Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

die Nervenlehre mit einigen Bemerkungen über
den sogenannten freien Willen abschloß. Denn
obgleich er schon hundertmal diesen Ausdruck ge¬
hört und gelesen, auch genügsam wilde Philoso¬
phie und Theologie, wie sie in seinem Garten
wuchs, getrieben hatte, so war es ihm doch noch
nie eingefallen, darüber nachzudenken, oder hielt
höchstens den "freien Willen" für eine Art müßi¬
gen Lückenbüßers für zusammengesetzte Dinge,
woran er nicht ganz unrecht that, nur daß er
dazu nicht reif und befähigt war, ehe er die frag¬
liche Sache näher kannte und verstand. Es giebt
eine Redensart, daß man nicht nur niederreißen,
sondern auch aufzubauen wissen müsse, welche
von gemüthlichen und oberflächlichen Leuten aller¬
wege angebracht wird, wo ihnen eine sichtende
Thätigkeit oder Disciplin unbequem in den Weg
tritt. Diese Redensart ist da am Platze, wo
man abspricht oder negirt, was man nicht durch¬
lebt und durchdacht hat, sonst aber ist sie überall
ein Unsinn; denn man reißt nicht immer nieder,
um wieder aufzubauen; im Gegentheil, man reißt
recht mit Fleiß nieder, um einen freien Raum

die Nervenlehre mit einigen Bemerkungen uͤber
den ſogenannten freien Willen abſchloß. Denn
obgleich er ſchon hundertmal dieſen Ausdruck ge¬
hoͤrt und geleſen, auch genuͤgſam wilde Philoſo¬
phie und Theologie, wie ſie in ſeinem Garten
wuchs, getrieben hatte, ſo war es ihm doch noch
nie eingefallen, daruͤber nachzudenken, oder hielt
hoͤchſtens den »freien Willen« fuͤr eine Art muͤßi¬
gen Luͤckenbuͤßers fuͤr zuſammengeſetzte Dinge,
woran er nicht ganz unrecht that, nur daß er
dazu nicht reif und befaͤhigt war, ehe er die frag¬
liche Sache naͤher kannte und verſtand. Es giebt
eine Redensart, daß man nicht nur niederreißen,
ſondern auch aufzubauen wiſſen muͤſſe, welche
von gemuͤthlichen und oberflaͤchlichen Leuten aller¬
wege angebracht wird, wo ihnen eine ſichtende
Thaͤtigkeit oder Disciplin unbequem in den Weg
tritt. Dieſe Redensart iſt da am Platze, wo
man abſpricht oder negirt, was man nicht durch¬
lebt und durchdacht hat, ſonſt aber iſt ſie uͤberall
ein Unſinn; denn man reißt nicht immer nieder,
um wieder aufzubauen; im Gegentheil, man reißt
recht mit Fleiß nieder, um einen freien Raum

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0078" n="68"/>
die Nervenlehre mit einigen Bemerkungen u&#x0364;ber<lb/>
den &#x017F;ogenannten freien Willen ab&#x017F;chloß. Denn<lb/>
obgleich er &#x017F;chon hundertmal die&#x017F;en Ausdruck ge¬<lb/>
ho&#x0364;rt und gele&#x017F;en, auch genu&#x0364;g&#x017F;am wilde Philo&#x017F;<lb/>
phie und Theologie, wie &#x017F;ie in &#x017F;einem Garten<lb/>
wuchs, getrieben hatte, &#x017F;o war es ihm doch noch<lb/>
nie eingefallen, daru&#x0364;ber nachzudenken, oder hielt<lb/>
ho&#x0364;ch&#x017F;tens den »freien Willen« fu&#x0364;r eine Art mu&#x0364;ßi¬<lb/>
gen Lu&#x0364;ckenbu&#x0364;ßers fu&#x0364;r zu&#x017F;ammenge&#x017F;etzte Dinge,<lb/>
woran er nicht ganz unrecht that, nur daß er<lb/>
dazu nicht reif und befa&#x0364;higt war, ehe er die frag¬<lb/>
liche Sache na&#x0364;her kannte und ver&#x017F;tand. Es giebt<lb/>
eine Redensart, daß man nicht nur niederreißen,<lb/>
&#x017F;ondern auch aufzubauen wi&#x017F;&#x017F;en mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e, welche<lb/>
von gemu&#x0364;thlichen und oberfla&#x0364;chlichen Leuten aller¬<lb/>
wege angebracht wird, wo ihnen eine &#x017F;ichtende<lb/>
Tha&#x0364;tigkeit oder Disciplin unbequem in den Weg<lb/>
tritt. Die&#x017F;e Redensart i&#x017F;t da am Platze, wo<lb/>
man ab&#x017F;pricht oder negirt, was man nicht durch¬<lb/>
lebt und durchdacht hat, &#x017F;on&#x017F;t aber i&#x017F;t &#x017F;ie u&#x0364;berall<lb/>
ein Un&#x017F;inn; denn man reißt nicht immer nieder,<lb/>
um wieder aufzubauen; im Gegentheil, man reißt<lb/>
recht mit Fleiß nieder, um einen freien Raum<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[68/0078] die Nervenlehre mit einigen Bemerkungen uͤber den ſogenannten freien Willen abſchloß. Denn obgleich er ſchon hundertmal dieſen Ausdruck ge¬ hoͤrt und geleſen, auch genuͤgſam wilde Philoſo¬ phie und Theologie, wie ſie in ſeinem Garten wuchs, getrieben hatte, ſo war es ihm doch noch nie eingefallen, daruͤber nachzudenken, oder hielt hoͤchſtens den »freien Willen« fuͤr eine Art muͤßi¬ gen Luͤckenbuͤßers fuͤr zuſammengeſetzte Dinge, woran er nicht ganz unrecht that, nur daß er dazu nicht reif und befaͤhigt war, ehe er die frag¬ liche Sache naͤher kannte und verſtand. Es giebt eine Redensart, daß man nicht nur niederreißen, ſondern auch aufzubauen wiſſen muͤſſe, welche von gemuͤthlichen und oberflaͤchlichen Leuten aller¬ wege angebracht wird, wo ihnen eine ſichtende Thaͤtigkeit oder Disciplin unbequem in den Weg tritt. Dieſe Redensart iſt da am Platze, wo man abſpricht oder negirt, was man nicht durch¬ lebt und durchdacht hat, ſonſt aber iſt ſie uͤberall ein Unſinn; denn man reißt nicht immer nieder, um wieder aufzubauen; im Gegentheil, man reißt recht mit Fleiß nieder, um einen freien Raum

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/78
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/78>, abgerufen am 31.10.2024.