Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

Uebeln das kleinste zu wählen; entweder Ver-
stand und Nachdruck der Versifikation, oder
diese jenen aufzuopfern. Dem Houdar de la
Motte war seine Meinung zu vergeben; er hatte
eine Sprache in Gedanken, in der das Metri-
sche der Poesie nur Kitzelung der Ohren ist, und
zur Verstärkung des Ausdrucks nichts beytra-
gen kann; in der unsrigen hingegen ist es etwas
mehr, und wir können der griechischen ungleich
näher kommen, die durch den bloßen Rhytmus
ihrer Versarten die Leidenschaften, die darinn
ausgedrückt werden, anzudeuten vermag. Die
französischen Verse haben nichts als den Werth
der überstandenen Schwierigkeit für sich; und
freylich ist dieses nur ein sehr elender Werth.

Die Rolle des Polidors hat Herr Borchers
ungemein wohl gespielt; mit aller der Besonnen-
heit und Heiterkeit, die einem Bösewichte von
großem Verstande so natürlich zu seyn scheinen.
Kein mißlungener Anschlag wird ihn in Verle-
genheit setzen; er ist an immer neuen Ränken
unerschöpflich; er besinnt sich kaum, und der
unerwarteste Streich, der ihn in seiner Blöße
darzustellen drohte, empfängt eine Wendung,
die ihm die Larve nur noch fester aufdrückt.
Diesen Charakter nicht zu verderben, ist von
Seiten des Schauspielers das getreueste Ge-
dächtniß, die fertigste Stimme, die freyeste,

nach-

Uebeln das kleinſte zu waͤhlen; entweder Ver-
ſtand und Nachdruck der Verſifikation, oder
dieſe jenen aufzuopfern. Dem Houdar de la
Motte war ſeine Meinung zu vergeben; er hatte
eine Sprache in Gedanken, in der das Metri-
ſche der Poeſie nur Kitzelung der Ohren iſt, und
zur Verſtaͤrkung des Ausdrucks nichts beytra-
gen kann; in der unſrigen hingegen iſt es etwas
mehr, und wir koͤnnen der griechiſchen ungleich
naͤher kommen, die durch den bloßen Rhytmus
ihrer Versarten die Leidenſchaften, die darinn
ausgedruͤckt werden, anzudeuten vermag. Die
franzoͤſiſchen Verſe haben nichts als den Werth
der uͤberſtandenen Schwierigkeit fuͤr ſich; und
freylich iſt dieſes nur ein ſehr elender Werth.

Die Rolle des Polidors hat Herr Borchers
ungemein wohl geſpielt; mit aller der Beſonnen-
heit und Heiterkeit, die einem Boͤſewichte von
großem Verſtande ſo natuͤrlich zu ſeyn ſcheinen.
Kein mißlungener Anſchlag wird ihn in Verle-
genheit ſetzen; er iſt an immer neuen Raͤnken
unerſchoͤpflich; er beſinnt ſich kaum, und der
unerwarteſte Streich, der ihn in ſeiner Bloͤße
darzuſtellen drohte, empfaͤngt eine Wendung,
die ihm die Larve nur noch feſter aufdruͤckt.
Dieſen Charakter nicht zu verderben, iſt von
Seiten des Schauſpielers das getreueſte Ge-
daͤchtniß, die fertigſte Stimme, die freyeſte,

nach-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0165" n="151"/>
Uebeln das klein&#x017F;te zu wa&#x0364;hlen; entweder Ver-<lb/>
&#x017F;tand und Nachdruck der Ver&#x017F;ifikation, oder<lb/>
die&#x017F;e jenen aufzuopfern. Dem Houdar de la<lb/>
Motte war &#x017F;eine Meinung zu vergeben; er hatte<lb/>
eine Sprache in Gedanken, in der das Metri-<lb/>
&#x017F;che der Poe&#x017F;ie nur Kitzelung der Ohren i&#x017F;t, und<lb/>
zur Ver&#x017F;ta&#x0364;rkung des Ausdrucks nichts beytra-<lb/>
gen kann; in der un&#x017F;rigen hingegen i&#x017F;t es etwas<lb/>
mehr, und wir ko&#x0364;nnen der griechi&#x017F;chen ungleich<lb/>
na&#x0364;her kommen, die durch den bloßen Rhytmus<lb/>
ihrer Versarten die Leiden&#x017F;chaften, die darinn<lb/>
ausgedru&#x0364;ckt werden, anzudeuten vermag. Die<lb/>
franzo&#x0364;&#x017F;i&#x017F;chen Ver&#x017F;e haben nichts als den Werth<lb/>
der u&#x0364;ber&#x017F;tandenen Schwierigkeit fu&#x0364;r &#x017F;ich; und<lb/>
freylich i&#x017F;t die&#x017F;es nur ein &#x017F;ehr elender Werth.</p><lb/>
        <p>Die Rolle des Polidors hat Herr Borchers<lb/>
ungemein wohl ge&#x017F;pielt; mit aller der Be&#x017F;onnen-<lb/>
heit und Heiterkeit, die einem Bo&#x0364;&#x017F;ewichte von<lb/>
großem Ver&#x017F;tande &#x017F;o natu&#x0364;rlich zu &#x017F;eyn &#x017F;cheinen.<lb/>
Kein mißlungener An&#x017F;chlag wird ihn in Verle-<lb/>
genheit &#x017F;etzen; er i&#x017F;t an immer neuen Ra&#x0364;nken<lb/>
uner&#x017F;cho&#x0364;pflich; er be&#x017F;innt &#x017F;ich kaum, und der<lb/>
unerwarte&#x017F;te Streich, der ihn in &#x017F;einer Blo&#x0364;ße<lb/>
darzu&#x017F;tellen drohte, empfa&#x0364;ngt eine Wendung,<lb/>
die ihm die Larve nur noch fe&#x017F;ter aufdru&#x0364;ckt.<lb/>
Die&#x017F;en Charakter nicht zu verderben, i&#x017F;t von<lb/>
Seiten des Schau&#x017F;pielers das getreue&#x017F;te Ge-<lb/>
da&#x0364;chtniß, die fertig&#x017F;te Stimme, die freye&#x017F;te,<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">nach-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[151/0165] Uebeln das kleinſte zu waͤhlen; entweder Ver- ſtand und Nachdruck der Verſifikation, oder dieſe jenen aufzuopfern. Dem Houdar de la Motte war ſeine Meinung zu vergeben; er hatte eine Sprache in Gedanken, in der das Metri- ſche der Poeſie nur Kitzelung der Ohren iſt, und zur Verſtaͤrkung des Ausdrucks nichts beytra- gen kann; in der unſrigen hingegen iſt es etwas mehr, und wir koͤnnen der griechiſchen ungleich naͤher kommen, die durch den bloßen Rhytmus ihrer Versarten die Leidenſchaften, die darinn ausgedruͤckt werden, anzudeuten vermag. Die franzoͤſiſchen Verſe haben nichts als den Werth der uͤberſtandenen Schwierigkeit fuͤr ſich; und freylich iſt dieſes nur ein ſehr elender Werth. Die Rolle des Polidors hat Herr Borchers ungemein wohl geſpielt; mit aller der Beſonnen- heit und Heiterkeit, die einem Boͤſewichte von großem Verſtande ſo natuͤrlich zu ſeyn ſcheinen. Kein mißlungener Anſchlag wird ihn in Verle- genheit ſetzen; er iſt an immer neuen Raͤnken unerſchoͤpflich; er beſinnt ſich kaum, und der unerwarteſte Streich, der ihn in ſeiner Bloͤße darzuſtellen drohte, empfaͤngt eine Wendung, die ihm die Larve nur noch feſter aufdruͤckt. Dieſen Charakter nicht zu verderben, iſt von Seiten des Schauſpielers das getreueſte Ge- daͤchtniß, die fertigſte Stimme, die freyeſte, nach-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/165
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 151. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/165>, abgerufen am 31.10.2024.