sie auch andere Menschen beleidigt haben möge. Sie nahm es sich daher fest vor, einen besseren Lebenswandel zu führen, sich von ihren bisherigen aberwitzigen Wünschen und Hoffnun¬ gen loszureißen, und um sich in diesem Vorsatze zu bestärken, beschloß sie, jenes Bild zu kaufen und in ihrem Schlafzim¬ mer aufzuhängen, um durch dessen Betrachtung ihre Besinnung wieder zurückzurufen. Jedoch diese letzte Regung ihrer gegen den beginnenden Wahn ohnmächtig ankämpfenden Vernunft wurde bald erstickt; denn da die Kranke alle ihre Lebens¬ interessen in die Hoffnung auf den Besitz des Verstorbenen zusammengefaßt hatte, und da diese Hoffnung ihrer Natur nach alle Grenzen der Wirklichkeit überfliegen, dem Tode seine Beute wieder abjagen, also die Möglichkeit ihrer Erfüllung von einer unmittelbaren Gnadenwirkung Gottes abhängig ma¬ chen mußte, so waren hiermit alle Elemente gegeben, aus denen sich der Wahn in ihrem Bewußtsein construirte. Mit anderen Worten, ohne früher irgend eine Neigung zur reli¬ giösen Schwärmerei zu haben, mußte letztere doch gleichsam den Einschlag in den Aufzug des Gewebes ihrer irrsinnigen Fase¬ leien geben, denn nur durch Gott konnte sie zu ihrem Ge¬ liebten kommen; kein Wunder daher, daß die heiße Sehnsucht nach dem letzteren in ihr eine monströse Frömmigkeit erzeugte, deren krankhafter Charakter alle Vorstellungen von Gott zum grellsten Unsinn verzerrte. Hiermit ist wiederum nichts In¬ dividuelles, welches nur unsre Kranke betreffen könnte, gege¬ ben, sondern wir finden darin das allgemeine Gesetz zahlloser Thatsachen, welche darin übereinstimmen, daß der Mensch, selbst wenn er das religiöse Bewußtsein im früheren Leben unentwickelt gelassen, ja geflissentlich in sich darnieder gehalten hat, zu den stärksten Regungen desselben erwacht, wenn ein ihn mächtig ergreifendes Schicksal ihn letztere zu einem tief ge¬ fühlten Bedürfniß macht, in welchem sich die absolute Noth¬ wendigkeit der in seinem innersten Wesen gegründeten Religio¬ sität auf das Ueberzeugendste beurkundet. Freilich kann eine solche, wie ein Deus ex machina hervortretende Frömmigkeit, welche keine die wechselnden Seelenzustände vermittelnde und ausgleichende Entwickelung im bisherigen Leben fand, nicht von einem folgerechten Denken zu würdigen Begriffen gestaltet wor¬
ſie auch andere Menſchen beleidigt haben moͤge. Sie nahm es ſich daher feſt vor, einen beſſeren Lebenswandel zu fuͤhren, ſich von ihren bisherigen aberwitzigen Wuͤnſchen und Hoffnun¬ gen loszureißen, und um ſich in dieſem Vorſatze zu beſtaͤrken, beſchloß ſie, jenes Bild zu kaufen und in ihrem Schlafzim¬ mer aufzuhaͤngen, um durch deſſen Betrachtung ihre Beſinnung wieder zuruͤckzurufen. Jedoch dieſe letzte Regung ihrer gegen den beginnenden Wahn ohnmaͤchtig ankaͤmpfenden Vernunft wurde bald erſtickt; denn da die Kranke alle ihre Lebens¬ intereſſen in die Hoffnung auf den Beſitz des Verſtorbenen zuſammengefaßt hatte, und da dieſe Hoffnung ihrer Natur nach alle Grenzen der Wirklichkeit uͤberfliegen, dem Tode ſeine Beute wieder abjagen, alſo die Moͤglichkeit ihrer Erfuͤllung von einer unmittelbaren Gnadenwirkung Gottes abhaͤngig ma¬ chen mußte, ſo waren hiermit alle Elemente gegeben, aus denen ſich der Wahn in ihrem Bewußtſein conſtruirte. Mit anderen Worten, ohne fruͤher irgend eine Neigung zur reli¬ gioͤſen Schwaͤrmerei zu haben, mußte letztere doch gleichſam den Einſchlag in den Aufzug des Gewebes ihrer irrſinnigen Faſe¬ leien geben, denn nur durch Gott konnte ſie zu ihrem Ge¬ liebten kommen; kein Wunder daher, daß die heiße Sehnſucht nach dem letzteren in ihr eine monſtroͤſe Froͤmmigkeit erzeugte, deren krankhafter Charakter alle Vorſtellungen von Gott zum grellſten Unſinn verzerrte. Hiermit iſt wiederum nichts In¬ dividuelles, welches nur unſre Kranke betreffen koͤnnte, gege¬ ben, ſondern wir finden darin das allgemeine Geſetz zahlloſer Thatſachen, welche darin uͤbereinſtimmen, daß der Menſch, ſelbſt wenn er das religioͤſe Bewußtſein im fruͤheren Leben unentwickelt gelaſſen, ja gefliſſentlich in ſich darnieder gehalten hat, zu den ſtaͤrkſten Regungen deſſelben erwacht, wenn ein ihn maͤchtig ergreifendes Schickſal ihn letztere zu einem tief ge¬ fuͤhlten Beduͤrfniß macht, in welchem ſich die abſolute Noth¬ wendigkeit der in ſeinem innerſten Weſen gegruͤndeten Religio¬ ſitaͤt auf das Ueberzeugendſte beurkundet. Freilich kann eine ſolche, wie ein Deus ex machina hervortretende Froͤmmigkeit, welche keine die wechſelnden Seelenzuſtaͤnde vermittelnde und ausgleichende Entwickelung im bisherigen Leben fand, nicht von einem folgerechten Denken zu wuͤrdigen Begriffen geſtaltet wor¬
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gen loszureißen, und um ſich in dieſem Vorſatze zu beſtaͤrken,
beſchloß ſie, jenes Bild zu kaufen und in ihrem Schlafzim¬
mer aufzuhaͤngen, um durch deſſen Betrachtung ihre Beſinnung
wieder zuruͤckzurufen. Jedoch dieſe letzte Regung ihrer gegen
den beginnenden Wahn ohnmaͤchtig ankaͤmpfenden Vernunft
wurde bald erſtickt; denn da die Kranke alle ihre Lebens¬
intereſſen in die Hoffnung auf den Beſitz des Verſtorbenen
zuſammengefaßt hatte, und da dieſe Hoffnung ihrer Natur
nach alle Grenzen der Wirklichkeit uͤberfliegen, dem Tode ſeine
Beute wieder abjagen, alſo die Moͤglichkeit ihrer Erfuͤllung
von einer unmittelbaren Gnadenwirkung Gottes abhaͤngig ma¬
chen mußte, ſo waren hiermit alle Elemente gegeben, aus
denen ſich der Wahn in ihrem Bewußtſein conſtruirte. Mit
anderen Worten, ohne fruͤher irgend eine Neigung zur reli¬
gioͤſen Schwaͤrmerei zu haben, mußte letztere doch gleichſam den
Einſchlag in den Aufzug des Gewebes ihrer irrſinnigen Faſe¬
leien geben, denn nur durch Gott konnte ſie zu ihrem Ge¬
liebten kommen; kein Wunder daher, daß die heiße Sehnſucht
nach dem letzteren in ihr eine monſtroͤſe Froͤmmigkeit erzeugte,
deren krankhafter Charakter alle Vorſtellungen von Gott zum
grellſten Unſinn verzerrte. Hiermit iſt wiederum nichts In¬
dividuelles, welches nur unſre Kranke betreffen koͤnnte, gege¬
ben, ſondern wir finden darin das allgemeine Geſetz zahlloſer
Thatſachen, welche darin uͤbereinſtimmen, daß der Menſch,
ſelbſt wenn er das religioͤſe Bewußtſein im fruͤheren Leben
unentwickelt gelaſſen, ja gefliſſentlich in ſich darnieder gehalten
hat, zu den ſtaͤrkſten Regungen deſſelben erwacht, wenn ein
ihn maͤchtig ergreifendes Schickſal ihn letztere zu einem tief ge¬
fuͤhlten Beduͤrfniß macht, in welchem ſich die abſolute Noth¬
wendigkeit der in ſeinem innerſten Weſen gegruͤndeten Religio¬
ſitaͤt auf das Ueberzeugendſte beurkundet. Freilich kann eine
ſolche, wie ein Deus ex machina hervortretende Froͤmmigkeit,
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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/102>, abgerufen am 18.06.2024.
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