erregen. Allein diese Schwierigkeiten liegen nicht sowohl in der Theorie, als in der Ausführung, die freilich nie specielle Regeln erlaubt, sondern, wie überall, so auch hier, allein das Werk des Genies ist. In der Theorie würde ich mir diese frei- lich sehr schwierig verwickelte Sache auf folgende Art deutlich zu machen suchen.
Der Gesetzgeber müsste zwei Dinge unausbleiblich vor Augen haben: 1. die reine Theorie, bis in das genauste Detail ausgesponnen. 2. den Zustand der individuellen Wirklichkeit, die er umzuschaffen bestimmt wäre. Die Theorie müsste er nicht nur in allen ihren Theilen auf das genaueste und vollstän- digste übersehen, sondern er müsste auch die nothwendigen Folgen jedes einzelnen Grundsatzes in ihrem ganzen Umfange, in ihrer mannigfaltigen Verwebung, und in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit einer von der andern, wenn nicht alle Grundsätze auf einmal realisirt werden könnten, vor Augen haben. Eben so müsste er -- und dies Geschäft wäre freilich unendlich schwie- riger -- sich von dem Zustande der Wirklichkeit unterrichten, von allen Banden, welche der Staat den Bürgern, und welche sie sich selbst, gegen die reinen Grundsätze der Theorie, unter dem Schutze des Staats, auflegen, und von allen Folgen der- selben. Beide Gemälde müsste er nun mit einander vergleichen, und der Zeitpunkt, einen Grundsatz der Theorie in die Wirk- lichkeit überzutragen, wäre der, wenn in der Vergleichung sich fände, dass, auch nach der Uebertragung, der Grundsatz unver- ändert bleiben, und noch eben die Folgen hervorbringen würde, welche das erste Gemälde darstellte; oder, wenn dies nicht ganz der Fall wäre, sich doch voraussehen liesse, dass diesem Mangel alsdann, wenn die Wirklichkeit der Theorie noch mehr genähert wäre, abgeholfen werden würde. Denn dies letzte Ziel, diese gänzliche Näherung müsste den Blick des Gesetzgebers unab- lässig an sich ziehen.
Diese gleichsam bildliche Vorstellung kann sonderbar, und
erregen. Allein diese Schwierigkeiten liegen nicht sowohl in der Theorie, als in der Ausführung, die freilich nie specielle Regeln erlaubt, sondern, wie überall, so auch hier, allein das Werk des Genies ist. In der Theorie würde ich mir diese frei- lich sehr schwierig verwickelte Sache auf folgende Art deutlich zu machen suchen.
Der Gesetzgeber müsste zwei Dinge unausbleiblich vor Augen haben: 1. die reine Theorie, bis in das genauste Detail ausgesponnen. 2. den Zustand der individuellen Wirklichkeit, die er umzuschaffen bestimmt wäre. Die Theorie müsste er nicht nur in allen ihren Theilen auf das genaueste und vollstän- digste übersehen, sondern er müsste auch die nothwendigen Folgen jedes einzelnen Grundsatzes in ihrem ganzen Umfange, in ihrer mannigfaltigen Verwebung, und in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit einer von der andern, wenn nicht alle Grundsätze auf einmal realisirt werden könnten, vor Augen haben. Eben so müsste er — und dies Geschäft wäre freilich unendlich schwie- riger — sich von dem Zustande der Wirklichkeit unterrichten, von allen Banden, welche der Staat den Bürgern, und welche sie sich selbst, gegen die reinen Grundsätze der Theorie, unter dem Schutze des Staats, auflegen, und von allen Folgen der- selben. Beide Gemälde müsste er nun mit einander vergleichen, und der Zeitpunkt, einen Grundsatz der Theorie in die Wirk- lichkeit überzutragen, wäre der, wenn in der Vergleichung sich fände, dass, auch nach der Uebertragung, der Grundsatz unver- ändert bleiben, und noch eben die Folgen hervorbringen würde, welche das erste Gemälde darstellte; oder, wenn dies nicht ganz der Fall wäre, sich doch voraussehen liesse, dass diesem Mangel alsdann, wenn die Wirklichkeit der Theorie noch mehr genähert wäre, abgeholfen werden würde. Denn dies letzte Ziel, diese gänzliche Näherung müsste den Blick des Gesetzgebers unab- lässig an sich ziehen.
Diese gleichsam bildliche Vorstellung kann sonderbar, und
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erregen. Allein diese Schwierigkeiten liegen nicht sowohl in
der Theorie, als in der Ausführung, die freilich nie specielle
Regeln erlaubt, sondern, wie überall, so auch hier, allein das
Werk des Genies ist. In der Theorie würde ich mir diese frei-
lich sehr schwierig verwickelte Sache auf folgende Art deutlich
zu machen suchen.
Der Gesetzgeber müsste zwei Dinge unausbleiblich vor
Augen haben: 1. die reine Theorie, bis in das genauste Detail
ausgesponnen. 2. den Zustand der individuellen Wirklichkeit,
die er umzuschaffen bestimmt wäre. Die Theorie müsste er
nicht nur in allen ihren Theilen auf das genaueste und vollstän-
digste übersehen, sondern er müsste auch die nothwendigen
Folgen jedes einzelnen Grundsatzes in ihrem ganzen Umfange,
in ihrer mannigfaltigen Verwebung, und in ihrer gegenseitigen
Abhängigkeit einer von der andern, wenn nicht alle Grundsätze
auf einmal realisirt werden könnten, vor Augen haben. Eben so
müsste er — und dies Geschäft wäre freilich unendlich schwie-
riger — sich von dem Zustande der Wirklichkeit unterrichten,
von allen Banden, welche der Staat den Bürgern, und welche
sie sich selbst, gegen die reinen Grundsätze der Theorie, unter
dem Schutze des Staats, auflegen, und von allen Folgen der-
selben. Beide Gemälde müsste er nun mit einander vergleichen,
und der Zeitpunkt, einen Grundsatz der Theorie in die Wirk-
lichkeit überzutragen, wäre der, wenn in der Vergleichung sich
fände, dass, auch nach der Uebertragung, der Grundsatz unver-
ändert bleiben, und noch eben die Folgen hervorbringen würde,
welche das erste Gemälde darstellte; oder, wenn dies nicht ganz
der Fall wäre, sich doch voraussehen liesse, dass diesem Mangel
alsdann, wenn die Wirklichkeit der Theorie noch mehr genähert
wäre, abgeholfen werden würde. Denn dies letzte Ziel, diese
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Wilhelm von Humboldt schrieb seine 'Ideen zu eine… [mehr]
Wilhelm von Humboldt schrieb seine 'Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen' zwischen März und Mai des Jahres 1792 nieder. Einzelne Abschnitte wurden im selben Jahr in Friedrich Schillers Thalia bzw. in der Berlinischen Monatsschrift gedruckt. Der gesamte Text wurde jedoch erst postum, 1851, aus dem Nachlass publiziert (Wilhelm von Humboldt † 8. April 1835). Gemäß den Richtlinien des DTA wurde diese Ausgabe digitalisiert.
Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851, S. 184. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851/220>, abgerufen am 14.06.2024.
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