sichten der Sachwalter zuviel Spielraum gelassen; so werden die Prozesse verwickelt, langwierig, kostspielig; und die Ent- scheidungen dennoch schief, und der Sache, wie der Meinung der Partheien, oft unangemessen. Ja diese Nachtheile tragen sogar zur grösseren Häufigkeit rechtlicher Streitigkeiten und zur Nahrung der Prozesssucht bei. Entfernt man sich hingegen von dem ersteren Grundsatz, so wird das Verfahren inquisito- risch, der Richter erhält eine zu grosse Gewalt, und mischt sich in die geringsten Privatangelegenheiten der Bürger. Von bei- den Extremen finden sich Beispiele in der Wirklichkeit, und die Erfahrung bestätigt, dass, wenn das zuletzt geschilderte die Freiheit zu eng und widerrechtlich beschränkt, das zuerst aufgestellte der Sicherheit des Eigenthums nachtheilig ist.
Der Richter braucht zur Untersuchung und Erforschung der Wahrheit Kennzeichen derselben, Beweismittel. Daher giebt die Betrachtung, dass das Recht nicht anders wirksame Gültig- keit erhält, als wenn es, im Fall es bestritten würde, eines Be- weises vor dem Richter fähig ist, einen neuen Gesichtspunkt für die Gesetzgebung an die Hand. Es entsteht nämlich hier- aus die Nothwendigkeit neuer einschränkender Gesetze, näm- lich solcher, welche den verhandelten Geschäften solche Kennzeichen beizugeben gebieten, an welchen künftig ihre Wirklichkeit oder Gültigkeit zu erkennen sei. Die Nothwendig- keit von Gesetzen dieser Art fällt allemal in eben dem Grade, in welchem die Vollkommenheit der Gerichtsverfassung steigt; ist aber am grössesten da, wo diese am mangelhaftesten ist, und daher der meisten äusseren Zeichen zum Beweise bedarf. Daher findet man die meisten Formalitäten bei den unkultivir- testen Völkern. Stufenweise erforderte die Vindikation eines Ackers, bei den Römern, erst die Gegenwart der Partheien auf dem Acker selbst, dann das Bringen einer Erdscholle desselben ins Gericht, in der Folge feierliche Worte, und endlich auch diese nicht mehr. Ueberall, vorzüglich aber bei minder kulti-
sichten der Sachwalter zuviel Spielraum gelassen; so werden die Prozesse verwickelt, langwierig, kostspielig; und die Ent- scheidungen dennoch schief, und der Sache, wie der Meinung der Partheien, oft unangemessen. Ja diese Nachtheile tragen sogar zur grösseren Häufigkeit rechtlicher Streitigkeiten und zur Nahrung der Prozesssucht bei. Entfernt man sich hingegen von dem ersteren Grundsatz, so wird das Verfahren inquisito- risch, der Richter erhält eine zu grosse Gewalt, und mischt sich in die geringsten Privatangelegenheiten der Bürger. Von bei- den Extremen finden sich Beispiele in der Wirklichkeit, und die Erfahrung bestätigt, dass, wenn das zuletzt geschilderte die Freiheit zu eng und widerrechtlich beschränkt, das zuerst aufgestellte der Sicherheit des Eigenthums nachtheilig ist.
Der Richter braucht zur Untersuchung und Erforschung der Wahrheit Kennzeichen derselben, Beweismittel. Daher giebt die Betrachtung, dass das Recht nicht anders wirksame Gültig- keit erhält, als wenn es, im Fall es bestritten würde, eines Be- weises vor dem Richter fähig ist, einen neuen Gesichtspunkt für die Gesetzgebung an die Hand. Es entsteht nämlich hier- aus die Nothwendigkeit neuer einschränkender Gesetze, näm- lich solcher, welche den verhandelten Geschäften solche Kennzeichen beizugeben gebieten, an welchen künftig ihre Wirklichkeit oder Gültigkeit zu erkennen sei. Die Nothwendig- keit von Gesetzen dieser Art fällt allemal in eben dem Grade, in welchem die Vollkommenheit der Gerichtsverfassung steigt; ist aber am grössesten da, wo diese am mangelhaftesten ist, und daher der meisten äusseren Zeichen zum Beweise bedarf. Daher findet man die meisten Formalitäten bei den unkultivir- testen Völkern. Stufenweise erforderte die Vindikation eines Ackers, bei den Römern, erst die Gegenwart der Partheien auf dem Acker selbst, dann das Bringen einer Erdscholle desselben ins Gericht, in der Folge feierliche Worte, und endlich auch diese nicht mehr. Ueberall, vorzüglich aber bei minder kulti-
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sichten der Sachwalter zuviel Spielraum gelassen; so werden
die Prozesse verwickelt, langwierig, kostspielig; und die Ent-
scheidungen dennoch schief, und der Sache, wie der Meinung
der Partheien, oft unangemessen. Ja diese Nachtheile tragen
sogar zur grösseren Häufigkeit rechtlicher Streitigkeiten und
zur Nahrung der Prozesssucht bei. Entfernt man sich hingegen
von dem ersteren Grundsatz, so wird das Verfahren inquisito-
risch, der Richter erhält eine zu grosse Gewalt, und mischt sich
in die geringsten Privatangelegenheiten der Bürger. Von bei-
den Extremen finden sich Beispiele in der Wirklichkeit, und
die Erfahrung bestätigt, dass, wenn das zuletzt geschilderte
die Freiheit zu eng und widerrechtlich beschränkt, das zuerst
aufgestellte der Sicherheit des Eigenthums nachtheilig ist.
Der Richter braucht zur Untersuchung und Erforschung der
Wahrheit Kennzeichen derselben, Beweismittel. Daher giebt
die Betrachtung, dass das Recht nicht anders wirksame Gültig-
keit erhält, als wenn es, im Fall es bestritten würde, eines Be-
weises vor dem Richter fähig ist, einen neuen Gesichtspunkt
für die Gesetzgebung an die Hand. Es entsteht nämlich hier-
aus die Nothwendigkeit neuer einschränkender Gesetze, näm-
lich solcher, welche den verhandelten Geschäften solche
Kennzeichen beizugeben gebieten, an welchen künftig ihre
Wirklichkeit oder Gültigkeit zu erkennen sei. Die Nothwendig-
keit von Gesetzen dieser Art fällt allemal in eben dem Grade,
in welchem die Vollkommenheit der Gerichtsverfassung steigt;
ist aber am grössesten da, wo diese am mangelhaftesten ist,
und daher der meisten äusseren Zeichen zum Beweise bedarf.
Daher findet man die meisten Formalitäten bei den unkultivir-
testen Völkern. Stufenweise erforderte die Vindikation eines
Ackers, bei den Römern, erst die Gegenwart der Partheien auf
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ins Gericht, in der Folge feierliche Worte, und endlich auch
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Wilhelm von Humboldt schrieb seine 'Ideen zu eine… [mehr]
Wilhelm von Humboldt schrieb seine 'Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen' zwischen März und Mai des Jahres 1792 nieder. Einzelne Abschnitte wurden im selben Jahr in Friedrich Schillers Thalia bzw. in der Berlinischen Monatsschrift gedruckt. Der gesamte Text wurde jedoch erst postum, 1851, aus dem Nachlass publiziert (Wilhelm von Humboldt † 8. April 1835). Gemäß den Richtlinien des DTA wurde diese Ausgabe digitalisiert.
Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851/171>, abgerufen am 15.06.2024.
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