Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Architectonik der reinen Vernunft.
technisch zusammengesezt haben, es uns denn allererst mög-
lich ist, die Idee in hellerem Lichte zu erblicken und ein
Ganzes nach den Zwecken der Vernunft architectonisch zu
entwerfen. Die Systeme scheinen, wie Gewürme, durch
eine generatio equivoca, aus dem blossen Zusammenfluß
von aufgesammelten Begriffen, anfangs verstümmelt, mit
der Zeit vollständig, gebildet worden zu seyn, ob sie gleich
alle insgesamt ihr Schema, als den ursprünglichen Keim,
in der sich blos auswickelnden Vernunft hatten und darum,
nicht allein ein iedes vor sich nach einer Idee gegliedert,
sondern noch dazu alle unter einander in einem System
menschlicher Erkentniß wiederum als Glieder eines Gan-
zen zweckmässig vereinigt seyn und eine Architectonik alles
menschlichen Wissens erlauben, die ieziger Zeit, da schon
so viel Stoff gesammelt ist, oder aus Ruinen eingefallener
alter Gebäude genommen werden kan, nicht allein mög-
lich, sondern nicht einmal so gar schwer seyn würde. Wir
begnügen uns hier mit der Vollendung unseres Geschäftes,
nemlich, lediglich die Architectonik aller Erkentniß aus rei-
ner Vernunft zu entwerfen und fangen nur von dem
Puncte an, wo sich die allgemeine Wurzel unserer Erkent-
nißkraft theilt und zwey Stämme auswirft, deren einer
Vernunft ist. Ich verstehe hier aber unter Vernunft
das ganze obere Erkentnißvermögen und setze also das ra-
tionale dem empirischen entgegen.

Wenn ich von allem Inhalte der Erkentniß, obie-
ctiv betrachtet, abstrahire, so ist alles Erkentniß, subie-

ctiv
G g g 2

Die Architectonik der reinen Vernunft.
techniſch zuſammengeſezt haben, es uns denn allererſt moͤg-
lich iſt, die Idee in hellerem Lichte zu erblicken und ein
Ganzes nach den Zwecken der Vernunft architectoniſch zu
entwerfen. Die Syſteme ſcheinen, wie Gewuͤrme, durch
eine generatio equivoca, aus dem bloſſen Zuſammenfluß
von aufgeſammelten Begriffen, anfangs verſtuͤmmelt, mit
der Zeit vollſtaͤndig, gebildet worden zu ſeyn, ob ſie gleich
alle insgeſamt ihr Schema, als den urſpruͤnglichen Keim,
in der ſich blos auswickelnden Vernunft hatten und darum,
nicht allein ein iedes vor ſich nach einer Idee gegliedert,
ſondern noch dazu alle unter einander in einem Syſtem
menſchlicher Erkentniß wiederum als Glieder eines Gan-
zen zweckmaͤſſig vereinigt ſeyn und eine Architectonik alles
menſchlichen Wiſſens erlauben, die ieziger Zeit, da ſchon
ſo viel Stoff geſammelt iſt, oder aus Ruinen eingefallener
alter Gebaͤude genommen werden kan, nicht allein moͤg-
lich, ſondern nicht einmal ſo gar ſchwer ſeyn wuͤrde. Wir
begnuͤgen uns hier mit der Vollendung unſeres Geſchaͤftes,
nemlich, lediglich die Architectonik aller Erkentniß aus rei-
ner Vernunft zu entwerfen und fangen nur von dem
Puncte an, wo ſich die allgemeine Wurzel unſerer Erkent-
nißkraft theilt und zwey Staͤmme auswirft, deren einer
Vernunft iſt. Ich verſtehe hier aber unter Vernunft
das ganze obere Erkentnißvermoͤgen und ſetze alſo das ra-
tionale dem empiriſchen entgegen.

Wenn ich von allem Inhalte der Erkentniß, obie-
ctiv betrachtet, abſtrahire, ſo iſt alles Erkentniß, ſubie-

ctiv
G g g 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0865" n="835"/><fw place="top" type="header">Die Architectonik der reinen Vernunft.</fw><lb/>
techni&#x017F;ch zu&#x017F;ammenge&#x017F;ezt haben, es uns denn allerer&#x017F;t mo&#x0364;g-<lb/>
lich i&#x017F;t, die Idee in hellerem Lichte zu erblicken und ein<lb/>
Ganzes nach den Zwecken der Vernunft architectoni&#x017F;ch zu<lb/>
entwerfen. Die Sy&#x017F;teme &#x017F;cheinen, wie Gewu&#x0364;rme, durch<lb/>
eine <hi rendition="#aq">generatio equivoca,</hi> aus dem blo&#x017F;&#x017F;en Zu&#x017F;ammenfluß<lb/>
von aufge&#x017F;ammelten Begriffen, anfangs ver&#x017F;tu&#x0364;mmelt, mit<lb/>
der Zeit voll&#x017F;ta&#x0364;ndig, gebildet worden zu &#x017F;eyn, ob &#x017F;ie gleich<lb/>
alle insge&#x017F;amt ihr Schema, als den ur&#x017F;pru&#x0364;nglichen Keim,<lb/>
in der &#x017F;ich blos auswickelnden Vernunft hatten und darum,<lb/>
nicht allein ein iedes vor &#x017F;ich nach einer Idee gegliedert,<lb/>
&#x017F;ondern noch dazu alle unter einander in einem Sy&#x017F;tem<lb/>
men&#x017F;chlicher Erkentniß wiederum als Glieder eines Gan-<lb/>
zen zweckma&#x0364;&#x017F;&#x017F;ig vereinigt &#x017F;eyn und eine Architectonik alles<lb/>
men&#x017F;chlichen Wi&#x017F;&#x017F;ens erlauben, die ieziger Zeit, da &#x017F;chon<lb/>
&#x017F;o viel Stoff ge&#x017F;ammelt i&#x017F;t, oder aus Ruinen eingefallener<lb/>
alter Geba&#x0364;ude genommen werden kan, nicht allein mo&#x0364;g-<lb/>
lich, &#x017F;ondern nicht einmal &#x017F;o gar &#x017F;chwer &#x017F;eyn wu&#x0364;rde. Wir<lb/>
begnu&#x0364;gen uns hier mit der Vollendung un&#x017F;eres Ge&#x017F;cha&#x0364;ftes,<lb/>
nemlich, lediglich die <hi rendition="#fr">Architectonik</hi> aller Erkentniß aus rei-<lb/>
ner <hi rendition="#fr">Vernunft</hi> zu entwerfen und fangen nur von dem<lb/>
Puncte an, wo &#x017F;ich die allgemeine Wurzel un&#x017F;erer Erkent-<lb/>
nißkraft theilt und zwey Sta&#x0364;mme auswirft, deren einer<lb/><hi rendition="#fr">Vernunft</hi> i&#x017F;t. Ich ver&#x017F;tehe hier aber unter Vernunft<lb/>
das ganze obere Erkentnißvermo&#x0364;gen und &#x017F;etze al&#x017F;o das ra-<lb/>
tionale dem empiri&#x017F;chen entgegen.</p><lb/>
          <p>Wenn ich von allem Inhalte der Erkentniß, obie-<lb/>
ctiv betrachtet, ab&#x017F;trahire, &#x017F;o i&#x017F;t alles Erkentniß, &#x017F;ubie-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">G g g 2</fw><fw place="bottom" type="catch">ctiv</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[835/0865] Die Architectonik der reinen Vernunft. techniſch zuſammengeſezt haben, es uns denn allererſt moͤg- lich iſt, die Idee in hellerem Lichte zu erblicken und ein Ganzes nach den Zwecken der Vernunft architectoniſch zu entwerfen. Die Syſteme ſcheinen, wie Gewuͤrme, durch eine generatio equivoca, aus dem bloſſen Zuſammenfluß von aufgeſammelten Begriffen, anfangs verſtuͤmmelt, mit der Zeit vollſtaͤndig, gebildet worden zu ſeyn, ob ſie gleich alle insgeſamt ihr Schema, als den urſpruͤnglichen Keim, in der ſich blos auswickelnden Vernunft hatten und darum, nicht allein ein iedes vor ſich nach einer Idee gegliedert, ſondern noch dazu alle unter einander in einem Syſtem menſchlicher Erkentniß wiederum als Glieder eines Gan- zen zweckmaͤſſig vereinigt ſeyn und eine Architectonik alles menſchlichen Wiſſens erlauben, die ieziger Zeit, da ſchon ſo viel Stoff geſammelt iſt, oder aus Ruinen eingefallener alter Gebaͤude genommen werden kan, nicht allein moͤg- lich, ſondern nicht einmal ſo gar ſchwer ſeyn wuͤrde. Wir begnuͤgen uns hier mit der Vollendung unſeres Geſchaͤftes, nemlich, lediglich die Architectonik aller Erkentniß aus rei- ner Vernunft zu entwerfen und fangen nur von dem Puncte an, wo ſich die allgemeine Wurzel unſerer Erkent- nißkraft theilt und zwey Staͤmme auswirft, deren einer Vernunft iſt. Ich verſtehe hier aber unter Vernunft das ganze obere Erkentnißvermoͤgen und ſetze alſo das ra- tionale dem empiriſchen entgegen. Wenn ich von allem Inhalte der Erkentniß, obie- ctiv betrachtet, abſtrahire, ſo iſt alles Erkentniß, ſubie- ctiv G g g 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/865
Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 835. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/865>, abgerufen am 15.06.2024.