Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

todt und verschwunden ist. Da diese Heerschaar
das Wesentliche vom Unwesentlichen, wie es von
Zeit und Umständen bedingt wird, nie unterschei¬
det, sondern beides mit gleichem Eifer betreibt,
das Wesentliche aber seiner gewichtigeren Natur
nach unter diesem Eifer leicht zu Boden fällt, so
bleibt ihr meistens die Spreu des Unwesentlichen
zwischen den Fingern, welche sie hastig hin und
her wendet, besieht und an die Nase hält. Weil
sie das Wesentliche immer entschlüpfen läßt, so
hält sie es für schwieriger und höchst geheimni߬
voll, zunftmäßig und exclusiv, streitet sich darüber
mit den Manieren und Eigenschaften des Unwe¬
sentlichen, mit dem sie es gewöhnlich zu thun
hat, oder behandelt dieses mit dem Gewichte des
Wesentlichen, welches ihr längst unter den Hän¬
den verschwunden ist. In der That ist aber beides
gleich leicht und gleich schwer zu lernen, das We¬
sentliche und das Unwesentliche, wenn es nur zur
rechten Stunde geschieht, und die Verkennung
dieser Thatsache, welche mit dem ganzen Gesetz
der Natur innig verbunden und vereint ist, bringt
den Lärm und Ruf der falschen Gelehrsamkeit

lV. 5

todt und verſchwunden iſt. Da dieſe Heerſchaar
das Weſentliche vom Unweſentlichen, wie es von
Zeit und Umſtaͤnden bedingt wird, nie unterſchei¬
det, ſondern beides mit gleichem Eifer betreibt,
das Weſentliche aber ſeiner gewichtigeren Natur
nach unter dieſem Eifer leicht zu Boden faͤllt, ſo
bleibt ihr meiſtens die Spreu des Unweſentlichen
zwiſchen den Fingern, welche ſie haſtig hin und
her wendet, beſieht und an die Naſe haͤlt. Weil
ſie das Weſentliche immer entſchluͤpfen laͤßt, ſo
haͤlt ſie es fuͤr ſchwieriger und hoͤchſt geheimni߬
voll, zunftmaͤßig und excluſiv, ſtreitet ſich daruͤber
mit den Manieren und Eigenſchaften des Unwe¬
ſentlichen, mit dem ſie es gewoͤhnlich zu thun
hat, oder behandelt dieſes mit dem Gewichte des
Weſentlichen, welches ihr laͤngſt unter den Haͤn¬
den verſchwunden iſt. In der That iſt aber beides
gleich leicht und gleich ſchwer zu lernen, das We¬
ſentliche und das Unweſentliche, wenn es nur zur
rechten Stunde geſchieht, und die Verkennung
dieſer Thatſache, welche mit dem ganzen Geſetz
der Natur innig verbunden und vereint iſt, bringt
den Laͤrm und Ruf der falſchen Gelehrſamkeit

lV. 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0075" n="65"/>
todt und ver&#x017F;chwunden i&#x017F;t. Da die&#x017F;e Heer&#x017F;chaar<lb/>
das We&#x017F;entliche vom Unwe&#x017F;entlichen, wie es von<lb/>
Zeit und Um&#x017F;ta&#x0364;nden bedingt wird, nie unter&#x017F;chei¬<lb/>
det, &#x017F;ondern beides mit gleichem Eifer betreibt,<lb/>
das We&#x017F;entliche aber &#x017F;einer gewichtigeren Natur<lb/>
nach unter die&#x017F;em Eifer leicht zu Boden fa&#x0364;llt, &#x017F;o<lb/>
bleibt ihr mei&#x017F;tens die Spreu des Unwe&#x017F;entlichen<lb/>
zwi&#x017F;chen den Fingern, welche &#x017F;ie ha&#x017F;tig hin und<lb/>
her wendet, be&#x017F;ieht und an die Na&#x017F;e ha&#x0364;lt. Weil<lb/>
&#x017F;ie das We&#x017F;entliche immer ent&#x017F;chlu&#x0364;pfen la&#x0364;ßt, &#x017F;o<lb/>
ha&#x0364;lt &#x017F;ie es fu&#x0364;r &#x017F;chwieriger und ho&#x0364;ch&#x017F;t geheimni߬<lb/>
voll, zunftma&#x0364;ßig und exclu&#x017F;iv, &#x017F;treitet &#x017F;ich daru&#x0364;ber<lb/>
mit den Manieren und Eigen&#x017F;chaften des Unwe¬<lb/>
&#x017F;entlichen, mit dem &#x017F;ie es gewo&#x0364;hnlich zu thun<lb/>
hat, oder behandelt die&#x017F;es mit dem Gewichte des<lb/>
We&#x017F;entlichen, welches ihr la&#x0364;ng&#x017F;t unter den Ha&#x0364;<lb/>
den ver&#x017F;chwunden i&#x017F;t. In der That i&#x017F;t aber beides<lb/>
gleich leicht und gleich &#x017F;chwer zu lernen, das We¬<lb/>
&#x017F;entliche und das Unwe&#x017F;entliche, wenn es nur zur<lb/>
rechten Stunde ge&#x017F;chieht, und die Verkennung<lb/>
die&#x017F;er That&#x017F;ache, welche mit dem ganzen Ge&#x017F;etz<lb/>
der Natur innig verbunden und vereint i&#x017F;t, bringt<lb/>
den La&#x0364;rm und Ruf der fal&#x017F;chen Gelehr&#x017F;amkeit<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">lV. 5<lb/></fw>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[65/0075] todt und verſchwunden iſt. Da dieſe Heerſchaar das Weſentliche vom Unweſentlichen, wie es von Zeit und Umſtaͤnden bedingt wird, nie unterſchei¬ det, ſondern beides mit gleichem Eifer betreibt, das Weſentliche aber ſeiner gewichtigeren Natur nach unter dieſem Eifer leicht zu Boden faͤllt, ſo bleibt ihr meiſtens die Spreu des Unweſentlichen zwiſchen den Fingern, welche ſie haſtig hin und her wendet, beſieht und an die Naſe haͤlt. Weil ſie das Weſentliche immer entſchluͤpfen laͤßt, ſo haͤlt ſie es fuͤr ſchwieriger und hoͤchſt geheimni߬ voll, zunftmaͤßig und excluſiv, ſtreitet ſich daruͤber mit den Manieren und Eigenſchaften des Unwe¬ ſentlichen, mit dem ſie es gewoͤhnlich zu thun hat, oder behandelt dieſes mit dem Gewichte des Weſentlichen, welches ihr laͤngſt unter den Haͤn¬ den verſchwunden iſt. In der That iſt aber beides gleich leicht und gleich ſchwer zu lernen, das We¬ ſentliche und das Unweſentliche, wenn es nur zur rechten Stunde geſchieht, und die Verkennung dieſer Thatſache, welche mit dem ganzen Geſetz der Natur innig verbunden und vereint iſt, bringt den Laͤrm und Ruf der falſchen Gelehrſamkeit lV. 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/75
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/75>, abgerufen am 31.10.2024.