ausdrückt, als der andere. Sie drücken etwas anders aus, aber nicht etwas verschiednes; oder vielmehr, sie drücken das nehmliche, und nur auf eine andere Art aus. Eine Symphonie, die in ihren verschiednen Sätzen verschiedne, sich widersprechende Leidenschaften ausdrückt, ist ein musikalisches Ungeheuer; in Einer Symphonie muß nur Eine Leidenschaft herrschen, und jeder besondere Satz muß eben dieselbe Leidenschaft, bloß mit verschiednen Abänderungen, es sey nun nach den Graden ihrer Stärke und Lebhaftigkeit, oder nach den mancherley Vermischungen mit an- dern verwandten Leidenschaften, ertönen lassen, und in uns zu erwecken suchen. Die Anfangs- symphonie war vollkommen von dieser Beschaf- fenheit; das Ungestüme des ersten Satzes zer- fließt in das Klagende des zweyten, welches sich in dem dritten zu einer Art von feyerlichen Würde erhebet. Ein Tonkünstler, der sich in seinen Sym- phonien mehr erlaubt, der mit jedem Satze den Affekt abbricht, um mit dem folgenden einen neuen ganz verschiednen Affekt anzuheben, und auch diesen fahren läßt, um sich in einen dritten eben so verschiednen zu werfen; kann viel Kunst, ohne Nutzen, verschwendet haben, kann über- raschen, kann betäuben, kann kitzeln, nur rüh- ren kann er nicht. Wer mit unserm Herzen spre- chen, und sympathetische Regungen in ihm er- wecken will, muß eben sowohl Zusammenhang
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ausdruͤckt, als der andere. Sie druͤcken etwas anders aus, aber nicht etwas verſchiednes; oder vielmehr, ſie druͤcken das nehmliche, und nur auf eine andere Art aus. Eine Symphonie, die in ihren verſchiednen Saͤtzen verſchiedne, ſich widerſprechende Leidenſchaften ausdruͤckt, iſt ein muſikaliſches Ungeheuer; in Einer Symphonie muß nur Eine Leidenſchaft herrſchen, und jeder beſondere Satz muß eben dieſelbe Leidenſchaft, bloß mit verſchiednen Abaͤnderungen, es ſey nun nach den Graden ihrer Staͤrke und Lebhaftigkeit, oder nach den mancherley Vermiſchungen mit an- dern verwandten Leidenſchaften, ertoͤnen laſſen, und in uns zu erwecken ſuchen. Die Anfangs- ſymphonie war vollkommen von dieſer Beſchaf- fenheit; das Ungeſtuͤme des erſten Satzes zer- fließt in das Klagende des zweyten, welches ſich in dem dritten zu einer Art von feyerlichen Wuͤrde erhebet. Ein Tonkuͤnſtler, der ſich in ſeinen Sym- phonien mehr erlaubt, der mit jedem Satze den Affekt abbricht, um mit dem folgenden einen neuen ganz verſchiednen Affekt anzuheben, und auch dieſen fahren laͤßt, um ſich in einen dritten eben ſo verſchiednen zu werfen; kann viel Kunſt, ohne Nutzen, verſchwendet haben, kann uͤber- raſchen, kann betaͤuben, kann kitzeln, nur ruͤh- ren kann er nicht. Wer mit unſerm Herzen ſpre- chen, und ſympathetiſche Regungen in ihm er- wecken will, muß eben ſowohl Zuſammenhang
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ausdruͤckt, als der andere. Sie druͤcken etwas
anders aus, aber nicht etwas verſchiednes; oder
vielmehr, ſie druͤcken das nehmliche, und nur
auf eine andere Art aus. Eine Symphonie,
die in ihren verſchiednen Saͤtzen verſchiedne, ſich
widerſprechende Leidenſchaften ausdruͤckt, iſt ein
muſikaliſches Ungeheuer; in Einer Symphonie
muß nur Eine Leidenſchaft herrſchen, und jeder
beſondere Satz muß eben dieſelbe Leidenſchaft,
bloß mit verſchiednen Abaͤnderungen, es ſey nun
nach den Graden ihrer Staͤrke und Lebhaftigkeit,
oder nach den mancherley Vermiſchungen mit an-
dern verwandten Leidenſchaften, ertoͤnen laſſen,
und in uns zu erwecken ſuchen. Die Anfangs-
ſymphonie war vollkommen von dieſer Beſchaf-
fenheit; das Ungeſtuͤme des erſten Satzes zer-
fließt in das Klagende des zweyten, welches ſich
in dem dritten zu einer Art von feyerlichen Wuͤrde
erhebet. Ein Tonkuͤnſtler, der ſich in ſeinen Sym-
phonien mehr erlaubt, der mit jedem Satze den
Affekt abbricht, um mit dem folgenden einen
neuen ganz verſchiednen Affekt anzuheben, und
auch dieſen fahren laͤßt, um ſich in einen dritten
eben ſo verſchiednen zu werfen; kann viel Kunſt,
ohne Nutzen, verſchwendet haben, kann uͤber-
raſchen, kann betaͤuben, kann kitzeln, nur ruͤh-
ren kann er nicht. Wer mit unſerm Herzen ſpre-
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 214. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/228>, abgerufen am 01.11.2024.
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