3. Der sich selbst überlassene Mensch kommt schwerer auf richtige Grundsätze, allein sie zeigen sich unaustilgbar in seiner Handlungsweise. Der absichtlich geleitete empfängt sie leichter, aber sie weichen auch sogar seiner doch geschwäch- ten Energie.
4. Alle Staatseinrichtungen, indem sie ein mannigfaltiges und sehr verschiedenes Interesse in eine Einheit bringen sollen, verursachen vielerlei Kollisionen. Aus den Kollisionen ent- stehen Missverhältnisse zwischen dem Verlangen und dem Vermögen der Menschen; und aus diesen Vergehungen. Je müssiger also -- wenn ich so sagen darf -- der Staat, desto geringer die Anzahl dieser. Wäre es, vorzüglich in gegebenen Fällen möglich, genau die Uebel aufzuzählen, welche Polizei- einrichtungen veranlassen, und welche sie verhüten, die Zahl der ersteren würde allemal grösser sein.
5. Wieviel strenge Aufsuchung der wirklich begangenen Verbrechen, gerechte und wohl abgemessene, aber unerläss- liche Strafe, folglich seltne Straflosigkeit vermag, ist praktisch noch nie hinreichend versucht worden.
Ich glaube nunmehr für meine Absicht hinlänglich gezeigt zu haben, wie bedenklich jedes Bemühen des Staats ist, irgend einer -- nur nicht unmittelbar fremdes Recht kränkenden Aus- schweifung der Sitten entgegen, oder gar zuvorzukommen, wie wenig dann insbesondere heilsame Folgen auf die Sittlichkeit selbst zu erwarten sind, und wie ein solches Wirken auf den Charakter der Nation, selbst zur Erhaltung der Sicherheit, nicht nothwendig ist. Nimmt man nun noch hinzu die im Anfange dieses Aufsatzes entwickelten Gründe, welche jede auf positive Zwecke gerichtete Wirksamkeit des Staats miss- billigen, und die hier um so mehr gelten, als gerade der mora- lische Mensch jede Einschränkung am tiefsten fühlt; und ver- gisst man nicht, dass, wenn irgend eine Art der Bildung der Freiheit ihre höchste Schönheit dankt, dies gerade die Bildung
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3. Der sich selbst überlassene Mensch kommt schwerer auf richtige Grundsätze, allein sie zeigen sich unaustilgbar in seiner Handlungsweise. Der absichtlich geleitete empfängt sie leichter, aber sie weichen auch sogar seiner doch geschwäch- ten Energie.
4. Alle Staatseinrichtungen, indem sie ein mannigfaltiges und sehr verschiedenes Interesse in eine Einheit bringen sollen, verursachen vielerlei Kollisionen. Aus den Kollisionen ent- stehen Missverhältnisse zwischen dem Verlangen und dem Vermögen der Menschen; und aus diesen Vergehungen. Je müssiger also — wenn ich so sagen darf — der Staat, desto geringer die Anzahl dieser. Wäre es, vorzüglich in gegebenen Fällen möglich, genau die Uebel aufzuzählen, welche Polizei- einrichtungen veranlassen, und welche sie verhüten, die Zahl der ersteren würde allemal grösser sein.
5. Wieviel strenge Aufsuchung der wirklich begangenen Verbrechen, gerechte und wohl abgemessene, aber unerläss- liche Strafe, folglich seltne Straflosigkeit vermag, ist praktisch noch nie hinreichend versucht worden.
Ich glaube nunmehr für meine Absicht hinlänglich gezeigt zu haben, wie bedenklich jedes Bemühen des Staats ist, irgend einer — nur nicht unmittelbar fremdes Recht kränkenden Aus- schweifung der Sitten entgegen, oder gar zuvorzukommen, wie wenig dann insbesondere heilsame Folgen auf die Sittlichkeit selbst zu erwarten sind, und wie ein solches Wirken auf den Charakter der Nation, selbst zur Erhaltung der Sicherheit, nicht nothwendig ist. Nimmt man nun noch hinzu die im Anfange dieses Aufsatzes entwickelten Gründe, welche jede auf positive Zwecke gerichtete Wirksamkeit des Staats miss- billigen, und die hier um so mehr gelten, als gerade der mora- lische Mensch jede Einschränkung am tiefsten fühlt; und ver- gisst man nicht, dass, wenn irgend eine Art der Bildung der Freiheit ihre höchste Schönheit dankt, dies gerade die Bildung
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3. Der sich selbst überlassene Mensch kommt schwerer
auf richtige Grundsätze, allein sie zeigen sich unaustilgbar in
seiner Handlungsweise. Der absichtlich geleitete empfängt
sie leichter, aber sie weichen auch sogar seiner doch geschwäch-
ten Energie.
4. Alle Staatseinrichtungen, indem sie ein mannigfaltiges
und sehr verschiedenes Interesse in eine Einheit bringen sollen,
verursachen vielerlei Kollisionen. Aus den Kollisionen ent-
stehen Missverhältnisse zwischen dem Verlangen und dem
Vermögen der Menschen; und aus diesen Vergehungen. Je
müssiger also — wenn ich so sagen darf — der Staat, desto
geringer die Anzahl dieser. Wäre es, vorzüglich in gegebenen
Fällen möglich, genau die Uebel aufzuzählen, welche Polizei-
einrichtungen veranlassen, und welche sie verhüten, die Zahl
der ersteren würde allemal grösser sein.
5. Wieviel strenge Aufsuchung der wirklich begangenen
Verbrechen, gerechte und wohl abgemessene, aber unerläss-
liche Strafe, folglich seltne Straflosigkeit vermag, ist praktisch
noch nie hinreichend versucht worden.
Ich glaube nunmehr für meine Absicht hinlänglich gezeigt
zu haben, wie bedenklich jedes Bemühen des Staats ist, irgend
einer — nur nicht unmittelbar fremdes Recht kränkenden Aus-
schweifung der Sitten entgegen, oder gar zuvorzukommen, wie
wenig dann insbesondere heilsame Folgen auf die Sittlichkeit
selbst zu erwarten sind, und wie ein solches Wirken auf den
Charakter der Nation, selbst zur Erhaltung der Sicherheit,
nicht nothwendig ist. Nimmt man nun noch hinzu die im
Anfange dieses Aufsatzes entwickelten Gründe, welche jede
auf positive Zwecke gerichtete Wirksamkeit des Staats miss-
billigen, und die hier um so mehr gelten, als gerade der mora-
lische Mensch jede Einschränkung am tiefsten fühlt; und ver-
gisst man nicht, dass, wenn irgend eine Art der Bildung der
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Wilhelm von Humboldt schrieb seine 'Ideen zu eine… [mehr]
Wilhelm von Humboldt schrieb seine 'Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen' zwischen März und Mai des Jahres 1792 nieder. Einzelne Abschnitte wurden im selben Jahr in Friedrich Schillers Thalia bzw. in der Berlinischen Monatsschrift gedruckt. Der gesamte Text wurde jedoch erst postum, 1851, aus dem Nachlass publiziert (Wilhelm von Humboldt † 8. April 1835). Gemäß den Richtlinien des DTA wurde diese Ausgabe digitalisiert.
Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851/135>, abgerufen am 15.06.2024.
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