Coca; beide befördern die Abſonderung des Speichels und des Magenſaftes; ſie benehmen die Eßluſt, ohne dem Körper Nahrungsſtoff zuzuführen. Anderswo in Südamerika, am Rio de la Hacha, verſchlucken die Guajiro nur den Kalk ohne Zuſatz von Pflanzenſtoff. Sie führen beſtändig eine kleine Büchſe mit Kalk bei ſich, wie wir die Tabaksdoſe und die Aſiaten die Betelbüchſe. Dieſe amerikaniſche Sitte war ſchon den erſten ſpaniſchen Seefahrern auffallend erſchienen. Der Kalk ſchwärzt die Zähne, und im Oſtindiſchen Archipel, wie bei manchen amerikaniſchen Horden, gelten ſchwarze Zähne für ſchön. Im kalten Landſtrich des Königreichs Quito eſſen in Tiaua die Eingeborenen täglich aus Leckerei und ohne Be- ſchwerde einen ſehr feinen, mit Quarzſand gemengten Thon. Dieſer Thon macht das Waſſer, in dem er ſuſpendiert iſt, milchig. Man ſieht in ihren Hütten große Gefäße mit dieſem Waſſer, das als Getränk dient und bei den Indianern Agua oder Leche de Llanka (Thonmilch) heißt. Ueberblickt man alle dieſe Fälle, ſo zeigt ſich, daß dieſer abnorme Trieb zum Genuß von Thonerde, Talkerde und Kalk am häufigſten bei Bewohnern der heißen Zone vorkommt, daß er nicht immer Krankheit zur Folge hat, und daß manche Stämme Erde aus Leckerei eſſen, während andere (die Oto-

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 127. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/135>, abgerufen am 01.06.2024.