Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Mithin -- "daß Menschenkenntniß der Menschenliebe im Ganzen nichts schade," -- "ob Menschenkenntniß lehrt uns nicht nur, was der Mensch nicht ist, -- und nicht seyn Befremdung -- diese so reiche Quelle von Jntoleranz, nimmt in ebendemselben Grade Wenn du weißt, warum ein Mensch so denkt, so handelt -- das heißt, wenn du dich in Jch will damit Fehlern nicht das Wort reden, viel weniger Laster, als solche, in den Schutz Allein nicht nur von dieser Seite -- (ich berühre hier die Sache nur) gewinnt der Fehler- Die Physiognomik entdeckt in ihm würkliche und mögliche Vollkommenheiten, die ohne sie Jch rede aus Erfahrung. Das Gute, das ich als Physiognomist an meinem Nebenmen- unter- E 3
der Menſchenkenntniß und Menſchenliebe. Mithin — „daß Menſchenkenntniß der Menſchenliebe im Ganzen nichts ſchade,“ — „ob Menſchenkenntniß lehrt uns nicht nur, was der Menſch nicht iſt, — und nicht ſeyn Befremdung — dieſe ſo reiche Quelle von Jntoleranz, nimmt in ebendemſelben Grade Wenn du weißt, warum ein Menſch ſo denkt, ſo handelt — das heißt, wenn du dich in Jch will damit Fehlern nicht das Wort reden, viel weniger Laſter, als ſolche, in den Schutz Allein nicht nur von dieſer Seite — (ich beruͤhre hier die Sache nur) gewinnt der Fehler- Die Phyſiognomik entdeckt in ihm wuͤrkliche und moͤgliche Vollkommenheiten, die ohne ſie Jch rede aus Erfahrung. Das Gute, das ich als Phyſiognomiſt an meinem Nebenmen- unter- E 3
<TEI> <text> <body> <div n="2"> <pb facs="#f0059" n="37"/> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">der Menſchenkenntniß und Menſchenliebe.</hi> </fw><lb/> <p>Mithin — „daß Menſchenkenntniß der Menſchenliebe im Ganzen nichts ſchade,“ — „ob<lb/> „aber nuͤtzet?“ — Ja — „daß ſie ihr nuͤtzet!“ —</p><lb/> <p>Menſchenkenntniß lehrt uns nicht nur, was der <hi rendition="#fr">Menſch nicht iſt,</hi> — und nicht <hi rendition="#fr">ſeyn<lb/> kann;</hi> ſondern auch: <hi rendition="#fr">warum</hi> er’s nicht iſt, und nicht ſeyn kann? ſondern auch: <hi rendition="#fr">was er iſt und<lb/> ſeyn kann?</hi></p><lb/> <p><hi rendition="#fr">Befremdung</hi> — dieſe ſo reiche <hi rendition="#fr">Quelle von Jntoleranz,</hi> nimmt in ebendemſelben Grade<lb/> ab, wie die aͤchte Menſchenkenntniß zunimmt.</p><lb/> <p>Wenn du weißt, warum ein Menſch ſo denkt, ſo handelt — das heißt, wenn du dich in<lb/> ſeine Lage, wie viel mehr? wenn du dich in den Bau ſeines Koͤrpers, ſeine Bildung, ſeine Sin-<lb/> ne, ſein Temperament, ſeine Empfindſamkeit, hinein denken kannſt; wie wird dir alles begreiflich?<lb/> erklaͤrbar? natuͤrlich? — und hoͤrt denn nicht gerade da die Jntoleranz, die ſich bloß auf die Men-<lb/> ſchen, als <hi rendition="#fr">Objekt,</hi> bezieht, auf — wo lichthelle Erkenntniß ſeiner individuellen Natur anfaͤngt?<lb/> wird da nicht viel eher Mitleiden an die Stelle der Verdammung, und bruͤderliche Nachſicht an<lb/> die Stelle des Haſſes treten? —</p><lb/> <p>Jch will damit Fehlern nicht das Wort reden, viel weniger Laſter, als ſolche, in den Schutz<lb/> nehmen; aber es iſt allgemein angenommene richtige Billigkeit — daß man z. E. einem hitzigen<lb/> Menſchen eher vergeben koͤnne, wenn er ſich durch harte Beleidigungen zum Zorne reizen laͤßt, als<lb/> einem kaͤltern.</p><lb/> <p>Allein nicht nur von dieſer Seite — (ich beruͤhre hier die Sache nur) gewinnt der Fehler-<lb/> hafte durch phyſiognomiſche Menſchenkenntniß anderer. Er gewinnt noch von einer andern.</p><lb/> <p>Die Phyſiognomik entdeckt in ihm wuͤrkliche und moͤgliche Vollkommenheiten, die ohne ſie<lb/> immer verborgen bleiben koͤnnten. Je mehr der Menſch beobachtet wird, deſto mehr Kraft, poſiti-<lb/> fes Gutes wird an ihm beobachtet. Wie der Mahler, mit geuͤbtem Auge tauſend kleine Nuͤan-<lb/> cen und Farbenſpielungen wahrnimmt, die hundert andern Augen unbemerkt bleiben, ſo der Phy-<lb/> ſiognomiſt eine Menge wuͤrklicher oder moͤglicher Trefflichkeiten, die tauſend Augen gemeiner Men-<lb/> ſchenverachter, Menſchenverlaͤumder — oder liebreicher Menſchenbeurtheiler unbemerkbar ſind.</p><lb/> <p>Jch rede aus Erfahrung. Das Gute, das ich als Phyſiognomiſt an meinem Nebenmen-<lb/> ſchen bemerke, haͤlt mich mehr als ſchadlos fuͤr die Menge Boͤſes, das ich ebenfalls bemerken und<lb/> <fw place="bottom" type="sig">E 3</fw><fw place="bottom" type="catch">unter-</fw><lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [37/0059]
der Menſchenkenntniß und Menſchenliebe.
Mithin — „daß Menſchenkenntniß der Menſchenliebe im Ganzen nichts ſchade,“ — „ob
„aber nuͤtzet?“ — Ja — „daß ſie ihr nuͤtzet!“ —
Menſchenkenntniß lehrt uns nicht nur, was der Menſch nicht iſt, — und nicht ſeyn
kann; ſondern auch: warum er’s nicht iſt, und nicht ſeyn kann? ſondern auch: was er iſt und
ſeyn kann?
Befremdung — dieſe ſo reiche Quelle von Jntoleranz, nimmt in ebendemſelben Grade
ab, wie die aͤchte Menſchenkenntniß zunimmt.
Wenn du weißt, warum ein Menſch ſo denkt, ſo handelt — das heißt, wenn du dich in
ſeine Lage, wie viel mehr? wenn du dich in den Bau ſeines Koͤrpers, ſeine Bildung, ſeine Sin-
ne, ſein Temperament, ſeine Empfindſamkeit, hinein denken kannſt; wie wird dir alles begreiflich?
erklaͤrbar? natuͤrlich? — und hoͤrt denn nicht gerade da die Jntoleranz, die ſich bloß auf die Men-
ſchen, als Objekt, bezieht, auf — wo lichthelle Erkenntniß ſeiner individuellen Natur anfaͤngt?
wird da nicht viel eher Mitleiden an die Stelle der Verdammung, und bruͤderliche Nachſicht an
die Stelle des Haſſes treten? —
Jch will damit Fehlern nicht das Wort reden, viel weniger Laſter, als ſolche, in den Schutz
nehmen; aber es iſt allgemein angenommene richtige Billigkeit — daß man z. E. einem hitzigen
Menſchen eher vergeben koͤnne, wenn er ſich durch harte Beleidigungen zum Zorne reizen laͤßt, als
einem kaͤltern.
Allein nicht nur von dieſer Seite — (ich beruͤhre hier die Sache nur) gewinnt der Fehler-
hafte durch phyſiognomiſche Menſchenkenntniß anderer. Er gewinnt noch von einer andern.
Die Phyſiognomik entdeckt in ihm wuͤrkliche und moͤgliche Vollkommenheiten, die ohne ſie
immer verborgen bleiben koͤnnten. Je mehr der Menſch beobachtet wird, deſto mehr Kraft, poſiti-
fes Gutes wird an ihm beobachtet. Wie der Mahler, mit geuͤbtem Auge tauſend kleine Nuͤan-
cen und Farbenſpielungen wahrnimmt, die hundert andern Augen unbemerkt bleiben, ſo der Phy-
ſiognomiſt eine Menge wuͤrklicher oder moͤglicher Trefflichkeiten, die tauſend Augen gemeiner Men-
ſchenverachter, Menſchenverlaͤumder — oder liebreicher Menſchenbeurtheiler unbemerkbar ſind.
Jch rede aus Erfahrung. Das Gute, das ich als Phyſiognomiſt an meinem Nebenmen-
ſchen bemerke, haͤlt mich mehr als ſchadlos fuͤr die Menge Boͤſes, das ich ebenfalls bemerken und
unter-
E 3
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |