Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Klopstock, Friedrich Gottlieb]: Oden. Hamburg, 1771.

Bild:
<< vorherige Seite

Wenn einschlummernd sich Hagedorn unser Vater ent-
fernet;

Ebert, was sind wir alsdann,
Wie Geweihte des Schmerzes, die hier ein trüberes
Schicksal

Länger, als Alle sie ließ.
Stirbt denn auch einer von uns, mich reißt mein
banger Gedanke

Immer nächtlicher fort!
Stirbt dann auch Einer von uns, und bleibt nur Ei-
ner noch übrig;

Bin der Eine dann ich;
Hat mich dann auch die schon geliebt, die künftig mich
liebet,

Ruht auch Sie in der Gruft;
Bin dann ich der Einsame, bin allein auf der Erde:
Wirst du, ewiger Geist,
Seele zur Freundschaft erschaffen, du dann die leeren
Tage

Sehn, und fühlend noch seyn?
Oder wirst du betäubt für Nächte sie halten, und
schlummern

Und gedankenlos ruhn?
Aber wenn du bisweilen erwachtest zu fühlen dein Elend,
Banger, unsterblicher Geist?
Rufe, wenn du erwachst, das Bild vom Grabe der
Freunde,

Das nur rufe zurück!
O ihr Gräber der Todten! ihr Gräber meiner Ent-
schlafnen!

Warum liegt ihr zerstreut?
Warum liegt ihr nicht in blühenden Thalen beysam-
men?

Oder in Hainen vereint?

Leitet

Wenn einſchlummernd ſich Hagedorn unſer Vater ent-
fernet;

Ebert, was ſind wir alsdann,
Wie Geweihte des Schmerzes, die hier ein truͤberes
Schickſal

Laͤnger, als Alle ſie ließ.
Stirbt denn auch einer von uns, mich reißt mein
banger Gedanke

Immer naͤchtlicher fort!
Stirbt dann auch Einer von uns, und bleibt nur Ei-
ner noch uͤbrig;

Bin der Eine dann ich;
Hat mich dann auch die ſchon geliebt, die kuͤnftig mich
liebet,

Ruht auch Sie in der Gruft;
Bin dann ich der Einſame, bin allein auf der Erde:
Wirſt du, ewiger Geiſt,
Seele zur Freundſchaft erſchaffen, du dann die leeren
Tage

Sehn, und fuͤhlend noch ſeyn?
Oder wirſt du betaͤubt fuͤr Naͤchte ſie halten, und
ſchlummern

Und gedankenlos ruhn?
Aber wenn du bisweilen erwachteſt zu fuͤhlen dein Elend,
Banger, unſterblicher Geiſt?
Rufe, wenn du erwachſt, das Bild vom Grabe der
Freunde,

Das nur rufe zuruͤck!
O ihr Graͤber der Todten! ihr Graͤber meiner Ent-
ſchlafnen!

Warum liegt ihr zerſtreut?
Warum liegt ihr nicht in bluͤhenden Thalen beyſam-
men?

Oder in Hainen vereint?

Leitet
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <lg>
            <lg type="poem">
              <pb facs="#f0085" n="77"/>
              <l>Wenn ein&#x017F;chlummernd &#x017F;ich Hagedorn un&#x017F;er Vater ent-<lb/><hi rendition="#et">fernet;</hi></l><lb/>
              <l>Ebert, was &#x017F;ind wir alsdann,</l><lb/>
              <l>Wie Geweihte des Schmerzes, die hier ein tru&#x0364;beres<lb/><hi rendition="#et">Schick&#x017F;al</hi></l><lb/>
              <l>La&#x0364;nger, als Alle &#x017F;ie ließ.</l><lb/>
              <l>Stirbt denn auch einer von uns, mich reißt mein<lb/><hi rendition="#et">banger Gedanke</hi></l><lb/>
              <l>Immer na&#x0364;chtlicher fort!</l><lb/>
              <l>Stirbt dann auch Einer von uns, und bleibt nur Ei-<lb/><hi rendition="#et">ner noch u&#x0364;brig;</hi></l><lb/>
              <l>Bin der Eine dann ich;</l><lb/>
              <l>Hat mich dann auch die &#x017F;chon geliebt, die ku&#x0364;nftig mich<lb/><hi rendition="#et">liebet,</hi></l><lb/>
              <l>Ruht auch Sie in der Gruft;</l><lb/>
              <l>Bin dann ich der Ein&#x017F;ame, bin allein auf der Erde:</l><lb/>
              <l>Wir&#x017F;t du, ewiger Gei&#x017F;t,</l><lb/>
              <l>Seele zur Freund&#x017F;chaft er&#x017F;chaffen, du dann die leeren<lb/><hi rendition="#et">Tage</hi></l><lb/>
              <l>Sehn, und fu&#x0364;hlend noch &#x017F;eyn?</l><lb/>
              <l>Oder wir&#x017F;t du beta&#x0364;ubt fu&#x0364;r Na&#x0364;chte &#x017F;ie halten, und<lb/><hi rendition="#et">&#x017F;chlummern</hi></l><lb/>
              <l>Und gedankenlos ruhn?</l><lb/>
              <l>Aber wenn du bisweilen erwachte&#x017F;t zu fu&#x0364;hlen dein Elend,</l><lb/>
              <l>Banger, un&#x017F;terblicher Gei&#x017F;t?</l><lb/>
              <l>Rufe, wenn du erwach&#x017F;t, das Bild vom Grabe der<lb/><hi rendition="#et">Freunde,</hi></l><lb/>
              <l>Das nur rufe zuru&#x0364;ck!</l><lb/>
              <l>O ihr Gra&#x0364;ber der Todten! ihr Gra&#x0364;ber meiner Ent-<lb/><hi rendition="#et">&#x017F;chlafnen!</hi></l><lb/>
              <l>Warum liegt ihr zer&#x017F;treut?</l><lb/>
              <l>Warum liegt ihr nicht in blu&#x0364;henden Thalen bey&#x017F;am-<lb/><hi rendition="#et">men?</hi></l><lb/>
              <l>Oder in Hainen vereint?</l><lb/>
              <fw place="bottom" type="catch">Leitet</fw><lb/>
            </lg>
          </lg>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[77/0085] Wenn einſchlummernd ſich Hagedorn unſer Vater ent- fernet; Ebert, was ſind wir alsdann, Wie Geweihte des Schmerzes, die hier ein truͤberes Schickſal Laͤnger, als Alle ſie ließ. Stirbt denn auch einer von uns, mich reißt mein banger Gedanke Immer naͤchtlicher fort! Stirbt dann auch Einer von uns, und bleibt nur Ei- ner noch uͤbrig; Bin der Eine dann ich; Hat mich dann auch die ſchon geliebt, die kuͤnftig mich liebet, Ruht auch Sie in der Gruft; Bin dann ich der Einſame, bin allein auf der Erde: Wirſt du, ewiger Geiſt, Seele zur Freundſchaft erſchaffen, du dann die leeren Tage Sehn, und fuͤhlend noch ſeyn? Oder wirſt du betaͤubt fuͤr Naͤchte ſie halten, und ſchlummern Und gedankenlos ruhn? Aber wenn du bisweilen erwachteſt zu fuͤhlen dein Elend, Banger, unſterblicher Geiſt? Rufe, wenn du erwachſt, das Bild vom Grabe der Freunde, Das nur rufe zuruͤck! O ihr Graͤber der Todten! ihr Graͤber meiner Ent- ſchlafnen! Warum liegt ihr zerſtreut? Warum liegt ihr nicht in bluͤhenden Thalen beyſam- men? Oder in Hainen vereint? Leitet

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_oden_1771
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_oden_1771/85
Zitationshilfe: [Klopstock, Friedrich Gottlieb]: Oden. Hamburg, 1771, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_oden_1771/85>, abgerufen am 31.10.2024.