hoher moralischer Vollkommenheit, im Leben durch Umgang, und durch zweckmässiges Studium der Geschichte, endlich durch das Anschauen der höchsten, idealischen Vollkommenheit im Bilde der Gottheit. Aber diese letztere Ansicht ist, wie ich im Vorigen gezeigt zu haben glaube, nicht für jedes Auge gemacht, oder um ohne Bild zu reden, diese Vorstellungsart ist nicht jedem Charakter angemessen. Wäre sie es aber auch; so ist sie doch nur da wirksam, wo sie aus dem Zusammenhange aller Ideen und Empfindungen entspringt, wo sie mehr von selbst aus dem Innern der Seele hervorgeht, als von aussen in dieselbe gelegt wird. Wegräumung der Hindernisse, mit Reli- gionsideen vertraut zu werden, und Begünstigung des freien Untersuchungsgeistes sind folglich die einzigen Mittel, deren der Gesetzgeber sich bedienen darf; geht er weiter, sucht er die Religiosität direkt zu befördern, oder zu leiten, oder nimmt er gar gewisse bestimmte Ideen in Schutz, fordert er, statt wah- rer Ueberzeugung, Glauben auf Autorität; so hindert er das Aufstreben des Geistes, die Entwicklung der Seelenkräfte; so bringt er vielleicht durch Gewinnung der Einbildungskraft, durch augenblickliche Rührungen Gesetzmässigkeit der Hand- lungen seiner Bürger, aber nie wahre Tugend hervor. Denn wahre Tugend ist unabhängig von aller, und unverträglich mit befohlner, und auf Autorität geglaubter Religion.
Wenn jedoch gewisse Religionsgrundsätze auch nur gesetz- mässige Handlungen hervorbringen, ist dies nicht genug, um den Staat zu berechtigen, sie, auch auf Kosten der allgemeinen Denkfreiheit, zu verbreiten? Die Absicht des Staats wird erreicht, wenn seine Gesetze streng befolgt werden; und der Gesetzgeber hat seiner Pflicht ein Genüge gethan, wenn er weise Gesetze giebt, und ihre Beobachtung von seinen Bürgern zu erhalten weiss. Ueberdies passt jener aufgestellte Begriff von Tugend nur auf einige wenige Klassen der Mitglieder eines Staats, nur auf die, welche ihre äussere Lage in den Stand
hoher moralischer Vollkommenheit, im Leben durch Umgang, und durch zweckmässiges Studium der Geschichte, endlich durch das Anschauen der höchsten, idealischen Vollkommenheit im Bilde der Gottheit. Aber diese letztere Ansicht ist, wie ich im Vorigen gezeigt zu haben glaube, nicht für jedes Auge gemacht, oder um ohne Bild zu reden, diese Vorstellungsart ist nicht jedem Charakter angemessen. Wäre sie es aber auch; so ist sie doch nur da wirksam, wo sie aus dem Zusammenhange aller Ideen und Empfindungen entspringt, wo sie mehr von selbst aus dem Innern der Seele hervorgeht, als von aussen in dieselbe gelegt wird. Wegräumung der Hindernisse, mit Reli- gionsideen vertraut zu werden, und Begünstigung des freien Untersuchungsgeistes sind folglich die einzigen Mittel, deren der Gesetzgeber sich bedienen darf; geht er weiter, sucht er die Religiosität direkt zu befördern, oder zu leiten, oder nimmt er gar gewisse bestimmte Ideen in Schutz, fordert er, statt wah- rer Ueberzeugung, Glauben auf Autorität; so hindert er das Aufstreben des Geistes, die Entwicklung der Seelenkräfte; so bringt er vielleicht durch Gewinnung der Einbildungskraft, durch augenblickliche Rührungen Gesetzmässigkeit der Hand- lungen seiner Bürger, aber nie wahre Tugend hervor. Denn wahre Tugend ist unabhängig von aller, und unverträglich mit befohlner, und auf Autorität geglaubter Religion.
Wenn jedoch gewisse Religionsgrundsätze auch nur gesetz- mässige Handlungen hervorbringen, ist dies nicht genug, um den Staat zu berechtigen, sie, auch auf Kosten der allgemeinen Denkfreiheit, zu verbreiten? Die Absicht des Staats wird erreicht, wenn seine Gesetze streng befolgt werden; und der Gesetzgeber hat seiner Pflicht ein Genüge gethan, wenn er weise Gesetze giebt, und ihre Beobachtung von seinen Bürgern zu erhalten weiss. Ueberdies passt jener aufgestellte Begriff von Tugend nur auf einige wenige Klassen der Mitglieder eines Staats, nur auf die, welche ihre äussere Lage in den Stand
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hoher moralischer Vollkommenheit, im Leben durch Umgang,
und durch zweckmässiges Studium der Geschichte, endlich
durch das Anschauen der höchsten, idealischen Vollkommenheit
im Bilde der Gottheit. Aber diese letztere Ansicht ist, wie ich
im Vorigen gezeigt zu haben glaube, nicht für jedes Auge
gemacht, oder um ohne Bild zu reden, diese Vorstellungsart ist
nicht jedem Charakter angemessen. Wäre sie es aber auch;
so ist sie doch nur da wirksam, wo sie aus dem Zusammenhange
aller Ideen und Empfindungen entspringt, wo sie mehr von
selbst aus dem Innern der Seele hervorgeht, als von aussen in
dieselbe gelegt wird. Wegräumung der Hindernisse, mit Reli-
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Untersuchungsgeistes sind folglich die einzigen Mittel, deren
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Religiosität direkt zu befördern, oder zu leiten, oder nimmt er
gar gewisse bestimmte Ideen in Schutz, fordert er, statt wah-
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Aufstreben des Geistes, die Entwicklung der Seelenkräfte; so
bringt er vielleicht durch Gewinnung der Einbildungskraft,
durch augenblickliche Rührungen Gesetzmässigkeit der Hand-
lungen seiner Bürger, aber nie wahre Tugend hervor. Denn
wahre Tugend ist unabhängig von aller, und unverträglich mit
befohlner, und auf Autorität geglaubter Religion.
Wenn jedoch gewisse Religionsgrundsätze auch nur gesetz-
mässige Handlungen hervorbringen, ist dies nicht genug, um
den Staat zu berechtigen, sie, auch auf Kosten der allgemeinen
Denkfreiheit, zu verbreiten? Die Absicht des Staats wird
erreicht, wenn seine Gesetze streng befolgt werden; und der
Gesetzgeber hat seiner Pflicht ein Genüge gethan, wenn er
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Wilhelm von Humboldt schrieb seine 'Ideen zu eine… [mehr]
Wilhelm von Humboldt schrieb seine 'Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen' zwischen März und Mai des Jahres 1792 nieder. Einzelne Abschnitte wurden im selben Jahr in Friedrich Schillers Thalia bzw. in der Berlinischen Monatsschrift gedruckt. Der gesamte Text wurde jedoch erst postum, 1851, aus dem Nachlass publiziert (Wilhelm von Humboldt † 8. April 1835). Gemäß den Richtlinien des DTA wurde diese Ausgabe digitalisiert.
Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851/110>, abgerufen am 15.06.2024.
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